Claus Henneberg | Neapel sehen Vergessenheit - 0 Wie ein glücklich Segel
Bin ich vorn Ufer los.
Friedrich Hölderlin, Der Tod des Empedokles III
Am Bacino Beverello nahm Forster die Fähre. Langsam glitt sie zum Hafen hinaus. vorüber am Castell dell'Ovo.

Zurückblieb Neapel, die schmutzigste Stadt der Welt, ein Fladen Kot und Ärgernis, eine heiße Pizza, und die Sardellen mit Oliven, mit denen sie belegt war, waren natürlich die Kirchen. Zurückblieb der Vesuv.

Forster hatte ihn in Sandalen erstiegen und sich die Füße dabei wundgerissen. Er war ein Stück weit um den Kraterrand gegangen und in der Sonnenglut zu einer schilfgedeckten Hütte qekommen, von der aus er bis nach Sorrent schauen konnte. Es erstaunte ihn, daß es hier ein weltweit bekanntes nordamerikanisches Getränk gab. Er hatte die Spuren der Schiffe gesehen, die sich mühsam in das tiefe Blau des Meeres schnitten. Und er hatte die Kippe einer Zigarette in den Schlund des Kraters geworfen, ohne daß etwas anderes geschah, als ihr schwereloses, lautloses und folgenloses Verschwinden.

Das Schiff fuhr nahe an Procida vorüber. Forster erwog, wo er auf Ischia aussteigen sollte, in Ponte, in Porto, er wußte es nicht. So blieb er bis zur vorletzten Dampferstation sitzen. In Porto angelangt, rettete er sich vor einer Horde von Gepäckträgern in ein Cafe. Dann suchte er sich ein Zimmer und fand eines in einer Villa, die hoch über dem Meer lag. Sie war von reifenden Zitronenbäumen umgeben. Er kleidete sich um und stieg wieder hinunter auf die Piazza, wo er eine in die Mauer der Pharmazie eingelassene Tafel für Henrico Ibsen entdeckte, der somit zum Italiener geworden war, - der schnurrbärtiqe Capitano, dessen Taten daneben verherrlicht wurden, war schon einer. Deutsche machten Miene, sich mit Förster zu unterhalten. Angestrengt beobachtete er einen fliegenden Händler, der seine Ware in einem aufgespannten Regenschirm feilbot, das Eintreffen und Abfahren der Kaleschen an ihrem Standplatz und staunte über die phantastische Geschwindigkeit, mit der ein von federgeschmückten Gäulen aufs Plaster geschleuderter Passant von einem Glas Cognac wieder aufgerichtet wurde.

Die Tage vergingen. Forster durchwanderte die Insel, badete nie, besah sich den Vollmond, der hinter einem Pinienwald aufging, stieß auf die Reste eines Aquädukts, floh vor dem Zikadengezirp zerlumpter Kinder, die um Sigarette und Chewing-gum bettelten, und erschrak über einen Schwachsinnigen, der vor einem Bakschisch aus seiner Hand mit verdrehten Augen Reißaus nahm. Als es regnete, hockte Forster im Innern eines Cafes zwischen ineinandergeschobenen Korbsesseln, bis ihm vom Geruch der fliegenumschwirrten Dolce schlecht wurde.

Am 21. Tag, als er sich an den von Regengüssen zerklüfteten Lavawänden sattgesehen hatte, das Fest zu Ehren des von Lirascheinen schuppigen (oder gefiederten?) San Gennario zu Ende gegangen, die vom Festland herübergekommene Kapelle nicht mehr ,,Le Cid" spielte und auch das Feuerwerk mit großem Getöse verpufft war, fuhr Förster von der Insel Henrico Ibsens nach Neapel zurück. Er sah sie hinter sich im Meer versinken, das sich gleichgültig und blau zwischen ihn und sie schob, bemerkte Procida - diesmal zur Linken -, näherte sich der im Glutofen backenden Pizza, ließ seine Blicke von der langweiligen Kuppel des Doms über eine Reihe schwenkender Kräne zum Gipfel des Vesuvs schweifen, der seinen Rauchschirm aufzuspannen vergessen hatte, und wußte, als er am Bacino Beverello ausstieg und sich durch eine Horde von Gepäckträgern schlug, daß es ihn schwerelos, lautlos und folgenlos einen Abgrund entgegenriß, in dem das Gedächtnis erlischt und alles Erinnern aufhört.