"Philosophie ist keine mehr, wenn sie nicht dialektisch-materialistisch ist, ebenso aber wie jetzt und in alle Zukunft festgehalten werden muß: dialektischer Materialismus ist keiner, wenn er nicht philosophisch ist, das heißt, einschreitend in große offene Horizonte." Diesen Satz notierte Ernst Bloch unter der bezeichnenden Überschrift "Dialektik und Hoffnung" und formulierte mit ihm zugleich sein Verhältnis zum dialektischen Materialismus. Ohne Frage liegt jetzt mit dem "Prinzip Hoffnung" das Hauptwerk, das Ergebnis eines solchen denkerischen Verfahrens vor; und daß der Suhrkamp-Verlag im vergangenen Jahr die vollständige durchgesehene Ausgabe herausbrachte, war eine verlegerische Tat ersten Ranges.
Für Ernst Bloch ist "Hegel der grundlegende Lehrer des fortgeschrittenen Bewußtseins. Sein Anliegen war das Selbst, das zur Erkenntnis kommt, das Wahre, das das Wirkliche ist. Und das Wahre ist kein stillstehendes oder ausgemachtes Faktum [...]. Das Wahre als Wirkliches ist vielmehr Resultat eines Prozesses; dieser muß geklärt und gewonnen werden [...]. Wer der Wahrheit nach will, muß in diese Philosophie, auch wenn die Wahrheit nicht bei ihr anhält". Solche Sätze erhellen auf einen Schlag die ganze Problematik einer so gedachten Philosophie.
Denn um sie zu Ende denken zu können, muß die Voraussetzung zum vorweggenommenen Ergebnis erst gesucht werden, "in einem Richtungsprinzip materialistisch begriffener Hoffnung, welches, einmal gefaßt, Bewußtsein und Arbeit der Welt nicht mehr verläßt". Weitab vom Vulgärmarxismus formuliert Ernst Bloch dabei "Materie" nicht als den "mechanischen Klotz". Sie ist für ihn das "Nach-Möglichkeit-Seiende" und das "In-Möglichkeit-Seiende, das reale Möglichkeitssubstrat des dialektischen Prozesses".
Und gerade in der Bestimmung des Möglichen wird Ernst Bloch zum scharfen und (wie mir scheint) wirklichen Widersacher Martin Heideggers, dem er "Anti-Utopisches" vorwirft. So heißt es bei Martin Heidegger in "Sein und Zeit": "Im Wunsch entwirft das Dasein sein Sein auf Möglichkeiten, die im Besorgen nicht nur unergriffen bleiben, sondern deren Erfüllung nicht einmal bedacht und erwartet wird" usw. Eben diese Stelle zitiert denn auch Ernst Bloch, um dann fortzufahren: "Dergleichen klingt, auf unreifes Antizipieren schlechthin angewandt, zweifellos so, als ob ein Eunuche dem kindlichen Herkules Impotenz vorwürfe." Das sind scharfe Worte, aber auch nicht schärfer als vieles andere, das Ernst Bloch dem "jetzigen Westen" und seiner Philosophie nachsagt. Sein Begriff der "Hoffnung" ist so entsprechender Gegenbegriff zu Martin Heideggers Begriff der "Sorge". Denn wenn Martin Heidegger erklärt, "Dasein" sei "wesenhaft Sorge", es könne als ganzes nur gedeutet werden aus dem Phänomen der "Angst", so sagt Ernst Bloch dagegen: "Zur Angst verhält sich die Hoffnung mit derart bestimmter Macht, daß sich sagen läßt: die Hoffnung ersäuft die Angst."
Andererseits mag man sich überlegen, daß Martin Heideggers ursprüngliche "Ursprungsphilosophie" zu seiner Deutung des Seienden führte, während Ernst Bloch davon ausgeht, daß "als bewegtes Sein die Materie ein noch auszutragendes Sein" ist, "der Boden und die Substanz, worin unsere Zukunft, also ihre ebenso eigene, ausgetragen wird". Ernst Bloch beginnt also bei dem Seienden in einem ganz anderen Sinne und formuliert das "Konkret-Utopische". "Der Akt-Inhalt der Hoffnung ist als bewußt erhellter, gewußt erläuterter die positive utopische Funktion; der Geschichts-Inhalt der Hoffnung, in Vorstellungen zuerst repräsentiert, in Realurteilen enzyklopädisch erforscht, ist die menschliche Kultur bezogen auf ihren konkret-utopischen Horizont." Indem also Ernst Bloch die Verwirklichung der Möglichkeit lehrt, macht er sich notwendig zum Widersacher Heideggers, für den die Möglichkeit nie Wirklichkeit werden kann.
Dieser an diesem Punkte so evidente Widerspruch macht sich auch in der Sprache bemerkbar. Ernst Bloch ist Hegelianer. Er bedient sich der Sprache dialektisch Er bedient sich der Sprache einer Welt, für die zum Beispiel Besitz, Reichtum, Luxus usw. noch gelten, zur Beschreibung einer realisierbaren Möglichkeit, wo just jenes nicht mehr gilt. Damit entgeht Ernst Bloch aber auch der Gefahr Martin Heideggers, durch Sprachspiele Denken vorzutäuschen, wo nur Beschreiben von Wörtern vorliegt. "Heidegger, mit viel absichtlicher Erlebnis-Unmittelbarkeit (Erlebnisserei), aber auch mit, man kann sagen: viel Affekthascherei, dazu mit einem Unmaß bloßer Wortbedeutungsinterpretationen, deren die Philosophie vor der Philologie sich schämt und selber nichts dabei gewinnt, außer metaphysischem Dilettantismus - Heidegger also, reflektiert und verabsolutiert mit seiner Angstontologie ersichtlich nur die 'Grundbefindlichkeit' einer untergehenden Gesellschaft".
Zur Sprache Ernst Blochs bemerkt Max Bense in "Rationalismus und Sensibilität" in einem ausgezeichneten Essay unter anderem: "Ernst Bloch schreibt eine Prosa, deren Anziehungskraft auf den Beschädigungen beruht, die sie durch Gedanken erfuhr, zu deren DarteIlung sie aufgewendet wurde" usw. Mit einer solchen Sprache führt Ernst Bloch den Leser aus den "kleinen Tagträumen" über die "Wunschbilder im Spiegel", "die Grundrisse einer besseren Welt" (einen historischen Rückblick auf die gedachten Utopien, die dargestellten Wunschlandschaften in Malerei, Oper und Dichtung) zu den "Wunschbildern des erfüllten Augenblicks".
Der Motor aber ist das "antizipierende Bewußtsein". Dabei stellen die "kleinen Tagträume" eine dialektische Kunstprosa par excellence dar. Und der Kritiker, der sagte, das ganze "Prinzip Hoffnung" lese sich wie ein Kriminalroman, hat so Unrecht nicht. Denn der Leser wird aus seiner Wirklichkeit hinweg verführt in Hoffnung: tua res agitur; denn es ist ja auch sein ontologisches Experiment, das hier in Sprache versucht wird. Und das "Prinzip Hoffnung" ist in einer Sprache geschrieben, wie sie seit Hegel (und vielleicht Nietzsche) in der Philosophie nicht mehr gesprochen wurde.
Und es geht weiter als Hegel. Denn: "Hegel leugnete die Zukunft. Keine Zukunft wird Hegel verleugnen." Zukunft wird zum philosophischen Thema, ohne daß Vergangenheit übergangen wird. "Die marxistische Philosophie als diejenige, welche sich endlich adäquat zum Werden und Heraufkommenden verhält, kennt auch die ganze Vergangenheit in schöpferischer Breite, weil sie überhaupt keine Vergangenheit außer der noch lebendigen, noch nicht abgegoltenen kennt." In dem Maße aber, wie sich ein solches Denken "adäquat zum Werden und zum Heraufkommenden" verhält, enthält es die Forderung: der Mensch solle mit der Geschichte ernst machen und die Verantwortung für die Erde selbst übernehmen. Das ist reiner Atheismus. Doch haben inzwischen auch Theologen die Utopie, das Prinzip der Hoffnung, einkalkuliert. Das sei interessehalber angemerkt (so z.B. Paul Tillich oder Gabriel Marcel). Ihre Gegensätzlichkeit zu Ernst Bloch braucht kaum betont zu werden. Denn für ihn lebt "der Mensch noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor der Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende". Das ist pervertierte Eschatologie. Und wie der Mensch noch überall in der Vorgeschichte lebt, so ist auch die Religion Vorstufe. Ihre Wunschinhalte aber werden aufgehoben in einer Erlösung auf Erden, einer Welt in Freiheit. Das ist, wie gesagt, reiner Atheismus vor und für und in einer Welt ohne Gott, einer Welt der Menschen, dessen "wirkliche Genesis nicht m Anfang, sondern am Ende" ist, und die erst anzufangen beginnt, "wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt, sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat".
Der Entwurf eines solchen Denkens ist, zugegeben, problematisch, weil ständig gegen eine Gesellschaftsordnung für eine so verstandene Gesellschaftsordnung (nach Veränderung der Besitzverhältnisse) gedacht werden muß, also gegen Widersprüche im wörtlichen Sinne. Die Rezeption einer solchen Philosophie der Hoffnung ist für den in der gegebenen gesellschaftlichen Situation verhafteten Leser um nichts leichter; auch wenn ihm die Weichen gestellt werden, denn gerade dies sollte er kritisch vermerken.
Und dann die politische Gegenwart. Denn es kann Ernst Bloch doch nicht darum gehen, daß zur Erreichung jener "Heimat", die er prospektiv erträumt, zuerst der Mensch entmenschlicht wird, um später Mensch sein zu können. Oder anders gefragt: Darf ein um seines Ergebnisses willen gedachtes Prinzip Hoffnung um des Prinzipes willen politisiert werden, so, daß man um des Staatenlosen willen erst den Staat ganz groß und stark machen muß? Daran kann Ernst Bloch in der Tat nicht liegen. "Das Ende", sagt er, "ist lautlos und einfach." Er sagt auch: "Auf tausend Kriege kommen nicht zehn Revolutionen. Und selbst wo sie gelungen waren, zeigten sich in der Regel die Bedrücker mehr ausgewechselt als abgeschafft."
Ernst Bloch sieht also die Gefahr einer falschen Politisierung. (Hier wäre anzumerken, daß erst jetzt, nach langem Verbot, das "Prinzip Hoffnung" im Aufbau-Verlag Ost-Berlin vollständig erscheinen darf. Ernst Bloch ist die Lehrbefugnis entzogen.) Trotzdem - und da ist etwas von Größe zu. spüren - entwarf er seine Utopie zu Ende, formulierte seinen Haß gegen eine "einzig auf Gewesenheit ausgerichtete Erkenntnis", gegen ein Denken, das keine Experimente mehr zulassen will. Seine ontologische Situation ist dabei alles andere als klassisch. Zwar hat auch bei ihm die Möglichkeit zunächst nur einen Rang im Gedanken, aber sie ist ständig realisierbar. Die daraus resultierende Aufforderung zum ontologischen Experiment trennt Ernst Bloch nicht nur von Martin Heidegger. Seine Konzeption weist ihm auch einen Platz dort zu, wo sich schon für Friedrich Nietzsche die Frage nach den Folgen seiner totalen Zertrümmerung ergab, als, scheint es, mögliche Antwort.
So gewiß die Auseinandersetzung
mit diesem einen Thema Utopie notwendig ist (es kehrt bei Ernst Bloch ständig
weitergedacht wieder), so notwendig ist auch die Auseinandersetzung mit
einem solchen Denken. Das Buch ist für den vorbehaltlich
aufmerksamen Leser ein Ärgernis
und die Hoffnung eine Provokation. Denn hier bringt jemand nach der Darlegung
gescheiterter Utopien (deren das abendländische Denken seit Plato
Hülle die Fülle hat) den Glauben auf, eine Utopie zu denken,
in der unerreichbare religiöse Hoffnung "durch die docta spes auf
ein Erreichbares ersetzt wird" (Landmann).
"Hoffnung für Atheisten", überschrieb ein Kritiker. Ich glaube das nicht; eher wohl: Hoffnung auf eine echte Auseinandersetzung. Kann doch auch der Widerspruch Ernst Blochs nicht unwidersprochen bleiben, gerade weil er vorgibt, in "große offene Horizonte" einzuschreiten. "Dieses Einschreiten aber ist theoretisch-praktische Arbeit gegen die Entfremdung, also für die Entäußerung der Entäußerung, also für die Äußerung der Heimatlichen, worin der Kern oder das Wesenhafte von Mensch und Welt endlich zu beginnen vermag, sich zu manifestieren. Das Ziel des vermenschlichten Daseins lag seinem Wunschtraum noch stets nahe, seiner Vorhandenheit noch stets utopisch fern."
Um diesen Sachverhalt aber und seinen Nachweis geht es unter anderem in Ernst Blochs großer Utopie Hoffnung.
[notizen, Jg 5, Nr 30, Dezember 1960/1961, S. 22 f.]