Als ich die Einladung zu dieser Ausstellung erhielt, blieb ich zunächst an Äußerlichkeiten hängen. Das begann mit dem Datum der Eröffnung, dem 1. Mai, der historisch so ganz anders besetzt ist als mit Kreuzen, Bildstöcken, Kreuzfiguren. Das setzte sich fort mit dem Ausstellungsrahmen, der da lautet: Ländlicher Raum mit Zukunft. Denn die Arma-Christi-Kreuze, um die es in dieser Ausstellung u.a. geht, sind Vergangenheit. Und inwiefern Gerda Biers Plastiken - auf den ländlichen Raum bezogen - Zukunft haben, darüber ist erst einmal nachzudenken, ebenso wie über ihre Kombination mit den Arma-Christi-Kreuzen. Denn mit äußerlichen Affinitäten sollte man sich nicht zufrieden geben. Schließlich stutzte ich bei der Eröffnerpaarung. Zwar habe ich gelegentlich schon mit Kultus- oder Wissenschaftsministern gemeinsam eröffnet, am letzten Sonntag zum Beispiel in Langenargen mit Professor Engler. Aber nach einem Minister für den ländlichen Raum zu sprechen, das ist für mich ein Novum, ebenso wie die Kombination altehrwürdiger Arma-Christi-Kreuze mit den Plastiken einer lebenden Künstlerin, die bisher nicht im Verdacht stand, christliche Kunst zu machen, was ja auch anachronistisch wäre. Ich komme damit zur Sache.
Die hier in Abbildung und Original ausgestellten Arma-Christi-Kreuze gelten als eine Spezialität des West-Allgäu und Oberschwabens und sind denjenigen, die neben dem Auto gelegentlich ihre Füße noch zur Fortbewegung und ihre Augen zur Wahrnehmung benutzen, bei Wanderungen in den genannten Regionen sicherlich schon aufgefallen. Sie sind Belege für eine Volksfrömmigkeit und Volkskunst, die museal geworden ist. Was heißen will, wir kartographieren ihre ehemaligen oder noch vorhandenen Standpunkte, wir restaurieren oder pflegen die erhaltenen Belege. Und wir versuchen, sie als Ausdruck schlichter Frömmigkeit zu verstehen. Mit anderen Worten: an die Stelle desjenigen, der vor diesen Kreuzen, Bildstöcken und anderen Arma-Christi-Darstellungen andächtig und verehrend verweilte, ist der Heimatforscher und systematisierende Wissenschaftler, der Konservator getreten, im Idealfall der kulturgeschichtlich Interessierte, in der Regel der verständnislos gaffende Tourist und Museumsbesucher.
In der Geschichte der Arma-Christi-Darstellung und -Verehrung sind die Belege aus Oberschwaben und dem West-Allgäu kein Einzelfall, in ihrer Erscheinungsform jedoch eine gewichtige Varietät. Relativ häufig sind Arma-Christi-Darstellungen außer in Oberschwaben und im Allgäu noch in Bayern, Tirol und hier insbesondere in Südtirol anzutreffen. Ich nenne als Beispiele in Vahrn, an der Straßenkreuzung nach Schalders, einen Christus an der Martersäule, mit der Zuschrift Mein Jesus / Barmherzigkeit. Und im Pustertal, an der Straße nach Vals einen Bildstock, auf dem neben dem Kreuz die Martersäule, Hammer, Zange Spieß, Nägel und andere Marterwerkzeuge abgebildet sind. Jedenfalls war dies Mitte der 70er Jahre noch der Fall, lautete die Zuschrift: Seht wie trauhernd Jesus am Kreuze / Kniend, o Jesus sei uns gnädig wegen deiner / Heiligsten Leidens u. Sterbens.
Damit wäre ich bereits bei den Symbolen. Arma Christi heißt, wörtlich übersetzt, Gerät, Rüstzeug, Werkzeug Christi, und es umfaßt alle Leidens- oder Marterwerkzeuge der Passio. Alles in allem zählt man heute knapp 30 Symbole, die aber erst im Laufe der Jahrhunderte diese Zahl erreicht haben. Vieles ist hier noch unerklärt, manches sicherlich - bei dürftiger Quellenlage - vorläufig überhaupt nicht zu klären.
Für die Geschichte der Arma-Christi-Verehrung und -Darstellung sieht dies nicht anders aus. Vermutet wird, daß die spätmittelalterliche Mystik mit ihrer Forderung individueller Andacht und meditativer Versenkung wesentlich zur Verbreitung beigetragen hat. Und anhand einer barocken Biberacher Stadtansicht läßt sich eine Verbindung von Arma-Christi-Kreuz und Kapuzinerkloster bzw. -orden herstellen. Das würde die Verbreitung der Arma-Christi-Darstellungen als Feldkreuze, aber auch an Haus- und Scheunenwänden in einen ursächlichen Zusammenhang mit der katholischen Gegenreformation rücken, die ikonographischen Bezüge zur Biblia pauperum wenigstens zum Teil klären. Rechnet man als Leistung des Kapuzinerordens das Einführen von Prozessionen und volkstümlichen Andachten hinzu, fände auch die Plazierung der Arma Christi bei Passionsspielen und -umzügen, bei Wallfahrten und Bittgängen ansatzweise eine Erklärung. Doch ist das alles, bei dürftiger Quellenlage, wie schon angedeutet, noch weitgehend Spekulation.
Läßt die genannte Biberacher Stadtansicht ein Arma-Christi-Kreuz bereits für 1657 datieren, die meisten erhaltenen Arma-Christi-Kreuze, seien sie nun aus Schmiedeeisen und Blech, wie im Allgäu, oder aus Holz wie in Bayern, dürften aus dem 19. Jahrhundert stammen und damit aus einer Zeit, in der sich religiöse Inhalte aus der offiziellen Kunst verflüchtigt hatten, in der Volkskunst aber noch bewahrt wurden. Man hat dies damit erklärt, daß die Kirche zunehmend weniger als Auftraggeber für Kunst in Erscheinung trat, was vordergründig sicherlich auch der Fall ist.
Aber auch die religiösen Inhalte hatten sich erschöpft. In dem Maße - und dies seit spätestens der Romantik - an die Stelle der Religion die Ästhetik trat, scheinen Fragen nach dem Sinn hinter dem Sinn nur mehr mit ästhetischen Mitteln möglich. Und hier komme ich auf die Arbeiten Gerda Biers zu sprechen. Klaus Bodermeyer, einer ihrer Interpreten, hat für die Formfindungen der Künstlerin festgehalten, daß ihre harte Achsialität die Körper-Raum-Beziehung früher kultischer Plastiken wieder aufnehme, ja er hat sogar von der archaischen Ausdrucksqualität dieser Plastiken gesprochen. In der Tat, nimmt man die zahlreichen "Kreuzfiguren", die "Feldzeichen", "Stelen" und "Bildstöcke" Gerda Biers alles in allem, könnte der Eindruck entstehen, die Künstlerin versuche mit ihrer Kunst etwas zu restaurieren, was seine gesellschaftliche und kulturelle Funktion längst verloren hat. Und dieser Eindruck ließe sich stützen mit jenen Arbeiten, die an Kruzifixe gemahnen, vor allem aber mit einem Bildstock aus dem Jahre 1982, in den eine Krone, ein Hammer, eine Zange und eine Hand gleichsam wie Intarsien eingelegt sind. Das Original ist inzwischen in Museumsbesitz, doch bietet ein Bronzeabguß in dieser Ausstellung eine ausreichende Vergleichsmöglichkeit.
Im Kontext der Arma-Christi-Kreuze wird dabei schnell deutlich, daß es sich bei Gerda Biers Kreuzfiguren und Bildstöcken weniger um eine theologische als vielmehr um eine ästhetische Botschaft handelt. Was übrigens auch für Gerda Biers Feldzeichen, für ihre Wand- und Totenbretter leicht festzustellen wäre, würde man sie neben erhaltene Feldzeichen stellen oder gar in eine der wenigen noch erhaltenen Totenbrett-Zeilen des Bayerischen Waldes einfügen.
Wenn ich sagte, daß es sich bei Gerda Biers Arbeiten weniger um eine theologische als um eine ästhetische Botschaft handelt, meinte ich damit unter anderem, daß sich die ikonographischen Elemente ihrer Arbeiten nicht eindeutig zuordnen lassen. Das ist bereits bei den Arma-Christi-Kreuzen und -Darstellungen oft schwierig, z.B. bei den Trinkgefäßen, die sowohl den Abendmahlskelch als den Ölbergkelch als den Kelch bedeuten könnten, der Christus vor der Kreuzigung gereicht wird, oder auch alle drei zusammen. Ähnlich verhält es sich mit der Hand bei vielen Kreuzen, bei der man rätselt, ob es die Hand des Pilatus, des Judas, des Josef von Arimathia oder des Knechts sei, der Christus beim Verhör durch den Hohen Priester schlägt.
Dieses Rätsel stellt sich bei dem genannten Bildstock Gerda Biers mit seinen Intarsien Hammer, Zange, Krone, Hand nicht. Sie sind lediglich Bildgegenstände, reizvoll in ihrer Archaik und Organisation, allenfalls geeignet, den Betrachter daran zu erinnern, daß sie - unter anderen Voraussetzungen und in anderem Kontext - einmal etwas bedeutet haben. Die religiöse Botschaft ist einer eher verschlüsselten Trauer um den Verlust dieser Botschaft gewichen, dem ästhetischen Hinweis auf Vergänglichkeit.
Werden und Vergehen, und hier darf ich mich für das folgende wiederholen und aus einer früheren Eröffnung zitieren, die "Krankheit zum.Tode" ist eine Bedingung des menschlichen wie allen Lebens Der Mensch hat im Laufe seiner Zeit diese Erfahrung in die verschiedenartigsten mythischen, religiösen oder philosophischen Bilder gekleidet, ihnen unterschiedlichsten bildnerischen, plastischen und architektonischen Ausdruck gegeben. Heute, wo an die Stelle der Religion die Ästhetik getreten ist, scheinen Hinweise auf den Sinn hinter dem Sinn nur mehr mit ästhetischen Mitteln möglich. Goethe, hat dies Hans Arp einmal für die Dichtung präzisiert, habe den Leser poetisch belehrt daß der Mensch sterben und werden müsse (übrigens in genau dieser Reihenfolge, R.D.) . Kandinsky hingegen stelle den Leser vor ein sterbendes und werdendes Wortbild, vor eine sterbende und werdende Wortfolge, vor einen sterbenden und werdenden Traum. Wir erleben in diesen Gedichten den Kreislauf, das Werden und Vergehen, die Verwandlungen dieser Welt. Die Gedichte Kandinskys enthüllen die Nichtigkeit der Erscheinung und der Vernunft.
Das ließe sich, denke ich, leicht auf die Arbeiten insgesamt Gerda Biers, auf die Exponate dieser Ausstellung übertragen. Auch sie wollen nicht lehrhaft, nicht didaktisch sein, keine religiöse oder ideologische Botschaft transportieren und schon gar nicht verkünden. Sie wollen, wie alle Sprache der Kunst, ästhetisch gelesen werden. Daß sich Gerda Bier dabei der für unsere Wegwerfgesellschaft (und wir werfen ja nicht nur Dinge sondern auch Inhalte auf den Sperrmüll) - daß sich Gerda Bier dabei der für unsere Wegwerfgesellschaft charakteristischen Abfälle annimmt, daß sie Holz und Eisen als Materialien wählt und zu Gebilden formt, die an Bildstöcke, Feldzeichen, Stelen gemahnen, nicht sind, das ist - wenn man so will - ihre durchaus aktuelle Sprache in einer zunehmend sinnentleerteren Welt. Eine Sprache, deren Grammatik und Syntax das Zusammenfügen heterogener Elemente des Abfalls ist. Indem diese Elemente aber - Deichsel, Joch, Dielenbrett, Gebälk, Metallbeschlag, Zange, Hammer etc. - ihrer ursprünglichen Funktion entzogen werden, verkehrt sich Funktion in Sinn, wird einer Gesellschaft, in der fast nurmehr das Funktionieren zählt, mit ästhetischen Mitteln die Frage nach ihrer geistigen Legitimation gestellt. Dabei macht die formale Anspielung der Arma-Christi-Kreuze wie allgemein der Feldzeichen, der Bildstöcke, der Stelen auch insofern Sinn, weil zu der Zeit, in der das von Gerda Bier verwandte rustikale Strandgut (Johannes Haider) noch funktionierte, auch Arma-Christi-Kreuze, Feldzeichen, Bildstöcke, Stelen und Totenbretter noch kulturelle Gebrauchsgegenstände waren und nicht vom Denkmalamt kartographierte, in Heimatmuseen begaffte Relikte uriger Volkskunst.
[Gartenbau-Ausstellung Bietigheim-Bissingen,
1.5.1989]