Frageboden. Der Autor, Künstler und Wissenschaftler Reinhard Döhl über lange Linien in der Literatur- und Kunstgeschichte, über das Verhältnis von Fragen und Antworten und 11 von 13 Wagneropern. Interview mit Jürg Halter in: art.21. zeitdruck.

1. Reinhard Döhl, erzählen sie von ihren gestalterischen und literarischen Anfängen.

angefangen hat's mit photographie und dem vergeblichen versuch, damit an der hamburger kunstakademie angenommen zu werden. es folgen versuche, in der literatur tendenz und experiment zu verbinden (der 1959 veröffentlichten textcollage "missa profana" folgte ein gotteslästerungsprozeß mit freispruch von dem bundesgericht). 1959 entstehen unter dem eindruck der 2. documenta erste collagen, dann druckgrafik, später auch bilder. damals wurde ich von max bense nach stuttgart eingeladen und fühle mich in wechselnden konstellationen der stuttgarter gruppe/schule zugehörig.

2. Zur Motivation Kunst zu schaffen : ist das am Anfang ein Hoffnungsüberschuss und gegen Schluss ein Alternativenmangel ?

in meinem fall war es oft opposition (z.b. im fall der photographie), neugier und experimentierlust (was passiert, wenn...) und in der wurzel fragen, auf die ich eine antwort bekommen wollte, wobei die antworten oft nur neue fragen waren. (ich darf mich und wilhelm raabe zitieren: "aesthetica in nuce / die welträtselnuß war es noch nicht / aber immerhin es wird weitergeknackt"). wobei sich, wenn der wissenschaftler nicht weiterwußte, der künstler/autor (gelegentlich auch musiker) mit seinen mitteln versuchte und weiter oder anders fragte, vice versa. In diesem sinne kann ich über "alternativenmangel" bisher nicht klagen, wohl aber über zeitmangel.

3. Wie verändert die Erfahrung das eigene Kunstschaffen. Sind ihnen Entwicklungen in ihrem Kunstschaffen bewusst oder werden sie von aussen auf diese aufmerksam gemacht ?

das sind zwei fragen.
frage 1: selbstverständlich verändert erfahrung das eigene kunstschaffen aber auch den blick auf anderes, das verständnis von fremdem kunstschaffen (historisch wie aktuell).
frage 2: natürlich wird man von außen - z.b. von der kritik - auf entwicklungen oder vermeintliche entwicklungen aufmerksam gemacht. kritiken interessieren mich dabei wenig, wohl aber der dialog unter freunden, wie ich ihn unter 6 zu skizzieren versuche.

4. Haben sie ein Motiv, das sie immer wieder beschäftigt ?

wenn ich der literatur über mich glauben darf, sind "portrait, stadt, landschaft, kreuz, lampe, strukturen und kalligraphisches" solche motive. ich würde lieber sagen, daß es allenfalls ein movens gibt, das bescheidwissenwollen, was dann zu fragen führt, auf ich manchmal eine antwort finde, die oft wieder nur eine frage ist (habe ich oben aber schon gesagt; aber vielleicht kann ich es auch so sagen: was mich zunehmend irritiert, ist, daß überall die antworten schon herumliegen, daß man antworten gibt, bevor die fragen gestellt sind. Ich halte, wenn das denn ein motiv ist, die frage, das frage- und infragestellen für ungeheuer wichtig.)

5. Sie sind Wissenschaftler, Autor und Künstler zugleich. Können sie das theoretische Schaffen vom künstlerischen Schaffen abgrenzen, ist das überhaupt nötig ?

die theorienproduktion der letzten zeit und ihr überschuß in den geisteswissenschaften interessiert mich wenig. dient wissenschaftliches fragen dagegen der aufklärung historischer zusammenhänge, die mich möglichweise als eigene vorgeschichte berühren, kann ich durch diese fragen nach der genese z.b. einer akustischen und visuellen kunst für mich etwas lernen, dann berühren sich die interessen von autor und wissenschaftler sehr wohl. vielleicht kann ich für mich antworten, daß der autor/künstler/wissenschaftler oft dieselben oder benachbarte fragen mit jeweils anderen mitteln stellt, wobei er immer dann, wenn einer von den dreien mit seinem fragen nicht weiterkommt, dem anderen das fragen überläßt.

6. Sie arbeiten und arbeiteten alleine und mit verschiedenen Künstler zusammen. Kann zusammen Kunst geschaffen werden ? Ist das nicht nur ein Zusammenfügen von Kunst ? Gibt es eine gemeinsame Inspiration ?

künstlerisches (auch wissenschaftliches) zusammenarbeiten setzt die bereitschaft zum dialog voraus, und hier sehe ich im 20. jahrhunderts eine deutliche tendenz zu dialogischer kunst, die dann durchaus zu gemeinschaftsarbeiten führen kann. So haben z.b. braque und picasso in der heroischen phase des kubismus in ihren bildern einen regelrechten dialog geführt. eine zwischenstufe zwischen dialogischer kunst und gemeinschaftsarbeit stellt die japanische renga-, renku-, renshi-tradition vor, die seit einiger zeit auch europäische ausformungen findet in form von poetischen korrepondenzen, die auch das internet nutzen (als stuttgarter beispiele letzter zeit nenne ich klaus schneiders "kettenmails aus der badewanne" oder das internationale "poemchess"). im übergang zum bildkünstlerischen bereich wäre wohl die auch in stuttgart praktizierte mail art zu nennen. gemeinschaftsarbeiten gibt es im umfeld der stuttgarter gruppe im bereich des hörspiels oder z.b. bei meinem und ludwig harigs versuch, 11 von 13 wagneropern zu über- und verarbeiten. im und für das internet arbeiten vor allem johannes auer und ich in letzter zeit häufiger einvernehmlich zusammen. (gleiches gilt für gemeinsame ausstellungen und/oder sonstige auftritte).

7. Welches sind die Möglichkeiten der Kunst gegenüber den Möglichkeiten der Literatur und umgekehrt ?

das ist, nachdem lessings trennung der künste im "laokoon" durch eine zunahme an doppelbegabungen, die genie-dilletantismus-diskussion und die entwicklung neuer medien so nicht mehr möglich ist, schwer zu beantworten. da man sich aber zunehmend der "mittel" bewußt wird, könnte man sagen, das es antworten gibt, die ein bild so und nicht anders geben kann, während der text sie so nicht, aber anders geben müßte vice versa, was natürlich für alle anderen artikulationsmöglichkeiten, den film z.b., den akustischen text an der grenze zur musik oder die musik an der grenze zur akustischen kunst gleichermaßen gilt.

8. Sie haben sich in ihrem theoretischen Schaffen u.a. mit der akustischen Poesie beschäftigt. Was hat die akustische Poesie heute für eine Stellung ?

nachdem die erfindung des buchdrucks der literatur zunehmend die mündlichkeit ausgetrieben hatte und zu einer stummen buch- und leseliteratur werden ließ, haben die neuen medien (photographie, film, radio und jetzt auch das internet) der literatur zu einer neuen mündlichkeit und bildlichkeit verholfen, zu ihrer visualisierung zwischen schrift und bild, oder in einem größeren spielfeld zwischen text und musik. wobei akustische poesie für mich eine poesie ist, die, noch text, der akustischen realisation bedarf, um zu gelingen. allerdings ist das ein (zu) weites feld zwischen dem hörspiel auf der einen seite, allen spielformen, mit denen mündlich agierende autoren in letzter zeit experimentiert haben bis zu reinen textpartituren auf der anderen seite, deren realisation bereits nurmehr akustische kunst (musik) ist. neuerdings scheint mir das internet möglichkeiten einer verbindung von visualisierung und verlautbarung von text zu bieten.

9. ...Dadaismus, Konkrete Poesie, Internetkunst/-literatur..., eine Entwicklung. Wie sehen sie diese Entwicklung ?

die kunstrevolution, der der dadaismus als ein ismus zuzurechnen wäre, hatte zunächst damit zu tun, eingefahrene und damit unproduktiv gewordene kunstproduktion und entsprechend die erwartungen an, das verständnis von kunst in frage zu stellen und an ihrer stelle etwas neues aufzubauen. das ist unterschiedlich erfolgreich geglückt. eine tradition, die sich seither ausgebildet hat, ist die tradition einer konkreten poesie in ihren visuellen aber auch akustischen spielformen, die mit gomringers "konstellationen" ihren zenit bereits überschritten hat, weshalb die stuttgarter versuche mit konkret-visueller kunst bereits darüber hinaus zu kommen versuchten. wobei in stuttgart speziell der versuch hinzukommt, rechenmaschinen vom typ zuse z 22, später dem computer das dichten, zeichnen, komponieren beizubringen. historisch sollte man nicht vergessen, daß arp bereits für die "klänge" kandinskys das etikett "konkret" reklamierte. wenn man heute im internet hier eine tradition sieht, ist das nur in einem weiteren verständnis einer konkret-visuellen poesie möglich, wobei bei hypertexten, auch wenn ihre autor/inn/en es nicht wissen oder wahr haben wollen, die viel weiter zurückreichende zettelkastenpoesie (von lichtenberg, jean paul, novalis bis zu arno schmidt) eine noch nicht genügend bedachte traditionslinie bildet.

10. Multimediakunst. Führt die Vermischung der verschiedenen Medien nicht zur Ungenauigkeit, zur Beliebigkeit,?

wenn die einzelnen beiträge, die eingesetzten medien nicht einfach und beliebig zusammengeschustert sind, wie dies heute leider meist der fall ist, könnte multimediakunst zu einem neuen gesamtkunstwerk führen, bei dem die beteiligten medien dann untereinander eine dienende aber auch eine die jeweils beschränkten möglichkeiten des einzelnen mediums erweiternde funktion hätten. Grundsätzlich gilt wohl, daß die künste, nachdem sie ihrer ursprünglicher aufgabe, der feier des mythos mit allen zur verfügung stehenden möglichkeiten, verlustig gegangen waren und sich vereinzelt hatten, in intermittierenden schüben immer wieder einander angenähert haben oder zu vereinigen versuchten (die oper wäre so ein beispiel). in meinem verständnis haben wir es seit der kulturrevolution wieder einmal mit einem solchen intermittierenden schub zu tun und ich kann mir eine recht verstandene und praktizierte multimediakunst durchaus als solch ein alle aktuellen kunstarten bündelndes ziel vorstellen

11. Stimmt es, das es keine Avantgarde mehr gibt ?

stimmt! von der ursprünglichen wortbedeutung einmal ganz abgesehen, hatten wir es um und nach 1900 mit notwendigen avantgarden zu tun (zu denen es im ausgehenden 18. jahrhundert bereits so etwas wie eine avant-avantgarde gab). sie nahmen, um mich hier der vorstellungswelt des englischen kunsthistorikers und -kritikers lawrence alloway zu bedienen, das neuland in besitz, auf dem die künstler nunmehr schon fast hundert jahre mehr oder weniger erfolgreich "colonization" betreiben oder bereits - und das ist die dritte stufe im alloways modell - in der epigonalität angekommen sind.

12. Thema dieser Ausgabe von art.21-zeitdruck ist "Abstand". Was ist Abstand ?

abstand ist für mich das, was man von dummheit, politikern (hier augenblicklich insbesondere von herrn bush) und, wenn man kein arzt ist, auch von infektionsherden (die kunst ausgenommen) halten sollte. aber auch von freunden, um sie nicht zu verletzten oder zu belästigen. was nicht ausschließt, daß man sich manchmal heftig einmischen muß.

13. Herr Döhl, wollen sie noch etwas sagen ?

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[art.21. zeitdruck. Ausgabe 6, Abstand, März 2002]