Reinhard Döhl | Stichworte für eine Rekonstruktion
 
Für B.S.

 Oder, mein Fluß - 1951 wahrscheinlich notierte Günter Eich diesen lakonischen Vers zum ersten Mal als Überschrift eines für ihn relativ langen Gedichtes, geschrieben für eine Hörspieladaption der Fontaneschen Kriminalerzählung "Unterm Birnbaum". Günter Eich, der diesen Text zu den Aufführungen des Hörspiels selber sprach, hat in der Folgezeit das Gedicht mehrfach überarbeitet und dabei den Vers ins Gedicht selbst eingezogen: Oder, mein Fluß,
der keine Quelle hat:
In Tropfen sickert es
aus Gebirgen von Zeit,
Wasser, das nach Kindheit schmeckt.

Oder, mein Fluß,
eine Breite, um Holüber zu rufen,
ein November für Regen.

1954 zum ersten, 1963 in einer überarbeiteten Fassung zum zweiten Mal an abgelegener Stelle veröffentlicht, hat Günter Eich das immer länger werdende Gedicht jedoch nie einem Gedichtband eingeordnet, lediglich die summierenden Schlußverse einer bisher unveröffentlichten (Vor-)Fassung in formelhafter Reduktion als dritte der "Neuen Postkarten" 1964 "Zu den Akten" genommen. Oder, mein Fluß, erklärbar
aus Quellen und Nebenflüssen,
mein Morgengewinn, meine Unruh,
meine Sanduhr über den Ländern.
Warum sind dieser lakonische Vers und über ihn seine verschiedenen Kontexte haften geblieben? Was macht diese Erinnerung des in Lebus geborenen Günter Eich an den Fluß seiner Jugend so einprägsam?

Die Oder (die Landschaft des Oderbruchs) hat im Werk Günter Eichs mehrfach Spuren hinterlassen, in zwei frühen Erzählungen von 1931, "Morgen an der Oder" und "Ein Begräbnis", dann in einem frühen Hörspiel(-fragment) von 1933, "Ein Traumspiel":

Da fließt ein Fluß, ich sehe von hügeligen Wiesen herunter, es ist ein Fluß, den ich von einer weiten Erinnerung her kenne. Ist es die Oder, ist es der Red River? Aber wir begegnen der Oder, dem Oderbruch auch in Theodor Fontanes "Wanderungen durch die Mark Brandenburg", in der Erzählung "Unterm Birnbaum", und in ihrer Hörspieladaption wiederum bei Günter Eich. In Freienwalde besuchte Fontane seinen Vater, erinnert das einleitende Gedicht. Eine Wahlverwandtschaft deutet sich an. Macht dies den Vers Günter Eichs schon erinnernswert? Wohl nur zum Teil.

Auffallend durch alle Fassungen ist das Possessivpronomen, die späte Inbesitznahme eines Flusses, dessen Ufer Günter Eich schon mit 11 Jahren verließ, einer Landschaft, in die es für ihn nach 1945 keine Rückkehr mehr gab. Auffallend ist die Rigorosität, mit der Günter Eich Jugend (mein Morgengewinn), Lebensantrieb (meine Unruh) und Einsicht in die Vergänglichkeit (meine Sanduhr) metaphorisch an den Fluß seiner Jugend bindet. Haben Fluß und Landschaft so sehr das Eichsche Werk geprägt? Oder liegt hier nicht vielmehr eine nachträgliche Projektion auf diesen Fluß, in diese Landschaft vor, werden Fluß und Landschaft gleichsam zu einem Katalysator des Werks?

Abschied und Vergänglichkeit ziehen sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Fassungen des Gedichts.

Wer kommt, geht bald wieder fort, sagt es Günter Eich, und: Hier wohnen [...] die Abschiede und die Wiederkehr. Günter Eich nennt Belege, den Mörder Sternickel, Fontane, Katte, der in Küstrin enthauptet wird, Zerstört ist das Haus,
wo Kleist seine Kindheit verbrachte.
Von (unwiederholbarer) Kindheit spricht schon das genannte "Traumspiel": Kehre wieder, Manitou, Gott der Kindheit! von Mord, Tod, Vergänglichkeit erzählen die anderen Oder-Texte ("Morgen an der Oder", "Unterm Birnbaum") von Anfang an. Wie auch sonst bei Günter Eich ist Vordergründiges hintersinnig. Die Erinnerung an die Fähre in Lebus und das Haus
rechts der Oder, wo ich geboren bin,
erfährt ihren Doppelsinn vom zerstörten Haus, wo Kleist seine Kindheit verbrachte, und der Breite des Flusses, einer Breite um Holüber zu rufen. Oder und Acheron, ein Fährmann der auch Charon heißt, auch davon spricht unausgesprochen das Gedicht.

"Der Strom", eine Hörfolge von 1950, bestätigt den Befund.

Steig ein in das heitere Boot, - es ist nicht die Charonsfähre, beginnt ein Gedicht, aber ein späteres schließt: Und plötzlich [...] weißt du, wer [...] mit dem Ruder im Nachen stand
und du nennst ihn ohne Entsetzen.
So doppeldeutig Fähre und Holüber sind, so doppelsinnig ist für Günter Eich auch der Vorgang des Übersetzens. Als Übersetzen aus einer Sprache, die sich rings um uns befindet, zugleich aber nicht vorhanden ist, als sprachliche Annäherung an diesen Urtext hat Günter Eich sein Dichten verstanden. Auch diesen Übersetzungsvorgang hat er wiederholt thematisiert (u.a. in "Das Jahr Lazertis" als Annäherung an diesen, in "Sabeth" als nicht wieder rückgängig zu machende Entfernung von diesem Urtext). Erst im Doppelsinn von übersetzen und übersetzen erschließen sich die Fassungen des Oder-Gedichts vollends, werden die Verse Oder, mein Fluß,
eine Breite, um Holüber zu rufen
in ihrer ganzen Konsequenz verständlich. Günter Eich hat diese Verse erst in der Überarbeitung in den Text eingefügt. Das gibt ihnen Gewicht. Eine Eichsche poetica in nuce? Vielleicht. Und vielleicht deswegen hängengeblieben, wie so manches.

[Aus: Der Reiz der Wörter. Stuttgart: Reclam 1978]