BioBibliograffiti | Über Reinhard Döhl
Franz-Norbert Piontek | Fixierte Lebensaugenblicke

Seit 30 Jahren tauscht Reinhard Döhl Gedichte mit japanischem Lyriker aus

Abseits offizieller Kulturprogramme leben manchmal im Verborgenen internationale Kontakte. So pflegen Stuttgarter Künstler einen intensiven Austausch mit Anhängern der konkreten Poesie in Japan. "Wie führen seit nunmehr über 30 Jahren einen Dialog", erzählt Reinhard Döhl, Literaturwissenschaftler an der Uni Stuttgart.

Das aktuelle Projekt ist ein Kettengedicht. Seit 1992 senden sich Döhl und der Japaner Syun Suzuki alle zehn bis vierzehn Tagen einen weiteren fünfzeiligen Vers, japanisch Tanka genannt, zu diesem Renshi auf Postkarten zu. 25 Verse sind bereits entstanden. "Jedes Tanka soll einen momentanen Erlebnisaugenblick objektivieren und als Lebensaugenblick in seiner Zeitgebundenheit fixieren", sagt Döhl. Dabei begann dieses Kettengedicht eher zufällig. Als "mail art" (Postkunst) schrieb Döhl seinem langjährigen Freund folgenden Fünfzeiler zu: "Törichte Träume, / wenn der Mond sich bald rundet. / Ich falte ein Schiff / aus Papier und schicke es / mit dem Westwind in Wolken". Vierzehn Tage später kam die Antwort: "Das Schiff hat / am schönen Traum geankert / ruhig leuchtend im / Schein des Mondes als ob es / ein japanisches wäre". Die beiden Künstler wollen aber nicht an der alten Tradition des Kettengedichts rütteln, wie es Ende der 60er Jahre Octavio Paz, Jaques Roubaud, Eduardo Sanguietti und Charles Tomlinson im Paris versucht hatten. Ein Ende ist schon in Sicht. "Wie machen das Gedicht bis Herbst 1994 weiter", so Döhl.

Noch vor 21 Jahren wurde die konkrete Poesie in Stuttgart in namhaften Institutionen vorgestellt: 1972 die Ausstellung "klankteksten, konkrete poesie, visuelle teksten" im Württembergischen Kunstverein und die Schau "Grenzgebiete der bildenden Kunst" in der Staatsgalerie.

Denn die konkrete Poesie, eine hierachische Grenzen zwischen Literatur und Bildender Kunst überschreitende Richtung, erlebte in den 60er und 70er Jahren ihre Hochblüte. Inzwischen geriet die Stuttgarter Schule um Max Bense weitgehend in Vergessenheit. 1964 war die "heimliche Kulturachse " zwischen Japan und Stuttgart mit der Ausstellung "poema concreto / konkrete poesie" entstanden, an der neben japanischen und brasilianischen Künstlern auch Pierre Garnier und aus Stuttgart neben Bense und Döhl noch Elisabeth Walther und Helmut Heißenbüttel beteiligt gewesen waren.

Wie sehr die Bedeutung der Stuttgarter Schule noch heute in Japan geschätzt wird, eröffnete sich Reinhard Döhl 1987 bei der Durchsicht des Nachlasses von Seiichii Niikuni, einem Mitgleid der sogenannten ASA-Gruppe, in der Bibliothek der Kunstakademie Tokio. "Ich fand Arbeiten der Ulmer Hochschule für Gestaltung, der Stuttgarter Schule und Gruppe in einer Vollständigkeit vor, in der wir sie hier wahrscheinlich nicht mehr zusammenbrächten", erinnert sich Döhl.

Esslinger Zeitung, 2.7.1993