Christa Reinig: der Traum meiner Verkommenheit | Helmut Heißenbüttel: Textbuch 2 | Horst Bingel: Deutsche Lyrik
Verkommenheit
Christa Reinig: Der Traum
meiner Verkommenheit. Wolfgang Fietkau Verlag. Berlin 1961
Zu den Optimisten, die immer
wieder oder immer noch versuchen, junge Autoren vorzustellen. gehört
neben dar Eremitenpresse der junge Westberliner Verleger Wolfgang Fietkau.
Seit ca. zwei Jahren publiziert er eine Reihe "schritte", deren einzelne
Bändchen, 32 bis 38 Seiten stark, DM 2.80 im Einzelbezug (DM 2.50
im Abonnement) kosten und je einen Autor vorstellen. Nach der "Sekunde
der Sanduhr" (K. H. Schröter), "Auch mir gehört die Erde nicht"
(E. Perlwitz) und "Einsame Bäume heißen Allee" (K. Herwig) liegt
jetzt in gefälliger neuer Aufmachung als "schritte vier" "der traum
meiner verkommenheit" der in Ostberlin lebenden Christa Reinig vor. Christa
Reinig, am "Transit" beteiligt, war bereits 1960 mit "Die Steine von Finisterre"
(Eremitenpresse) aufgefallen und hat - so scheint uns - in "schritte vier"
jene mögliche Synthese zwischen Tradition und Moderne geschaffen,
die Ingeborg Bachmanns Prosa bisher versagt blieb. Christa Reinig schreibt
dabei eine an den Psalmen und der alttestamentarischen Parabelsprache orientierte
Prosa, deren sprachlicher Abweichung und deren Zerstörung durch den
Versuch einer zeitbezogenen Parabel ästhetische Bedeutung zukommt.
So erfreulich ein in Westdeutschland gedruckter Text eines in Ostdeutschland
lebenden Autors ist, so erfreulich ist in diesem Fall auch noch die Entdeckung
einer möglichen Autorin von Rang, deren Entwicklung interessiert,
wie auch der Versuch des Fietkau Verlages, entgegen der Erfahrung weiterhin
junge Autoren ihre "schritte" machen zu lassen.
-rd-
[forum academicum, Jg 12, Nr 6, November 1961, S. 28]
Reduktion
Helmut Heißenbüttel:
Textbuch 2. Walter-Verlag Olten und Freiburg im Breisgau 1961
Es ist schon eine interessante
Sache, wenn ein heute 40jähriger mit drei "Textbüchern" sozusagen
zu Lebzeiten seinen Nachlaß veröffentlicht. Nach "Textbuch 1"
erschien in diesem Herbst "Textbuch 2" von Helmut Heißenbüttel,
nach lyrischen Texten jetzt eine Auswahl Prosa, die auf 39 Seiten mehr
enthält, als eine beliebige Reihe letztjähriger Bestseller. "Textbuch
2" faßt dabei die meist schon veröffentlichten Texte der letzten
Jahre, oft in überarbeiteter Form und in strenger Auswahl zusammen.
Was diese Texte auszeichnet, ist der Gewinn äußerster Präzision
der Mitteilung weitgehendster Reduktion aufs Modell. Die Texte haben Titel
wie "Etwa ein Ping-Pong-Ball oder eine Billardkugel", "Roman", "Traktat",
"Ohne weiteres bekannt eine öffentliche Persönlichkeit",
"Grammatikalische Reduktion",
"Politische Grammatik" u.a. Was Heißenbüttels Texte auszeichnet,
ist die Demonstration der ästhetischen Erkenntnis, daß man etwas
mit der Sprache machen sollte. Was die Texte demonstrieren, sind die
Schwierigkeiten eines verbindlichen
Redens heute. Fraglos handelt es sich um Texte jenseits des (aufgeblähten)
Erzählens. Fraglos sind sie auch kein "Abbild der Wirklichkeit", insofern
sie ihre eigene Wirklichkeit, die Wirklichkeit des Textes erreicht haben.
Daß eine verabredete Reihenfolge Subjekt-Prädikat-Objekt fur
den modernen Autor keine Selbstverständlichkeit mehr ist, wird nebenbei
mit demonstriert. Helmut Heißenbüttels Texte empfehlen sich
zu wiederholter Lektüre. Wir sprechen von "Textbuch 2", zu Lebzeiten
herausgegebenem Nachlaß und - wie wir sagen möchten - chef d'oeuvre
eines Vierzigjährigen.
-hl-
[forum academicum, Jg 12, Nr 7, Dezember 1961. S. 28]
Lyrisches
Nach "Transit" (hrsg. v.
Walter Höllerer) und den "expeditionen" (hrsg. v. Wolfgang Weyrauch)
wartete unlängst euch die DVA mit einem entsprechenden Sammelband
auf: Deutsche Lyrik / Gedichte seit 1945. 312 Seiten, ediert von Horst
Bingel. Diese Anthologie beabsichtigt einen Überblick über die
deutschsprachige Lyrik nach 45 zu geben und dabei "Autoren des gesamten
deutschen Sprachraums zu Wort kommen" zu lassen. Die einzelnen Beiträge
sind Themenkreisen untergeordnet, die zumeist evident sind und sichtlich
gliedern. - Es ist soviel für und wider Anthologien gesagt worden,
daß wir uns eine Wiederholung schenken können; fraglos hat auch
diese Anthologie die bekannten Vor- und Nachteile; und fraglos sind sie
dem Herausgeber bekannt. Und so könnten wir uns damit begnügen,
eine weitere, sauber und ehrlich edierte Anthologie anzukündigen,
die deutsche Feld, Wald- und Wiesenpoesie enthält, von einem grassierenden
Provinzialismus heimgesucht ist und nur wenige Ansätze jenes antiprovinziellen
Experiments zeigt, das wir bevorzugen würden. Doch trifft dies nicht
den Herausgeber, der ja auf das Angebot angewiesen ist; nein, den Herausgeber
müssen wir in Schutz nehmen bis auf eine Kleinigkeit, und die betrifft
eben jenes antiprovinziell gerichtete Experiment bis zu den Versuchen der
"movens"-Gruppe, die konkreten und visuellen Texte, wo Poesie und Grafik
ihre Grenzen verwischen. Und hier vermissen wir doch eine Handvoll Autoren,
die wir einer experimentellen Richtung deutschsprachiger Literatur zuordnen,
also Namen wie Ludwig Harig, Henneberg, Gomringer, Kriwet, Helms, Rot,
Claus u.a. und wir vermissen diese und andere umso mehr, als wir der Meinung
sind, daß es auch Aufgabe einer Anthologie ist, dem Experiment gebührenden
Raum zu geben und dieses ausdrücklich vorzuweisen. Nicht nur den Ausstellungen
moderner Kunst, auch den Anthologien sollte man immer etwas Atelier oder
Werkstatt beigeben. Noch einmal: Horst Bingel als Herausgeber kann fraglos
nichts für die deutsch-lyrische Provinz, er möchte aber bei einer
Neuauflage einige unserer Meinung nach empfindliche Lücken ausfüllen
und dem Experiment mehr das Wort geben, als es in der ersten Auflage geschieht.
henry
[forum academicum, Jg 13, H. 4, Dezember 1962. S. 23]