Friedrich Glück - so sagt es die "Mühlenchronik" - habe als Pfarrer und Komponist in Schornbach Eichendorffs "Zerbrochenes Ringlein" vertont: In einem kühlem Grunde sozusagen.
Ich wollte das etwas genauer wissen und habe deshalb in Ernst Klusens "Deutsche Lieder. Texte und Melodien" nachgeschlagen und dort gefunden, daß das Lied vor allem durch Silchers Männerchorfassung bekannt geworden sei, daß seine letzten drei Strophen die nervöse Kränklichkeit der modernen Welt ausdrücken, und daß die Vorsteherin eines Mädchenpensionats [...] die dritte Zeile der ersten Strophe [= Mein Liebchen ist verschwunden] in "Mein Onkel ist verschwunden" geändert habe. Das ist ganz lustig; weniger lustig dagegen ein weiterer Eintrag, nach dem die Musik Glücks aus dem Jahre 1814; der Text Eichendorffs dagegen aus dem Jahre 1870 stamme, obwohl Eichendorff bereits 1857 starb. Nun gut: das ist ein Druckfehler. Denn erstmals wurde Eichendorffs Gedicht im Jahre 1815 in seinem Roman "Ahnung und Gegenwart" publiziert.
Die Melodie wäre demnach in jedem Fall vor dem Text, den sie vertont, dagewesen. Wobei das Verhältnis noch avantgardistischer ist im Falle eines zweiten Mühlenliedes, ebenfalls aus dem Ländle, das gleichfalls nach Glücks Tönen gesungen wird: im Falle von Justinus Kerners "Dort unten in der Mühle" aus dem Jahre 1830. In diesem Text bleibt das Mühlrad stehen, nachdem die Sägemühle vier Sargbretter geschnitten hat, während bei Eichendorff lediglich das Liebchen verschwunden ist und der Verfasser als Spielmann in die weite Welt reisen möchte. Eigentlich wäre es angebracht, auch über "Pfisters [...]" und die anderen einschlägigen Mühlen bei Wilhelm Raabe ein paar Vorbemerkungen zu machen. Aber da August Ferdinand Alexander Schnezlers Mühlenromanze auf seine Weise nicht gesungen wurde, komme ich vom avantgardistischen Tonsetzer Glück jetzt endlich zum heute in der Friedrich-Glück-Straße in der alten Mühle ausstellenden Bildkünstler Manfred Kärcher zu sprechen.
Auf der Einladungskarte sind Sie zu der Besichtigung von Reiseskizzen / Fotolithografien / Druckgrafiken eingeladen. In eben dieser Reihenfolge. Auf dem Plakat steht es ein bißchen anders: Foto-Lithografien / Druckgrafiken / Reiseskizzen - was eher der Werkentwicklung Kärchers entspricht, von der vor allem ich sprechen möchte. Genauer, ich möchte von einer Werkentwicklung sprechen, die sich von der Lithografie über die Radierung und ihre Spielformen der Aquatinta und Vernis mou zu den Ölpastellen und Aquarellen der letzten Jahre hinbewegt hat und dabei sogar einiges von der früheren inhaltlichen Radikalität eingebüßt zu haben scheint. Scheint, sage ich, denn die exemplarischen Arbeiten der letzten Jahre deuten anderes an.
Auf den ersten Blick läßt sich das hier in der Mühle versammelte Werk des reiselustigen Kärcher aus den letzten 16 Jahren als gegenständlich und unter dem Thema Landschaft zusammenfassen. Wobei die Ausstellung eine Vielzahl von Landschaften versammelt: aus Norwegen und den USA, aus Wales und der Türkei, aus Spanien, Frankreich und vom Niederrhein. Die Fülle dieses Landschaftsangebots einerseits und die jeweilige Kärchersche Selektion oder auch Kombination von Landschaftsstücken könnte man jetzt benutzen, Manfred Kärcher seinen Platz im aktuellen künstlerischen Umgang mit Landschaft zuzuweisen. Man könnte und müßte dann die Landschaftsauffassung Kärchers von der Ulrich Zehs, der hier ja schon ausstellte, oder Günther C. Kirchbergers unterscheiden.
Ich finde es aber nicht sonderlich
spannend, zu erklären, was jeder mit seinen eigenen Augen selbst sehen
kann (auch bedarf es dazu der einen oder anderen Arbeit zum Vergleich);
ich möchte stattdessen etwas anderes versuchen. Ich möchte erklären,
warum die Entwicklung des Künstlers Kärcher ästhetisch so
spannend ist: für mich jedenfalls. Und dazu beginne ich bei den Arbeiten
der Mappe "Stein" aus dem Jahre 1974.
Diese Steine oder besser Steinformationen
hat Kärcher in der Bretagne gefunden und zunächst fotografiert.
Er hat die Fotos dann zu Hause auf Zinkplatten übertragen und als
Zinklithografie farbig gedruckt. Es handelt sich also nicht um Fotoabzüge
(wie man sie in letzter Zeit in zahlreichen Jubelausstellungen zu Ehren
der Fotografie besichtigen konnte).
Interessant bei Manfred Kärchers "Steinen" ist einmal, daß sie in ihrer zufälligen Form oder dem Formausschnitt ihr eigentlich Materiales immer mehr vergessen machen und dem Betrachter zunehmend Organisches, Körperliches assozieren.
Zweitens: Kärchers 'Modelle' sind nicht nur in der Natur gefunden, sondern sie repräsentieren auch jeweilige Zustände eines natürlichen Entwicklungs- oder Verwitterungsprozesses, Augenblicke, die die Kamera festhält und denen die Fotolithografie ästhetische Dauer verleiht. Wobei sich der gezeigte Gegenstand und seine Präsentation gleichsam tautologisch entsprechen, denn die von Kärcher praktizierte Zinklithografie ist im Grunde nichts weiter als eine Varietät der klassischen Lithografie, eben des Steindrucks.
Ein solches Zusammentreten von Gegenstand und Präsentation, von Stein und Steindruck ist kein Zufall, wenn man die Biographie Kärchers in Anschlag bringt, ist er doch zunächst als Reproduktionsfotograf in Stuttgart ausgebildet und lehrt heute - nach seinem Studium an der Stuttgarter Höheren Grafischen Fachschule - als Dozent für Satz, Druck und Reproduktion an der Fachhochschule Niederrhein in Krefeld. Ein Fach also, das einige ästhetische Probleme einschließt, auf die Walter Benjamin erstmals in seiner "Kleinen Geschichte der Fotografie" (1931) und dem noch berühmteren Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1936) aufmerksam gemacht hat. Benjamins Überlegungen ordnen dabei die Fotografie ein in die Geschichte der Reproduktionstechniken, in der mit der Lithografie zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine grundsätzlich neue Stufe [...] erreicht werde.
Ihr viel bündigeres Verfahren, schreibt Walter Benjamin, das die Auftragung der Zeichnung auf einen Stein von ihrer Kerbung in einen Holzblock oder ihrer Ätzung in eine Kupferplatte unterscheide, habe der Graphik zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben, ihre Erzeugnisse nicht allein massenweise (wie vordem), sondern in täglich neuen Gestaltungen auf den Markt zu bringen. Die Grafik wurde durch die Lithographie befähigt, den Alltag illustrativ zu begleiten. Sie begann, Schritt mit dem Druck zu halten. In diesem Beginnen wurde sie aber schon wenige Jahrzehnte nach der Erfindung des Steindrucks durch die Photographie überflügelt. Mit der Photographie war die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion zum erstenmal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche nunmehr dem ins Objektiv blickenden Auge allein zufielen. Da das Auge schneller erfaßt, als die Hand zeichnet, so wurde der Prozeß bildlicher Reproduktion so ungeheuer beschleunigt, daß er mit dem Sprechen Schritt halten konnte.
Die Degeneration vom Landschaftsbild zum Landschaftsstich (vgl. z.B. die Produktion Habersaats in Kellers "Grünem Heinrich"), von der lithografierten Landschaft zur Illustrierten, dann der Ansichtskarte, dem Ferienfoto und -film (Tante Emma in der Sandburg) illustrieren vortrefflich Benjamins These vom Verkommen des Kunstwerks zur massenhaften Knipserei. (Siehe die vielbelächelten japanischen Touristen, aber nicht nur sie).
Zu dieser Skizze - und deshalb mußte ich sie zitieren - verhält sich Kärchers künstlerische Entwicklung praktisch rückläufig,
1. indem er den Menschen aus seiner Landschaft verbannt (da finden sich weder der Wanderer über dem Nebelmeer noch Reinhold Messmer am Südpol noch Tante Emma auf dem Gipfel der Geschmacklosigkeit).
2. wird Landschaft von Kärcher von Anfang an in Ausschnitt oder Kombination unüblich präsentiert (auch und noch in den späteren Radierungen).
3. greift Kärcher bei der lithografischen Umsetzung seiner Fotos zu einer historisch älteren Reproduktionstechnik und öffnet damit die Perspektive auf einen von Walter Benjamin übersehenen oder nicht weiter beachteten Berührungspunkt zwischen Steindruck und Lichtbild in der Geschichte der Fotografie, auf den kurioser Weise auch keine der letztjährigen Fotojubelausstellungen verwiesen hat. Ich meine Joseph Nicèphore Niepce's Versuche, Lithografien mechanisch herzustellen, seine heliographischen Versuche auf lithografischem Stein, dann auf Metall, Zinn, Zink[!, R.D.] und versilberten Kupferplatten in den Jahren 1816-1826.
Genau an diesem Punkt setzt 1974, also rund 150 Jahre später, Manfred Kärchers Werkentwicklung ein, indem er Fotografie und Lithografie - deren Wege sich nach den Versuchen Niepce's getrennt hatten - wieder miteinander verbindet und so die Entwicklung der Reproduktionstechniken praktisch umkehrt, Fotografie in Grafik rückübersetzt und damit ästhetisch produktiv macht was im allgemeinen reproduktiv gebraucht wird.
Wie konsequent Manfred Kärchers damaliger Schritt war, zeigt nun die heutige Ausstellung. Zunächst mit Arbeiten nach 1985, die lithografisch umgesetztes Fotofragment mit fast tachistisch anmutenden Farbflächen und Farbflecken, Realitätszitat und ästhetische Realität verbinden. Interessant dabei ist, daß es auch bei diesen Lithografien noch der Stein ist, der Manfred Kärcher als Gegenstand interessiert. Allerdings nicht der von der Natur geformte, sondern der von Menschenhand gestaltete, nicht Landschaft sondern Architektur. Daß auch diese - wenn auch nicht der natürlichen, so doch der zivilisatorischen Erosion ausgesetzt ist, wird im fragmentarischen Zitat deutlich, das zugleich etwas von der Melancholie ablesen läßt, die vielen Arbeiten Kärchers durchaus eigen sein kann.
Manfred Kärcher hat sich in den letzten Jahren, und er hat damit Benjamins Theorie von der "Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit" praktisch auf den Kopf gestellt, aber um noch ältere Drucktechniken, um Vernis mou, Aquatinta und Radierung bemüht, wobei er seinem Thema Landschaft treu blieb, ihm aber immer jeweils neue Ansichten abgewann.
Technisch gesprochen - also in der Geschichte der Radierung - wären wir damit im frühen 16. Jahrhundert angekommen, wo der in Kaufbeuren geborene spätere Augsburger Bürger Daniel Hopfer erstmals das Ätzverfahren auf die Druckgraphik übertrug. Und auch für die letztjährigen Aquarelle Kärchers müßten wir, wollten wir die Geschichte des Aquarells in Anschlag bringen, über seine Hochblüte im 18. Jahrhundert zurück bis Dürer gehen, der seinerzeit - völlig alleinstehend - zum Vorläufer des Landschaftsaquarells und seiner Entwicklung bis zur Gegenwart wurde. Dürer war ein Zeitgenosse Hopfers oder umgekehrt.
Das heißt - um damit auch zum Ende zu kommen - Manfred Kärcher hat auf seinem künstlerischen Krebsgang (ich meine Krebs hier im Sinne Schönbergs) dorthin bewegt, wo Benjamin für das Kunstwerk, dem Kunstwerk noch eine Aura attestierte, der es auf dem Wege seiner immer verbesserten technischen Reproduzierbarkeit verlustig ging. Daß dies kein künstlerischer Rück- sondern Fortschritt ist, bei dem Kärcher jede neu aufgegriffene Technik sich erst erarbeiten, also auch Lehrgeld zahlen mußte, belegt die heutige Ausstellung ebenso wie sie in ihren besten Beispielen, z.B. den Radierungen "Göreme" und "Erin II", den Aquatinten "Wolken I, II, III" oder dem Aquarell "Montherme III", aber auch anderen zugleich zeigt, wie schnell es Kärcher inzwischen gelingt, sich eine neu aufgegriffene Technik für seine Intentionen, die gelegentlich melancholischen Landschaftsausschnitte und -einsichten verfügbar zu machen. Dann aber ist seine Handschrift unverwechselbar in einem Wechselspiel von sinnlicher Wahrnehmung und ästhetischer Abstraktion.
[Schornbach-Schorndorf, Galerie in der Mühle, 18.3.1990]