1. Sprecher:
Neben dem öffentlichen literarischen Leben hat es in den letzten zehn Jahren ein anderes, das beinahe unter Ausschluß der Öffentlichkeit und unbemerkt von der Masse der Leser sich abspielte, gegeben. Junge, literarisch interessierte Leute schlossen sich zu Gruppen zusammen und versuchten, eine neue, teils formal, teils thematisch gerichtete Dichtung, vor allem aber Lyrik, zu propagieren. Fast jede Gruppe gründete kurzlebige Zeitschriften für junge Dichtung oder moderne Kunst. So gab es in Frankfurt die KONTUREN von Hans Bender und META von K.O.Götz, in Freiburg die FRAGMENTE, in Heidelberg die PROFILE. in Hamburg die hektographierten Finistenblätter ZWISCHEN DEN KRIEGEN, in Österreich ALPHA und PUBLIKATIONEN, und so gibt es in Darmstadt DAS NEUE FORUM und in St. Gallen HORTULUS.
Eine dieser Zeitschriften. vielleicht die kurzlebigste von allen, war der 1952/53 von Claus Henneberg in München herausgegebene OPHIR, der praktisch eine Ein-Mann-Zeitschrift war. Unter verschiedenen Pseudonyrnen veröffentlichte Henneberg Prosa, Gedichte und essayistische Arbeiten. Was er an Arbeiten von Freunden mit dazunahm, war zahlenmäßig in der Minderzahl und fiel nicht so sehr ins Gewicht.
Wir haben hier den in Deutschland verhältnismäßig seltenen Fall, daß ein Autor seine Arbeiten selbst publiziert. Die Ansätze der literarischen Produktion Hennebergs sind nur in dieser von ihm selbst gegründeten und redigierten Zeitschrift zu finden. Nehmen wir als Beispiel ein Prosagedicht, das den Titel "Vor Bildern" hat.
2. Sprecher:
"eine wolke dreht sich um
zeigt die rückseite, und stellt sich schließlich auf die runde
spitze.
zwei weisse striche singen
erregt über die wolke hinweg und kreuzen sich schmerzhaft im oberen
drittel.
ein olivgrüner verwirrt
sich hin- und herschießend und zeigt anlagen zu verschiedenen buchstaben,
einem K vielleicht, einem N, oder einem W.
dann ist noch da etwas sehr
ängstliches. schwarzes. dünnes; etwas ganz kleines rundes rotes
und ein selbständiges violettes stück geneigtes.
nicht zu vergessen ein allen
unvergeßliches blau."
1. Sprecher:
Was an diesem Stück als erstes auffällt, ist. daß es gleichsam keinen Inhalt hat. Geometrische Vorstellungen, Farbbezeichnungen und Empfindungsabstrakta werden zu einem durchaus reizvollen Ganzen zusammengefügt. Die Methode besteht vor allem in der Koppelung von abstrakt-geometrischen Vorstellungen mit gemütsbetonten Adjektiven und Verben, das heißt sie besteht in einem Zusammenbringen zweier, im normalen Sprachbereich unvereinbarer Bedeutungsebenen. Es gibt dabei keine Hintergründigkeit. Syntaktisch ist das Stück plane Beschreibung. Es lebt ganz aus seinem sprachkoloristischen Reiz.
Claus Henneberg wurde 1928 in Hof geboren. Seit dem Studium in München lebt er heute wieder auf dem Lande in der Nähe von Hof. Seit längerer Zeit arbeitet er an einem größeren Zyklus von Gedichten, die in Form und sprachlicher Manier an die "Cantos" von Ezra Pound erinnern.
Dieser Zyklus, der den etwas mysteriösen Titel HISSARLIK trägt, stellt die eigentliche, eigenständige Leistung Hennebergs dar. Er ist bis heute auf 31 Gedichte angewachsen, denen 7 programmatische Thesen vorangestellt sind. Sie fassen vor allem die methodischen Forderungen zusammen, die Henneberg für wichtig hält. Sie proklamieren eine größtmögliche Freiheit in der Verwendung sprachlicher Kittel, wie sie teils von ihm selbst erarbeitet, teils aus dem Werk Ezra Pounds von ihm übernommen wurden. So etwa das Abgehen von der syntaktischen Logik, die musikalische Anordnung freier Sprachteile, den Wechsel innerhalb verschiedener Bedeutungsebenen oder die Verwendung vor allem griechischer und lateinischer Zitate.
Diese Freiheit bei der Verwendung sprachlicher Mittel soll es ermöglichen, einen einheitlichen, quasi synthetischen Sprachraum zu schaffen, in dem Außen und Innen gleichzeitig zusammengefaßt werden können. Der von Henneberg angestrebte Sprachraum ist natürlich eine dichterische Fiktion, aber es entspricht einer neuen, unserer Zeit angemessenen Erfahrungsweise, die aus einem unauflöslichen Miteinander von Eindrucks-Ausdrucks- und Reflektionselementen von Sprach- und Dingwelt besteht. Die Sprache des Gedichts soll, so fordert der Dichter, zu etwas durch und durch objektivem werden, das kraft dieser Objektivität in der Lage ist, eine neue, quasi anonyme Subjektivität auszudrücken.
Wie wird nun dieses Programm bei Henneberg realisiert? Hören wir das dreiundzwanzigste Gedicht des Zyklus, das durchaus programmatischen Charakter hat.
2. Sprecher:
"oder der lärche trieb,
hellgrün
der fichte
das wimmern des kinds
im geschonten. mitten in
holz
dem maule des viehs
anrufungen backchos
besonders des lösers,
wollustvermehrers
beidgeboren
dem schoß/schenkel
der frau
und des kuretenbewachten
kretischen zeus, jakchos
mit trommeln
am tage der niederkunft,
geschwollener wade
vom rasenspiel, dem laufen
hinter dem ball
rasch in geschwindigkeit
die füße der
beiden, borstig
gebar der vater den sohn
ein eirundes leder
und lederbeheimt auch die
helden
zusammenschau, wie sie auch
james, des halberblindeten
hinter den beerenartigen
auswüchsen seiner gläser
glaskrebs, cancer
(of tropic)
die gabe der weissagung
verhältnismäßig
fortschreitender erblindung
zuweilen mit geschlechtsverwandlung
verbunden
die ihm erfahrungen einträgt,
bittere wucherungen
im glas
der taktstrenge dichter
von unglaublicher gelenkigkeit
oder der lärche trieb
klados
der zartnadligen fichte,
weich noch
die kinder des walds
zarten knöchlein der
fichte
hellgrüner quirl das
äußerste wagt, waldland
kybeles thron unter brombeeren
kernreich
säen ins ohr
die vielbewanderten vögel
kadenzen
die herstellung einer fortschreitenden,
umfassenden
und artesischen dichtung
des grossen ZUGLEICH
uralter träume, der
kinder von träumen, der
spontaneität
des inneren
übereinanders der schichten
spielenlassen der assoziationen
einer koppel jagdhunde
nach dem unerfahrenen, dem
edlen wild
unserer einfälle
barbarismen, traditionen
von barbarismen
eines scheinbar unmöglichen
unterfangens"
1. Sprecher:
Das Gedicht beginnt mitten im Satz und führt unmittelbar in einen fiktiven Zusammenhang. Es beginnt mit dem Leitbild vom jungen Grün der Lärchen oder Fichten und diese Vorstellung ruft die Erinnerung wach an Neugeborenes überhaupt, an das Wimmern eines Kindes, an Geburt und Geburtswehen. Und diese Vorstellungen wiederum ziehen mythische Reminiszenzen nach sich und all dies mischt sich mit den Wörtern Wollust, Schoß und Schenkel. Hieraus wieder löst sich das Bild des fußballspielenden Jungen ab, gleichzeitig laufen alle Assoziationen in dem Wort Held und dem abschließenden Abstraktum Zusammenschau zusammen. Diese ganze erste Passage erscheint als ein Bündel miteinander verknäulter Vorstellungen, die ihren Sinn eben in dem Wort Zusammenschau erfahren. Die Vorstellung von Zusammenschau wieder wird apostrophiert durch das Bild des halberblindeten James Joyce, wobei vor allem an das Attribut seiner Blindheit wie eines Sehertums, eines durchaus innerlichen Sehertums, nämlich an seine Brillengläser angeknüpft wird. Von diesem Sehertum geht es zurück zum Grün der Lärchen und richten, die wiederum im Bild des Waldes mythische Erinnerungen wachrufen und im Bild des Mutterreichs der Kybele eine neue Ebene für die Vorstellung von Zusammenschau einführen. An diese mittlere Passage, die in zwei Bildern das Thema transparent machen soll, folgen in der letzten Passage die verschiedenen Formulierungen dieses Themas - so die Forderung nach einer artesischen Dichtung, die aus unbekannten, tiefen Quellen entspringend das große ZUGLEICH erschafft.
Mit dieser summarischen Nacherzählung wären etwa Zusammenhang und innere Folgerichtigkeit des Gedichts aufgezeigt soweit das in solcher Kürze überhaupt möglich ist. Der Zusammenhang besteht wesentlich in der Unauflöslichkeit der assoziativ verschränkten Vorstellungskomplexe. Die Übergänge von einer Vorstellung zur anderen werden durch gleitende Anklänge gebildet. Vorstellungen und Bedeutungen stehen im Vordergrund. Der theoretisch-reflektorische Hintergrund dient zur Erläuterung und Untermalung und fällt kompositorisch nicht ins Gewicht. Das sprachliche Material bleibt im Grunde intakt, es gibt kaum Verkürzungen, Reduktionen oder Destruktionen, sondern es werden lediglich Sätze auseinandergenommen und gelegentlich neu gekoppelt. Dies Auseinandernehmen und Neukoppeln dient immer der assoziativen Gleittechnik. Es schafft nicht neue Zusammenhänge, sondern illustriert gleichsam nur die assoziative Bilderflucht. Die freien sprachlichen Möglichkeiten, die immer wieder angegangen werden, sind mehr dekorativ als konstruktiv zu verstehen. Damit aber rückt das Gedicht Hennebergs weit mehr in die Nähe der surrealistischen Praxis als daß es sich in der Nachfolge Pounds bewegt. Zwar fehlen ihm die ausgesprochen irrealen Elemente des Surrealismus, aber dafür hat es mythische und historische Anklänge. Im übrigen bewegt sich die Vorstellungswelt in einem Bereich, der kaum von den typischen poetischen Bildern abweicht. wie sie in Deutschland zuletzt bei George und Hofmannsthal ausgebildet worden sind. Das heißt, die neue dichterische Methode, die Henneberg propagiert und praktiziert, führt nicht, wie man der Theorie zufolge vermuten konnte, zu einer neuen Ausdruckswelt, auch nicht zu einen neuen sprachlichen Erfahrungsraum, sondern ein durchaus geläufiger Vorstellungsbereich wird lediglich anders dekoriert. nie Methode enthält kein kostruktives Element, sondern zielt nur auf Farb- und Klangreize, auf sprachliches Raffinement.
Diese Feststellungen sind durchaus nicht abschätzig gemeint. Sie dienen nur dazu, Klarheit zu schaffen über einen Punkt, der bei dieser Art zu dichten von außerordentlicher Wichtigkeit ist. Daß auch auf die Weise, die Henneberg verfolgt, neue Möglichkeiten gewonnen werden können, steht außer Frage. Nur finden die Veränderungen, die eintreten, nicht in Prinzip, sondern an der Oberfläche statt. Es handelt sich nicht um ein Ausdrucksphänomen, sondern darum, schöne Gedichte zu machen. An die Problematik unserer Zeit rühren Hennebergs Gedichte nicht, sie wollen es offenbar auch garnicht.
Mit welch artistischem Können Henneberg auf seine Weise ein schönes Sprachgebilde von bezaubernd raffinierter Faszination herauszustellen vermag, möge abschließend das achtundzwanzigste Gedicht des Zyklus zeigen, das den Untertitel "für eduard gaede, den sorgenden" trägt. Es zeigt vor allem eine Seite, die bisher nicht berührt worden ist, nämlich das pointierende Doppelspiel zwischen Witz und tieferer Bedeutung.
2. Sprecher:
"vorhaben; vorhaben
aber was
vorhaben?
die blut und luft führenden
adern
pneus, in denen der wind
für bicyclisten
nach hippokrates wenigstens
und anderen radfahrern,
pferdegewaltig
innewohnend an kraft
in der süße
erlegter bienen, in denen
der löwe haut
weinstöcke reihenweis
honig von den locken ungeschorener
helden
von den stirnlocken
ausging. ungeschleudert
die ungeschleuderte schönheit
v o r h a b e n ; schönbitter
barbarischer rhythmen, von
denen zucker träuft
in die schönheit
'unkomponierter objekte
in raum'
1929
das vorliegende; disparat
in der fuge
von den ohren ausging
krausköpfiger geliebter,
von den ohrmuscheln
harz aus den biegungen
ihrer ohren, den rosensträuchern
aufgebrochener löwen"
[Norddeutscher Rundfunk, 3. Programm, 26.5.1957]