Man sieht mit einem Blick, daß der Apparat nur ein Durchgang ist, der lediglich hilft, das zu zeigen, was gezeigt werden soll - pointierte Helmut Heißenbüttel 1965 an dieser Stelle (Foto Prisma, Heft 10, Oktober 1965) in einem Aufsatz über "Detlef Orlopp und die Fotografie", in dem er unter anderem auf die Schwierigkeiten aufmerksam machte, heute, nach 130 Jahren Fotografie, das besondere an den Bildern eines Fotografen festzustellen.
Die Frage Heißenbüttels, wie man die die thematischen und die formalen Kriterien eines Fotografie korrekt bestimmen könne, ist vier Jahre später um nichts leichter zu beantworten; um so weniger, als es sich in unserem Fall nicht einmal mehr um die Beschreibung von Fotos eines Fotografen handelt, vielmehr um die Beschreibung von je zwei Fotos von fünf Fotografen, Schülerarbeiten gewissermaßen, die unter Anleitung Detlef Orlopps, mit einer Ausnahme an der Werkkunstschule in Krefeld entstanden sind.
Auf den ersten Blick könnten allerdings - bei gewissen Unterschieden der technischen Handhabung - die zehn abgebildeten Arbeiten durchaus von einem Fotografen stammen, und das nicht nur, weil sie von Sujet her nahe beieinander liegen. Auf der anderen Seite lassen sich gerade an ihnen Probleme aufzeigen, die allgemein für die moderne Kunst gelten, um so mehr, als man bei den abgebildeten Arbeiten kaum noch von einer 'Schule', und das ist in vielen Fällen ja gleichbedeutend mit jeweils individuell ausgeprägtem Stil, wird sprechen können.
Thematisch lassen sich die abgebildeten Arbeiten dabei leicht zusammenfassen als Abbildungen von alltäglichen Gegenständen: Schrauben, Reißnägeln, Federn, Bierdosen, Glaskugeln. Diese Gegenstände treten vervielfältigt in überraschenden Anordnungen auf, werden also nicht in einem Zustand gezeigt, der etwas über ihre eigentliche Funktion aussagt. Sie sind vielmehr in den von ihrem jeweiligen Fotografen vorher getroffenen Anordnungen gleichsam ihrer alltäglichen Funktion entfremdet.
John Anthony Twaites hat 1964 darauf aufmerksam gemacht, daß alte Themen der Kunst, die in den letzten zwanzig Jahren für die Malerei unmöglich wurden - Portrait, Landschaft, Stilleben etc. - für die Fotografie (vorerst) noch offen geblieben sind. Wenn wir diesen Hinweis Twaites', über den sich diskutieren ließe, einmal als richtig unterstellen, hätte man es bei den abgebildeten Arbeiten gewissermaßen mit 'Stilleben' zu tun, die im oben angeführten Sinne zu charakterisieren wären als überraschende Anordnung alltäglicher Gegenstände. Bezeichnend für diese 'Stilleben' wäre dann
1. daß auf keinem der Fotos verschiedenartige Gegenstände miteinander kombiniert, daß vielmehr ein und derselbe Gegenstand gleichsam mit sich selbst multipliziert ist, wobei 2. - was bei je zwei Fotos ein und desselben Fotografen sehr schön ersichtlich wird - jede Anordnung jeweils nur einen zufälligen Kompositionswert hat, d.h. weitere Möglichkeiten der Anordnung denkbar sind und angedeutet werden, von denen dann hier gleichsam in Auswahl zwei mögliche Anordnungen vorgestellt würden.
Im Kontext der abgebildeten Arbeiten wären darüber hinaus weitere Anordnungen ähnlicher banaler Gegenstände denkbar. Man könnte etwa an Korken, Bierdeckel, Flaschen denken oder an ein vergleichbares Foto Orlopps, das Kronenverschlüsse abbildet - so daß die abgebildeten Arbeiten nicht nur stellvertretend für eine Vielzahl der Anordnungsmöglichkeiten ein- und desselben Gegenstandes stehen, sondern ganz allgemein auch stellvertretend für eine Vielzahl von Möglichkeiten, alltägliche Gegenstände wie auch immer in einer uneigentlichen Anordnung ihrer eigentlichen Funktion zu entziehen und gleichsam in ein zweckentfremdetes 'Stilleben' zu überführen.
Der Schluß ist naheliegend, dann sogar von einem Modellcharakter der Fotos zu sprechen, von Vorschlägen, die jeder, der mit einer Kamera umgeht, auf seine eigene Weise aufgreifen und fortführen kann. Wenn wir in diesem Zusammenhang von überraschenden Anforderungen sprechen, spielen wir bewußt auf eine moderne Ästhetik an, die - gegensätzlich zur physikalischen Ordnung - unter ästhetischer Ordnung die überraschende Verteilung in der inhaltlichen und formalen Dimension des Bildes versteht.
So gesehen liegt bei den abgebildeten Arbeiten über die Absicht der Abbildung hinaus der bewußte Versuch vor, ästhetische Ordnungen herzustellen und mit ihnen gleichsam das ästhetische Negativ einer alltäglichen Wirklichkeit zu geben. Hinzu kommt, daß die multiziplierte Abbildung eines banalen Gegenstandes - etwa der Schraube, des Reißnagels - den Betrachter auffordert, genauer hinzusehen und auf diesem Wege bisher kaum beachtete formale Eigenschaften des abgebildeten Gegenstandes sich bewußt zu machen, etwa die Eigenschaft der Windung, die - ihrer Funktion des Hineindrehens entfremdet - überraschend eine ästhetische Qualität sichtbar macht, die am einzelnen Gegenstand ebenso wie in der Korrespondenz der abgebildeten Gegenstände ästhetisch Verschiedenes leistet.
(Kritisch wäre zugleich einzuschränken, daß zum Beispiel ein 'Stilleben' mit Reißnägeln den Bildgegenstand Reißnagel zwar seiner Funktion entziehen, nicht aber in einen ihm fremden Assoziationsraum überführen sollte, etwa durch eine mögliche Assoziation an eine mit Pilzen überschwemmte Wiese.)
Darüber hinaus deuten ein Teil der abgebildeten Arbeiten an, wie fließend die Übergänge von einer zweckfreien zu einer zweckgebundenen Fotografie sein können. So sind die leeren Bierdosen bei leicht veränderter Anordnung, aber auch schon in der vorgeschlagenen Ordnung durchaus für Werbezwecke verwendbar. Diese fließenden Übergänge entsprechen in etwa den fließenden Übergängen z.B. zwischen zweckfreier konstruktivistischer Kunst und Designobjekt. Das kommt wohl nicht zuletzt daher, daß die von den Fotografen vorgeschlagenen Ordnungen mit Ordnungen korrespondieren, die wir aus der konstruktivistischen Kunst kennen (ähnlich entsprechend die vorgeschlagenen Ordnungen der Federfotos gewissen Ordnungsstrukturen tachistischer Bilder).
Was die abgebildeten Arbeiten dabei nicht nur in ihrem Modellcharakter (der ja für weite Gebiete der zeitgenössischen Kunst gleicherweise zu beobachten ist) dennoch von vergleichsweise ähnlichen Gebilden der zeitgenössischen Kunst letztlich unterscheidet, ist ihre grundsätzliche technische Reproduzierbarkeit, auf deren Bedeutung und Rolle Walter Benjamin in seinem grundlegenden Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" hingewiesen hat.
Und noch ein letztes kann zu den abgebildeten Arbeiten gesagt werden. Kurt Schwitters hat in seiner oft mißverstandenen i-Theorie für eine Situation, die der des Fotografen auf merkwürdige Weise entspricht, festgehalten: daß der Künstler erkenne, daß in der ihn umgebenden Welt der Erscheinungsformen irgendeine Einzelheit nur begrenzt und nur aus ihrem Zusammenhang gerissen zu werden brauche, damit ein Kunstwerk entsteht, d.h. ein Rhythmus, der auch von anderen künstlerisch denkenden Menschen als Kunstwerk empfunden werden kann. Aber - schränkt Schwitters ein - die Welt der Erscheinungen wehre sich dagegen, Kunst zu sein, und man finde selten, wo man nur zugreifen brauche, um ein Kunstwerk zu erhalten. Der Bezug dieses auszugsweisen Zitates auf die abgebildeten Arbeiten, die man ja auch als Abbildung multiziplierter objets trouvés auffassen könnte, ist leicht herzustellen und braucht entsprechend nicht weiter erörtert zu werden.
So scheint uns - unter den skizzierten Voraussetzungen - jetzt deutlich zu sein, was sich mit Sicherheit über die abgebildeten Arbeiten sagen läßt: daß man es nämlich bei ihnen in erster Linie mit Modellen zu tun hat, mit Vorschlägen, deren Originalität nicht in der Realisation (wir denken hier etwa an Fotografien in der Tradition der Man Rays, Bill Brandts, Rolf Schröters u.v.a.m.), sondern vor ihr in der 'Erfindung' liegt, d.h. in dem allen Arbeiten gemeinsam zugrunde liegenden Akt der Überführung eines alltäglichen, banalen Gegenstandes durch manipulierte Anhäufung dieses Gegenstandes in eine überraschende Ordnung.
Was dabei herauskommen kann und in den abgebildeten Arbeiten deutlich sichtbar wird, sind Ordnungsvorschläge, mögliche ästhetische Muster. Das Individuelle des Fotografen ist kaum noch sichtbar in der Wahl des Gegenstandes, ein wenig deutlicher in der vorgeschlagenen Ordnung, in der er diesen Gegenstand in seiner Mehrzahl abbildet und damit zeigt.
Die hier abgebildeten Arbeiten haben - könnte man vielleicht abschließend pointieren - sicherlich auch bedingt durch die Umstände, unter denen sie entstanden sind, dennoch einen für einen Teil der gegenwärtigen Fotografie allgemein interessanten stellvertretenden Charakter; nicht mehr, aber auch nicht weniger.
[Foto Prisma, H. 11, 1969]