Peter Stobbe | Trauerrede für Sanne

Reden wir also nicht von der Trauer und vom Schmerz, den ein Verlust mit sich bringt. Trauerworte vermitteln das Tröstende nicht, sie gewähren uns bloß einen kurzen Aufschub. Worte vermögen die Lücken nicht zu schließen.

Aber vielleicht die Erinnerung, denn sie holt das ins Leben, was gegangen zu sein scheint.

Die Erinnerung kleidet sich in Bilder - kurz auf blitzend, schemenartig bisweilen, dann wieder erzählend. Aber er ist ein Sprechen jenseits der Worte, da haben sie ihren geheimnisvollen Platz, die Erinnerungs-Bilder, jenseits, nämlich, von Raum und Zeit und den Verstrickungen des Täglichen.

Es ist eine Gegend, gleichwohl wirklich und imaginär, in der wir mit unserer Erinnerung sein dürfen und mit denjenigen gut aufgehoben sind, an die wir uns erinnern. Denn es ist ein Ort des sanften Schauens, der stillen Einkehr und einer wortlosen Zwiesprache - eine helle und bildreiche Erinnerungsgegend, dennoch entdeckt sie sich aber in den Raum und die Zeit, da sie ein Netz der Verbindungen stiftet für Gewesenes, für das Erlebte, das Gedachte, das Gefühlte, aber auch ein Ort für das Jetzt und sogar für das Kommende.

Diesen Erinnerungsplatz möchte ich versuchen zu beschreiben.

Es sind Stationen innerer und äußerer Wanderschaft - die Planckstraße in Stuttgart, Todtmoos im Schwarzwald.

Meine Erinnerung an Sanne ist an Orte gebunden und an Zimmer, die es an diesen Orten gab und an Gegenstände, welche sich dort befanden.

Dort sehe ich sie - eine auratische Hüterin eines vielteiligen Erinnerungsarchivs, ausgestattet mit einem wortreichen, aber gleichwohl jenseits der Worte waltendem Wissen um die Dinge des Lebens und der Gabe tiefgründig-bissigen Humors, mit dem man sich erst einmal zu arrangieren hatte; eine weiblich-mütterliche Erscheinungsform stand mir im Raum gegenüber, die mir bis dahin unbekannt war.

Sanne lernte man nicht einfach auf Anhieb kennen; sie schaute erst einmal, wen Wil da mit nach Hause in die Planckstraße brachte.

Daß sie schrieb, daß sie malte, wußte ich damals noch nicht. Daß sie etwas Besonderes war, spürte ich.

Wil und ich gingen in die Markthalle einkaufen. Von ihm lernte ich die fachgerechte Zubereitung von Pilzen und wurde en passant eingeführt in die Wissenschaft vom Leben, welche nichts anderes zu sein schien, in unseren Augen wenigstens, als die Hingabe an die Kunst und jene, die wir lieben.

Von Sanne lernte ich Entscheidendes über das Akzeptieren, das Vergeben und über die Notwendigkeit, sich den Situationen zu stellen, wie sie sind.

Ich hörte vieles aus der Vergangenheit, vom kommunistischen Widerstand, von der Kraft der Worte und der Bilder in düsteren Zeiten. Erinnerungs-Fragmente, Sannes eigene Erinnerungs-Bilder, hervorgeholt aus dem Fundus engagierter Teilhaberschaft an jener dahinfließenden Erzählung, die das Leben zu sein scheint.

Ein großes Archiv, das sie auf Wils Glastisch im Wohnzimmer der Planckstraße ausbreitete. Die philosophische Erörterung all’ dieser Verzwicktheiten und Zusammenhänge fand sozusagen während des Essens und beim Weine statt. Jedes mal machte ich mich auf eine Art reich beschenkt auf den Heimweg.

Zudem ist Sanne in meiner Erinnerung, so eigenartig es klingen mag, mit drei Tieren verbunden - das eine ist ein Elefant, die anderen beiden sind ein Hund und ein Igel. Alle drei wiederum sind verknüpft mit Sannes Arbeitszimmer in der Planckstraße, welches mir als Schlafplatz zur Verfügung stand, wenn ich die Beiden besuchte.

Dort, nämlich, streunten die Tiere herum - bellend, stachlig, geheimnisvoll, bild- und wortreich; Erinnerungs- und Vergewisserungsstücke auch diese - Sanne auf dem Elefanten reitend, irgendwo in Amerika getragen von einem Tier, welches für Sanne Weisheit und Duldsamkeit symbolisierte.

Hund und Igel allerdings waren deutlich als Kunstfiguren ausgewiesen und mittels ihrer Erscheinungsformen lernte ich Sanne als Künstlerin kennen. Der Hund, eine kleine Handzeichnung, von der Art, wie wir solche Artgenossen als kläffende Monster kennen und bisweilen auch fürchten. Der Volksmund sagt: Hunde, die bellen, beißen nicht. Sanne münzte diesen Satz in der ihr eigenen Hintersinnigkeit um und schrieb neben die Zeichnung: "Hunde, die bellen, beißen danach".

In ihrem Arbeitszimmer lagen aber auch kleine bemalte Blätter - Bilder in kräftig leuchtenden Farben, bildgewordene Erinnerungs- und Traumstücke auch diese, die vom Licht erzählten, von Gegenständen, von Räumen in anderen inneren und äußeren Ländern - Reisebilder, Bilder erinnerten Schauens und vollzogener Bewegung, die dem Zimmer in der Planckstraße eine weit nach hinten in die Ferne entrückte Horizontlinie stifteten.

Und natürlich die Texte, die später in ihrem Buch "Das Husten des Igels in der Nacht" veröffentlicht werden sollten. Der Igel also - ein kleines stacheliges, aber trotzdem sanftes und scheues Tier, nachtaktiv, ein stiller Gartenbewohner.

Dieses Buch lese ich jetzt wie ein vielstimmiges Lied, in welchem jene feinstofflichen Töne mitschwingen, die für Sannes Auffassung der Welt so bestimmend waren - die Tiefe des erfahrbaren Moments, dessen melancholische Poesie und schillernd - fragile Klarheit im eigentlich Unsagbaren, dem sie dennoch Möglichkeiten des Erzählens von Einsamkeit, von Schmerz und Lust, von Vergeblichkeit, von der schweren Leichtigkeit der Welt und ihrer Teile abzutrotzen vermag.

Dort heißt es:

Die Bäume knipsen den Mond an uns aus
Dann kommt der Mann mit dem Sand
Zur Dunkelheitenkontrolle
Streicht über das Samtschwarz
Und kniet sich ins Nachtblau.
Ich erinnere mich.
Verschlüsselte Botschaften an den Kosmos, habe ich mir damals notiert, wo sie wie Sternschnuppen ihre Drift aufnehmen.

All’ das - Elefant, Hund, Igel und die Sternschnuppen habe ich dann nach dem Umzug der Beiden in den Schwarzwald dort wieder getroffen. Irgendwie war Sanne ja auch eine Zauberin, eine Umwandlerin; sie schuf dort gemeinsam mit Wil einen Biotop für jene imaginären Wesen, die sie schon längst in die Welt entlassen hatte - sie schuf einen Garten, in dem sich das alles in beziehungsreicher Ordnung tummeln durfte; Teile, die hier zusehends reicher und voller wurden und schließlich ein Ganzes bildeten - eine große Erzählung und ein großes Gemälde zugleich: die Erzählung des Gartens, der sich selbst erzählte und ein in der Tat irdenes Gefäß darstellte für das von Sannes Hand besetzte - dort stand der Elefant, da bellte der Zeichnungs-Hund, hier hustete der Igel, dort lasen sich die Texte; ein leuchtendes, im Gefolge des jahreszeitlichen Wechsels in steter Veränderung begriffen, aber mit Zauberhand auf die Erde geholtes Sternschnuppenbild.

An das alles möchte ich mich immer wieder erinnern und Sanne den Platz geben, den sie dafür braucht.

Ebstorf, 25.5.98