BioBibliograffiti | Über Reinhard Döhl
Joachim Kuolt | Einführende Anmerkungen zu Ausstellung und Katalog: Reinhard Döhl und Freunde: mail / art

Von Anfang an spielen Arbeiten im klassischen Postkartenformat eine bedeutende Rolle im bildkünstlerischen Werk von Reinhard Döhl. Sein - zunächst überwiegend rezeptives - Interesse wurde geweckt, als der damalige Göttinger Germanistik-, Philosophie- und Geschichtsstudent im September 1958 von seinem Kommilitonen Hans-Heinrich Lieb eine Ausgabe von Franz Marcs Botschaften an den Prinzen Jussuf zum Geburtstag geschenkt bekam. Der hieraus entstehende Wunsch, solche Kunstpostkarten zu sammeln, die ihre erste Silbe auch tatsächlich verdienen, ließ sich erst einmal nicht erfüllen: was Döhl ab und an im Kunsthandel aufstöberte, konnte er sich nicht leisten, und Künstlerfreunde hatte er zu der Zeit noch keine.

Dies änderte sich mit dem Umzug nach Stuttgart, zu dem Döhl 1959/60 in der Folge des Skandals nach Veröffentlichung seiner "missa profana" und dem damit verbundenen Verweis von der Göttinger Universität gezwungen war. Die neuen Stuttgarter Freunde Klaus Burkhardt, der zu jener Zeit typographisch anspruchsvolle eigene Postkarten druckte, und Günther C. Kirchberger, der u.a. Gouachen im Postkartenformat malte, stimulierten Döhls Interesse erneut und regten ihn zu einer nun intensiver werdenden eigenen Produktion von Kunstpostkarten im Spannungsfeld zwischen Typographie und Collage an. Waren die dabei entstehenden Arbeiten zunächst Einzelstücke oder - seltener - auch kleinere Sequenzen, treten sie ab Mitte der 60er Jahre mehr und mehr zu Ensembles zusammen; hierzu gehören etwa die "Tapoems and Typieces" von 1964-66 (z.T. publiziert in RD., BilderBuch, hg. von Ulrike Gauss, Stuttgart 1990, S. 7-10) oder die Folge "Apfel/Birne/Blatt von 1965.

Es läßt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen, wann Döhl'sche Karten erstmals tatsächlich auf den Postweg gegeben wurden. Wahrscheinlich hat Döhl postalisch mit Klaus Burkhardt Karten getauscht; aus der Korrespondenz mit Werner Schreib sind nur Karten Schreib's von 1962 und 1963 erhalten, was auch in den Fällen Diter Rot und Jiri Kolar gilt. Die nachweislich älteste auf dem Postweg gelaufene Karte Döhls trägt einen Münchner Poststempel vom 18.1O.1966 und ist an seine Tochter Dörte adressiert.

Nach dem Rückzug aus dem allgemeinen Kunstbetrieb im Verlauf der 70er Jahre - seiner "blackbox"-Phase - behalten Postkarten und nicht fürs Verschicken gedachte Arbeiten im Postkartenformat für Reinhard Döhl dennoch ihre Wichtigkeit: zunehmend werden sie zum Spiel- und Experimentierfeld für Skizzen, Bildideen, Notate und dergleichen, aber auch zu einem Ort für politische und kulturpolitische Auseinandersetzung.

In den 80er Jahren dann entstehen größere "mail art"-Projekte, von denen insbesondere die bis heute unter dem Titel "Kunst & Kompostkarten" fortgeführte, weit über tausend Karten umfassende Korrespondenz mit Wolfgang Ehehalt sowie die über einen Zeitraum von drei Jahren täglich mit Ulrike Gauss geführte Korrespondenz der "Atelier und Konzeptkarten" zu erwähnen sind. Daneben hält Döhl mittels eigener Postkarten international Kontakt mit Künstlern u.a. in Japan, China, Frankreich und der Tschechischen Republik sowie auch mit Freunden und Kollegen zuhause in Deutschland, und dies bis zum heutigen Tag. Bei Reisen und länger dauernden Auslandsaufenthalten (Japan 1987 und 1996, Paris 1990, Rom 1992, Jerusalem 1998/99) kommt den Karten noch die Funktion von Tagebuch und Reisebericht zu, sie geben Eindrücke und Anregungen wieder und lassen etwas von der Befindlichkeit ihres Produzenten erkennen.

Der vorliegende Katalog erscheint anläßlich der gleichnamigen Ausstellung vom 31.3. - 05.05.2000 in der Stadtbücherei Bad Wildbad. Kern der Ausstellung sind dabei ein den aktuellen Stand dieser Korrespondenz repräsentierendes Konvolut der "Kunst & Kompostkarten" von Döhl und Ehehalt, die erstmals 1989 in der Galerie Folkmar von Kolczynski in Stuttgart ausgestellt wurden und als separater Block auch 1996 in der "mail art"-Ausstellung Döhls im Stuttgarter Wilhelmspalais zu sehen waren. Hinzu kommen Beispiele weitgestreuter Korrespondenz vornehmlich aus den 9Oer Jahren. Nicht gezeigt werden können in Wildbad leider die bereits erwähnten Karten an Ulrike Gauss, die von 1989-92 täglich Auskunft über Konzepte, Pläne, angefangene, abgebrochene, abgeschlossene Projekte und ähnliches gaben.

Während also im Mittelpunkt der Ausstellung die "Kunst & Kompostkarten" stehen, dokumentiert der Katalog einerseits ein erweitertes Netz von Korrespondenten in Deutschland und aus den Ländern, mit denen Döhl beruflich zu tun hatte und an denen von seiner Seite ein grundsätzliches kulturelles Interesse besteht, namentlich Frankreich, die Tschechische Republik. China und Japan. Zum andern sollen hier thematische Konstanten erkennbar werden, die für das künstlerische Gesamtwerk Reinhard Döhls insgesamt konstitutiv sind: Porträt, Landschaft, Stadt, Strukturelles und Kalligraphisches (vgl. RD., foto/bild, hg. von Rolf H. Krauss u. Joachim Kuolt, Stuttgart 1997), aber auch Zeitkritik sowie das weite Feld des Un-Sinns, welches Döhl auch literarisch und wissenschaftlich ertragreich bearbeitet hat.

Zum Schluß sei angemerkt, daß nicht nur einerseits der Kreis der Korrespondenten international war und ist, sondern andererseits Karten von Reinhard Döhl auch in "mail art"-Ausstellungen in Siegen (1987), Berlin (1988), Tokyo (1994) und Montevideo (1998) zu sehen waren.

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