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Reinhard Döhl | Zu Gerda Biers Plastiken und Objekten

Konstanz und Konsequenz | Kein Paradimenwechsel | Kreuz Bildstock Kreuzfigur | Brett Schrein Figur

Konstanz und Konsequenz

Was Gerda Biers künstlerische Entwicklung auszeichnet, ist Geduld, belegbar bereits damit daß sich die Künstlerin länger als üblich für ihre Ausbildung Zeit läßt, bis sie mit dreißig Jahren zum erstenmal ausstellt. Da mehrere ihrer frühen Arbeiten den Titel "Frucht" tragen, ließe sich dies auch auf den künstlerischen Reifeprozeß überragen.

Die Konstanz und Konsequenz künstlerischer Entwicklung läßt sich vor allem aus dem Werk selbst seit 1973 ablesen, aus einem Werk, das ohne Sprünge und Brüche sich Schritt für Schritt fortsetzt, das ausgeht von vegetativen organischen Bronzen und bis zu den Holzplastiken der 80er Jahre reicht, oft in Verbindung mit Eisen, das ausgeht von glatten geschliffenen polierten Oberflächen und sich verändert zur narbigen, schrundigen, von Gebrauch und Verwitterung geprägten Oberflächenstruktur des Holzes ehemals hölzerner Gebrauchsgegenstände. Auf die haptische Qualität ihrer Arbeiten hat Gerda Bier selbst verwiesen, als sie eine frühe Bronze "Handschmeichler" nannte. Und in der Tat kann neben dem Auge auch die Hand, wenn der Betrachter will, die von mir andeutete Entwicklung nachvollziehen.

Entscheidend für die künstlerische Biographie Gerda Biers wurde ihr Entschluß Ende der 70er Jahre, die Kleinplastiken in einem künstlichen Rahmen zu plazieren, in einen Kunstraum zu stellen. Ich denke an die Werkphase der Objektkästen, in die sie zunächst ihre Kleinplastiken (Vegetative Form, 1978) einfügte, in denen sie bald experimentierend auch andere Materialien zusammenstellte. War Gips für die frühen Bronzen der formal notwendige Umweg, ist er jetzt neben dem Mörtel allenfalls noch Bindemittel, Bildträger für Steine, Ziegel, Eisenblech, Holz. Immer deutlicher gewinnt dabei das Holz als Material Selbständigkeit, bis schließlich künstlicher Rahmen und Kunstraum überflüssig werden, verlassen werden können. Als selbständiges Holzrelief, als "Wandbrett" einerseits, als stehende Figur andererseits, gewinnen die Holzplastiken eine thematische Breite, von der noch zu sprechen sein wird.

Gerda Bier hat diesen Schritt aus den Objektkästen heraus wieder in den freien Raum als "Rückkehr zur Plastik" bezeichnet. Und sie hat damit - bezogen auf das Problem Plastik und Umraum - fraglos recht. Dennoch möchte ich etwas anders formulieren und von den Objektkästen als einer Durchgangsphase zu einer neuen Auffassung von Plastik sprechen. Zum einen, weil es rein äußerlich Gerda Bier jetzt möglich wird, größere Formate zu bewältigen, wobei sich die plastische Masse in die Vertikale verschlankt. Zum anderen begründet sich die neue Auffassung von Plastik auch inhaltlich.

Die Schwitters-Retrospektive 1986 in Hannover, die Arp-Retrospektiven 1987 in Stuttgart, Straßburg oder Zürich zeigten Holzreliefs, die Schwitters zum Beispiel "Der breite Schnurchel", Arp zum Beispiel und nicht weniger witzig "Das Bündel eines Schiffbrüchigen" oder lakonisch "Bündel eines Da" genannt haben. Diese witzigen Auslegungen dessen. was die Reliefs angeblich zeigen, sind aus der damaligen Zeit zu verstehen als provokative Adresse an den Betrachter, der auch angesichts dieser Arbeiten noch nach konventionellen Inhalten gründelte. In Wirklichkeit ging es aber vor dem Hintergrund einer aus den Fugen geratenen, wahnsinnig gewordenen Zeit um die sinnliche Qualität der gefundenen Materialien, um die ästhetische Erfahrung des Alterns und des Verfalls. Jedes der verwendeten Materialien hatte seine eigene Geschichte, brachte diese in das Relief und damit in einen neuen übergreifenden Kontext ein, ohne daß der Betrachter diese Geschichten konkret hätte entschlüsseln können. Von "Meditationstafeln" hat Arp in ähnlichem Zusammenhang gesprochen, von "Mandalas, Wegweisern", die "in die Weite, in die Tiefe, in die Unendlichkeit zeigen" sollten. während die weniger anspruchsvolle Kunstgeschichte von "Gedenktafeln" spricht: "die in unverständlicher Sprache von vergessenen Schicksalen erzählen" (Willy Rotzler, zit. Fath).

Genau dieses scheint auch die entscheidende Erfahrung Gerda Biers zu sein, die sie 1982 in einer kurzen Notiz zusammengefaßt hat. Was sie anrege, sagt sie dort, seien "die Spuren. welche Abnützung und Zeit auf dem Holz hinterlassen haben". Was sie wolle, sei, "diese Mitteilungen und Geschichten des alten Holzes" aufzunehmen und "an den Betrachter weiter[zugeben] in veränderter Form".

"ln veränderter Form" sagt dabei deutlich, daß es Gerda Bier, wie übrigens schon Arp und Schwitters, nicht um das surrealistische Objet trouvé geht. Wer Gerda Biers Plastiken und Objekte, wer Gerda Biers Objektkunst für Objets trouvés hält, verfehlt sie. Denn entscheidend ist, was Gerda Bier mit ihren Fundstücken macht, wie sie diese zu einem Ganzen zusammenfügt.

Hier kommt nun eine weitere Konstante des Werkes ins Spiel: das Zusammensetzen von Teilen, nicht additiv, sondern konstitutiv, wobei das Ergebnis dann allemal mehr ist als die Summe seiner Teile. Diese Arbeitsweise des Zusammensetzens ist für Gerda Biers Arbeit von Anfang an charakteristisch. So setzen sich bereits die vegetativen Formen der frühen Bronzen aus geformten Einzelteilen zusammen. Für die Objektkästen ist die Technik des Zusammensetzens eine Bedingung sine qua non. Und die ihnen folgenden Arbeiten sind nicht nur durch Verbindungsteile, Zapfen und Dübel gefügt, sie zeigen vielmehr dem Auge, daß und wie sie gefügt sind. Nicht nur das für die "gebundenen Figuren" verwandte Eisenblech, auch Dübel, Zapfen, Verbindungsstücke haben wie die Flickstellen ästhetische Funktion und Aussagewert. Und es ist keinesfalls zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß Gerda Bier für ihre zusammengesetzten Figuren, Plastiken und Objekte die Mittel des Zusammensetzens von ihrer nur technischen Aufgabe entbindet, um sie auch ästhetisch funktionabel zu machen.

Aufregend ist dabei ein scheinbar thematischer Wechsel. Was Gerda Bier in den70er Jahren zunächst zusammenfügte, waren künstlerisch geformte Teile. Sie waren zusammengefügt zu Arbeiten, die sachbezeichnende Titel wie "Frucht" oder "Vegetative Form" erhielten und Curt Heigl von der Kunsthalle Nürnberg an "Früchte mit Kernen, Fruchtbarkeit und Weiblichkeit" erinnerten, sogar "teils an antike Fruchtbarkeitssymbolik" gemahnten. Genauso gut hätte er auch von Archetypen sprechen, einen Teil dieser Arbeiten sogar als weibliche Gegenstücke zum Lingam auffassen können.

Nach der Durchgangsphase der Objektkästen sind es statt der geformten Teile dagegen gefundene Formen, die bei ihrer Zusammenfügung das Ergebnis wesentlich mitbestimmen. Gemahnte die zusammengesetzte "Frucht" an "antike Fruchtbarkeitssymbolik", also an das Werden, gemahnen die neuen Arbeiten schon von dem verwendeten Material her an Vergehen. Die sinnliche Erfahrung von Zeit, Vergänglichkeit, Verfall wird dabei über das Material und seine Gestaltung weitergegeben, sogar direkt, wenn das Ergebnis das Feldkreuz, den Bildstock oder die Stele und ihre ursprüngliche Bedeutung und Funktion herbeiassoziert, aber auch indirekt in den Türmen. den "schmalen", "spitzen" oder "hängenden Figuren", Figurenpaaren oder Ensembles.

Der Typus der "Gebundenen Figur" macht dies selbst dem Laien einsichtig. Denn einerseits assoziiert er das Einbinden des Toten für seine Mumifizierung herbei. Andererseits - die Sprache hat so ihre Mehrdeutigkeiten - ist eine gebundene Figur eine Figur, die in etwas eingebunden ist, zum Beispiel in den Kreislauf von Werden und Vergehen.

Schließlich verlieren auch die sogenannten "Wandbretter" schnell ihre vermeintliche Unschuld, wenn man sie als Vorstufe für das wertet, was sie entwicklungsgeschichtlich anzielen: das Totenbrett, wie es zum Beispiel die Tradition des Bayerischen Waldes kennt: Bretter, auf denen der Tote aufgebahrt war, und die nach der Beerdigung bearbeitet, bemalt, beschriftet wurden, um dann an markanten Stellen bis zu ihrem Verfall als ein Memento mori aufgestellt zu werden.

Kein Paradigmenwechsel

Nun könnte der Eindruck entstehen, in Gerda Biers künstlerischer Entwicklung habe ein Paradigmenwechsel vom Werden zum Vergehen stattgefunden. Das aber will mir so durchaus nicht scheinen, denn gerade in der letztjährigen Entwicklung der Figur deutet sich ein Wiederaufnehmen des Ausgangspunktes auf anderer Ebene an. Zur stehenden Figur mit ihrer "senkrechten Hauptbewegung", mit "ausschließlich vertikalen Zäsuren" tritt nämlich in jüngster Zeit die liegende Figur mit entsprechend horizontalen Zäsuren. Und definiert man diese Figur von ihrem Erscheinungsbild als weiblich, ließe sich leicht der Bogen zurückschlagen zum Ausgangspunkt.

Gleichzeitig gewinnt die Künstlerin mit ihren liegenden Figuren formal eine neue Dimension. Wie die Totenbretter zunächst ihre Funktion in der Horizontalen haben, als letzter Ruheplatz des Toten, um dann in der Vertikalen ihren ästhetischen Sinn zu gewinnen als Mahnmal, so lassen sich die liegenden Figuren Gerda Biers nicht nur horizontal, sondern auch vertikal präsentieren, was ihnen einen anderen Sinn, eine andere Botschaft gibt. Gerda Biers Arbeiten sind in einem wörtlichen Sinne mehrdeutig geworden. Sie verweisen nicht mehr nur entweder auf Werden oder auf Vergehen. Vergehen schließt Werden mit ein und umgekehrt.

Vor einem möglichen Mißverständnis wäre zu warnen. Wie zitiert, gemahnten die frühen Plastiken der Künstlerin Curt Heig "teils an antike Fruchtbarkeitssymbolik". Klaus Bodemeyer hat für die "Formerfindung" der stehenden Figuren festgehalten, daß ihre "harte Achsialität die Körper-Raum-Beziehung früher kultischer Plastiken" wieder aufnehme. Er hat sogar von der "archaischen Ausdrucksqualität" der Plastiken gesprochen. Nimmt man die zahlreichen "Kreuzfiguren", die "Feldzeichen, "Stelen" und "Bildstöcke" hinzu. könnte der Eindruck entstehen, Gerda Bier versuche mit ihrer Arbeit etwas zu restaurieren, was seine gesellschaftliche und kulturelle Funktion längst verloren hat. Aber das wäre ein Mißverständnis.

Es geht nicht um die Wiederbelebung von etwas Vergangenem. Würde man einen Bildstock Gerda Biers neben einen erhaltenen traditionellen Bildstock stellen, ein Feldreichen der Künstlerin neben ein von der Zeit angenagtes, Stele neben Stete oder gar ein Totenbrett in eine der wenigen noch erhaltenen Totenbrettzeilen des Bayerischen Waldes einfügen, wäre mit den Händen greifbar, daß es Gerda Bier nicht um eine konkrete, sondern um eine abstrakte, nicht um eine religiöse, sondern um eine ästhetische Botschaft geht.

Das Werden und Vergehen, die "Krankheit zum Tode" ist eine Bedingung des menschlichen wie allen Lebens. Der Mensch hat im Laufe seiner Zeit diese Erfahrung in die verschiedenartigsten mythischen, religiösen oder philosophischen Bilder gekleidet, ihnen unterschiedlichsten bildnerischen, plastischen und architektonischen Ausdruck gegeben. Heute, wo an die Stelle der Religion die Ästhetik getreten ist, scheinen Hinweise auf den Sinn hinter dem Sinn nur mehr mit ästhetischen Mitteln möglich.

Goethe, so hat Hans Arp einmal für die Dichtung präzisiert, habe den "Leser poetisch belehrt, daß der Mensch sterben und werden" müsse (: übrigens in genau dieser Reihenfolge, R.D.), Kandinsky hingegen "stelle den Leser vor ein sterbendes und werdendes Wortbild, vor eine sterbende und werdende Wortfolge, vor einen sterbenden und werdenden Traum. Wir erleben in diesen Gedichten den Kreislauf, das Werden und Vergehen, die Verwandlungen dieser Welt. Die Gedichte Kandinskys enthüllen die Nichtigkeit der Erscheinung und der Vernunft."

Das ließe sich insgesamt leicht auf die Arbeiten von Gerda Bier übertragen. Auch sie wollen nicht lehrhaft, nicht didaktisch sein, keine religiöse oder ideologische Botschaft und schon gar nicht verkünden. Sie wollen, wie jede Sprache der Kunst, ästhetisch gelesen werden. Die gefüllten Objektkästen haben ihre Entsprechung in den ausgesparten Nischen der nachfolgenden Plastiken. Was den Objektkasten füllte, umrahmt jetzt die leere Nische. Der Inhalt kann zum Rahmen, der Rahrnen zum Inhalt werden.

Auch dies ist ein Wechselspiel, wie fast alles in Gerda Biers künstlerischer Produktion. Daß sie dabei die für unsere Wegwerfgesellschaft (und wir werfen ja nicht nur Dinge. sondern auch Inhalte auf den Sperrmüll) charakteristischen Abfälle nimmt, daß sie Holz und Eisen als Materialien wählt und zu Gebilden formt, die an Bildstöcke, Feldzeichen, Stelen gemahnen, was sie aber nicht sind, das ist -wenn man so will - ihre durchaus aktuelle Sprache in einer zunehmend sinnentleerten WeIt. Eine Sprache, deren Grammatik und Syntax das Zusammenfügen heterogener Elemente des Abfalls ist.

Indem diese Elemente aber - Deichsel, Joch, Dielenbrett, Gebälk, Metallbeschlag et cetera - ihrer ursprünglichen Funktion entzogen werden, verkehrt sich Funktion in Sinn, wird einer Gesellschaft, in der fast nurmehr das Funktionieren zählt, mit ästhetischen Mitteln die Frage nach ihrer geistigen Legitimation gestellt. Dabei macht die formale Anspielung des Feldzeichen, des Bildstocks, der Stele auch insofern Sinn, weil zu der Zeit in der das von Gerda Bier verwandte "rustikale Strandgut" (Johannes Halder) noch funktionierte, auch Feldzeichen und Bildstock, Stele und Totenbrett noch kulturelle Gebrauchsgegenstände waren und nicht vom Denkmalamt kartographierte, in Heirnatmuseen begaffte Relikte uriger Volkskunst.

Kreuz - Bildstock - Kreuzfigur

1989 konnte Gerda Bier im Rahmen einer Ausstellung in Bietigheim, ihre Plastiken mit Arma-Christi-Kreuzen aus dem West-Allgäu konfrontieren. Die in dieser Ausstellung gezeigten Abbildungen und Originale von Arma-Christi-Kreuzen gelten als eine Spezialität des West-Allgäus und Oberschwabens und sind denjenigen, die neben dem Auto gelegentlich ihre Füße noch zur Fortbewegung und ihre Augen zur Wahrnehmung benutzen, bei Wanderungen in den genannten Regionen sicherlich schon aufgefallen. Sie sind Belege für eine Volksfrömmigkeit und Volkskunst die museal geworden ist. Was heißen will, wir kartographieren ihre ehemaligen oder noch vorhandenen Standpunkte, wir restaurieren oder pflegen die erhaltenen Belege. Und wir versuchen, sie als Ausdruck schlichter Frömmigkeit zu verstehen. Mit anderen Worten: an die Stelle desjenigen, der vor diesen Kreuzen, Bildstöcken und anderen Arma-Christi-Darstellungen andächtig und verehrend verweilte, ist der Heimatforscher und systematisierende Wissenschafter, der Konservator getreten, im Idealfall der kulturgeschichlich Interessierte Relativ häufig sind Arma-Christi-Darstellungen außer in Oberschwaben und im Allgäu noch in Bayern, Tirol und hier insbesondere in Südtirol anzutreffen. Ich nenne als Beispiel in Vahrn, an der Straßenkreuzung nach Schalders, einen Christus an der Martersäule, mit der Zuschrift "Mein Jesus / Barmherzigkeit"; und im Pustertal, an der Straße nach VaIs einen Bildstock, auf dem neben dem
Kreuz die Martersäule, Hammer, Zange, Spieß, Nägel und andere Marterwerkzeuge abgebildet sind, jedenfalls war dies Mitte der 70er Jahre noch der Fall, lautete die Zuschrift: "Seht wie trauernd Jesus am Kreuze / kniend, o Jesus sei uns gnädig wegen deiner / Heiligsten Leidens und Sterbens".

Damit wäre ich bereits bei den Symbolen. Arma Christi heißt wörtlich übersetzt: Gerät, Rüstzeug, Werkzeug Christi, und es umfaßt alte Leidens- oder Marterwerkzeuge der Passion. Alles in allem zählt man heute knapp 30 Symbole, die aber erst im Laufe der Jahrhunderte diese Zahl erreicht haben. Vieles ist hier noch ungeklärt, manches sicherlich - bei dürftiger Quellenlage - vorläufig überhaupt nicht zu klären.

[Die Verwendung von Arma Christi beschränkt sich nicht nur auf Kreuze. So befindet sich z.B. im Österreichischen Museum für Volkskunde, Wien, ein brandstempelverziertes Brautschaff aus dem Jahre 1806, "dessen Dekoration eine Fülle von Einzelmotiven zeigt, die auf eine zweifach Funktion des Schaffes schließen lassen: die Darstellung eines bäuerlichen Paare und verschiedener bäuerlicher Arbeitsgeräte legt den Gedanken an die einstige Verwendung als Brautschaff nahe, wogegen die in dern Wandung eingebrannten Bilder der Leidenswerkzeuge Christi auch an ein Gefäß zum Schöpfen von Osterwasser oder für die Zeremonie der Fußwaschung denken lassen" (Klaus Beitl: Liebesgaben. Zeugnisse alter Brauchkunst. Salzburg: Residenz Verl. 1973; München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1980, hier Abb. 21).]

Aber auch die religiösen Inhalte hatten sich erschöpft. In dem Maße - und dies seit spätestens der Romantik - in dem an die Stelle der Religion die Ästhetik trat, scheinen Fragen nach dem Sinn hinter dem Sinn nur mehr mit ästhetischen Mitteln möglich. Und hier komme ich auf die Arbeiten Gerda Biers zu sprechen.

Nimmt man die zahlreichen "Kreuzfiguren", die "Feldzeichen", "Stelen" und "Bildstöcke" Gerda Biers alles in allem, könnte der Eindruck entstehen, die Künstlerin versuche mit ihrer Kunst zu restaurieren, was seine gesellschaftliche und kulturelle Funktion längst verloren hat. Und dieser Eindruck ließe sich stützen mit jenen Arbeiten, die an Kruzifixe gemahnen, vor allem aber mit einem Bildstock aus dem Jahre 1982, in den eine Krone, ein Hammer, eine Zange und eine Hand gleichsam wie lntarsien eingelegt sind.
Im Kontext der Arma-Christi-Kreuze wird dabei schnell deutlich, daß es sich bei Gerda Biers Kreuzfiguren und Bildstöcken weniger um eine theologische als vielmehr um eine ästhetische Botschaft handelt. Damit meine ich unter anderem, daß sich die ikonographischen Elemente ihrer Arbeiten nicht eindeutig zuordnen lassen. Das ist bereits bei den Arma-Christi-Kreuzen und Darstellungen oft schwierig, z.B. bei den Trinkgefäßen, die sowohl den Abendmahlskelch als den Ölbergkelch als den Kelch bedeuten könnten, der Christus vor der Kreuzigung gereicht wird, oder auch alle drei zusammen. Ähnlich verhält es sich mit der Hand bei vielen Kreuzen, wo man rätselt, ob es die Hand des Pilatus, des Judas, des Josef von Arimathia oder des Knechts sei, der Christus beim Verhör durch den Hohen Priester schlägt.

Dieses Rätsel stellt sich bei dem genannten Bildstock Gerda Biers mit seinen lntarsien Hammer, Zange Krone, Hand nicht. Sie sind lediglich Bildgegenstände, reizvoll in ihrer Archaik und Organisation, allenfalls geeignet, den Betrachter daran zu erinnern, daß sie - unter anderen Voraussetzungen und in anderem Kontext - einmal etwas bedeutet haben. Die religiöse Botschaft ist einer eher verschlüsselten Trauer um den Verlust dieser Botschaft gewichen, dem ästhetischen Hinweis auf Vergänglichkeit.

Brett - Schrein - Figur

Mit "Brett - Schrein - Figur" als Titel einer Ausstellung von 1990 hat Gerda Bier angedeutet was sie auch eindeutiger hätte sagen können, zum Beispiel durch die Erweiterung der ersten beiden Wörter zu den Komposita Totenbrett und Totenschrein. Beides ist im Bedeutungsspektrum eingeschlossen, wenn allerdings auch nicht ausschließlich gemeint.

Dieses Eingeschlossene aber nicht ausschließlich Gemeinte gilt es zu skizzieren. In einem längeren Ateliergespräch werteten wir die "Bretter" als Vorstufe: als skulpturale Variationen zum Thema Totenbrett, wie es die Tradition des Bayerischen Waldes ausgeprägt hat. Da ein volkstümliches Zeugnis oft schneller als ein abstrakter Kommentar die Bedeutung von Brauchtum erhellt, möchte ich ein Gedicht Maria Schvvägerls zitieren, in dem sie zu Beginn unseres Jahrhunderts den Totenbrettern ihrer Heimat ein literarisches Denkmal gesetzt hat.

Dounbreeln

Asbloicht sans vo da Sunna
dawoaschn von Regen.
Af jedan vo dene Breeln
is a Touts scho drafglegn.

An Bauan san Nama,
aa a Spruch is afachriem,
wöia so gleet hoat
und allas hoat triem.

Öitz is hoalt voeahm
ner möia des Breel non dou.
Da Hergott goatnan furt
un gitnan di öiwi Rouh.

Nimmt man dieses Gedicht - über dessen Qualität hier nicht zu sprechen ist - als Beschreibung, und fügt noch hinzu, daß diese Totenbretter oft zusätzlich noch mit volkstümlichen Symbolen bemalt waren (sind), wird der Unterschied zu den "Brettern" Gerda Biers schnell deutlich. Es fehlt ihren das lndividuelle: Name, Spruch und Angaben zur Vita. Auch von volkstümlicher Symbolik findet sich allenfalls eine Spur dort, wo Gerda Bier in das Oberteil eines Brettes drei Kreuze eingeritzt hat. (Ich verweise auch auf einen kürzlich gezeigten Fernsehfilm. Gezeigt wurde die getrennte Aufstellung der Totenbretter von Bauer/Bäuerin und Knecht, die die gesellschaftliche Rangordnung noch dort aufrecht erhalten, wo der Tod diese längst aufgehoben hat. So gesehen ist hier Gerda Biers einschlägiges Totenbrett mit seinen drei Kreuzen auch ein Kommentar; in jedem Fall aber Indiz für ihre intensive Auseinandersetzung mit diesem Thema.)

So deutlich im einzelnen die Unterschiede zwischen "Brett" und Totenbrett sind, so bemerkenswert sind aber auch die Affinitäten, etwa im Falle des Ausgebleichten und Verwaschenen. Dieses Moment des langsamen Auslöschens der Erinnerung an den Toten halten nämlich Gerda Biers "Bretter" in ihrer schrundigen Oberfläche, ihrer Kombination von fragmentarischen Holzstücken durchaus fest oder anders gesagt, sie geben diesem Moment Dauer.

In einem dritten Punkt halten sich Unterschied und Affinität die Waage. Auf Gerda Biers "Brettern" hat niemals ein Toter gelegen. Aber Menschen haben auf ihnen gelebt und auch geschlafen, sind auf ihnen möglichenweise gestorben. Denn Gerda Biers Material sind alte Dielenbretter aus einem alten Bauernhaus, nach ihrem Herausreißen - dem Totenbrett des Bayerischen Waldes durchaus vergleichbar - umfunktioniert in einen ästhetischen Gegenstand.

In einem vierten Punkt fügen Gerda Biers "Bretter" etwas - verglichen mit ihren Vorlagen - entschieden Neues hinzu, durch ihre teils offenen, teils geschlossenen, teils leeren, teils mit Holzspänen oder Asche gefüllten Nischen. Zum Teil hat Gerda Bier solche Nischen sogar uneinsehbar verschlossen. Werkgeschichtlich weist das zurück au die Objektkästen, die den Übergang von Arbeiten aus geformten Teilen in den70er Jahren zu den Arbeiten mit/aus gefundenen Formen in den 80ler Jahren bilden. Innerhalb der neueren Arbeiten verbinden diese Nischen deutlich "Brett" und "Schrein", mit dem Unterschied, daß das, was beim "Brett" ein Bestandteil der Komposition sein kann, beim "Schrein" wichtiges, ja zentrales Bauelement ist. Nebenbei bemerkt sind, ein weiteres Verbindungsglied. für diese "Schreine", was schon formal naheliegt, die "Wandbretter" ebenso Vorstufe für die "Bretter", so daß man auch sagen kann, daß sich das Thema, das Gerda Bier mit den "Wandbrettern" aufgriff, jetzt in zweifacher Weise fortformuliert und so an Komplexität gewinnt.

Wie für die "Bretter" die "Totenbretter", so bilden für die "Schreine" Gerda Biers die traditionellen Möglichkeiten des Schreins den ästhetischen Bezugspunkt, und dies in mehrfacher Hinsicht. Ich möchte dies andeuten, indem ich drei der vier Grundbedeutungen von Schrein nach Grimms Deutschem Wörterbuch zitiere. Danach sind Schreine

Daß insbesondere die ersten beiden Bedeutungen auf Gerda Biers "Schreine" übertragbar sind, ist schnell einsehbar. Allerdings sind Asche, Holzkohle, Laub, Holzspäne auffällige Reliquien oder Kleinodien. Und wenn auch keiner der "Schreine" verehrungwürdige Gebeine aufgenommen hat, so findet dies doch eine Entsprechung dort, wo Gerda Bier eine ausgebrannte Figur, wenn man so will die Gebeine eine ihrer Skulpturen, in einen Schrein aufgenommen hat. Unterstelle ich jetzt, daß jedes Werk eines Künstlers auch ein Teil seiner selbst ist, deutet sich damit an, daß Gerda Biers "Schreine" (und - wie leicht zu vermuten ist - auch andere Arbeiten der letzten Jahre) nicht nur eine objektive, sondern auch eine subjektive Bedeutungsschicht haben. Dies ist eine Vermutung, die sich leicht bestätigen läßt, wenn man in einem der "Schreine" eine Collage eingearbeitet findet, die ein Foto der Künstlerin in jungen Jahren mit der Abbildung von Arbeiten der 80er Jahre und einem Stück Totenbrettzeile verbindet. Das gibt natürlich auch den verschlossenen Nischen einen besonderen Sinn.

Wie die traditionellen Schreine objektiv und subjektiv für wichtig Genommenes verwahrten, sind auch Gerda Biers skulpturale Antworten objektiv und subjektiv zugleich. Subjektiv sind sie vielleicht am ehesten zu deuten als Reise durch die eigene Gegenwelt mit einem Ergebnis, das sich mit der ästhetischen Antwort deckt, einer Antwort, die nun die subjektive Erfahrung des Betrachters provoziert.

[Druck in: Gerda Bier. Figur Schrein Gehäuse. Schwäbisch Hall: Hällisch-Fränkisches Museum 1994, S. 6-11; für eine geplante Monografie durchgesehen 1996]