Reinhard Döhl | BioBibliograffiti | Pro domo | Interviews
"Im Internet sind wir erst am Anfang"

Der Stuttgarter Literaturprofessor und Netzkünstler Reinhard Döhl über Literatur im weltweiten Datennetz.
Gespräch mit  Christine Dreher für den Reutlinger General-Anzeiger (März 2002)

Herr Professor Dr. Doehl, wenn man so will, tanzen Sie auf zwei Hochzeiten: Als Literaturwissenschaftler begleiten Sie die Entwicklung der Literatur im Internet aus theoretischer Perspektive, als praktizierender Künstler tragen Sie selbst zu dieser Entwicklung bei. Was macht für Sie den Reiz diese Mediums aus? Wie lange beschäftigen Sie sich schon mit diesen literarischen Spielarten?

ich bin für "neuere deutsche literatur unter besonderer berücksichtigung der medien" habilitiert. die medien, vor allem die neuen (fotografie, film, funk und jetzt eben das internet) gehören also zu meinem forschungsgebiet. und mit ausnahme des films habe ich mich mit diesen medien gleichzeitig stets produktiv und reproduktiv befasst. so, wie es nebeneinander eigene fotografische versuche und arbeiten zur fotografie, hörspiele und radioessays zur hörspielgeschichte und -theorie gibt, gibt es seit mitte der 90er jahre arbeiten im und arbeiten ueber das internet. sie finden sie aufgelistet unter <http://www.reinhard-doehl.de/internett_p.htm> bzw. im kontext der stuttgarter internetprojekte unter <http://www.reinhard-doehl.de/sprojekte.htm>, wobei der letzte link zugleich signalisieren soll, dass ich hier und im folgenden immer auch fuer johannes auer mitspreche, mit dem ich die meisten internetprojekte gemeinsam oder in freundschaftlichem einvernehmen realisiert habe.

rechnen sie zum internet dessen 'schreibmaschine', den computer hinzu, datiert meine reproduktive und produktive beschaeftigung mit dem medium seit den fruehen 60er jahren, als wir in stuttgarter versuchten, den rechenmaschinen das dichten beizubringen. vgl. dazu speziell <http://doehl.netzliteratur.net/mirror_uni/computertext_netzkunst.htm>

was mich an dem neuen medium interessiert, ist, das dort auf der basis eines alphanumerischen codes... nein, ich will es anders sagen: nachdem das buch der literatur ihre urspruengliche muendlichkeit und ihr eingebundensein in die anderen kuenste gruendlich ausgetrieben hatte, gewannen die neuen medien film und funk unter neuen bedingungen bildlichkeit und muendlichkeit zurueck, scheint das internet in absehbarer zukunft geeignet, das im laufe der zeit getrennte wieder miteinander zu verbinden. unter geänderten bedingungen.

Das Internet wird gerne mit der Metapher der "Baustelle" umschrieben. Zeichnen sich in der Entwicklung der Netz-Literatur trotzdem schon bestimmte Formen und Tendenzen ab? Wie lassen die sich charakterisieren?

jedes neue medium gleicht zunaechst einer baustelle, da seine spielregeln, seine (nicht nur technische) grammatik und syntax ja erst entwickelt werden wollen und muessen. wenn sie bedenken, wie lange es gebraucht hat, bis es kuenstlerisch ernst zunehmende filme und hoerspiele gab, die nicht einfach abgelichtete literatur oder ueber das mikrofon verlautbarte leseliteratur waren, sind wir im falle des internets erst bei einem anfangen. dennoch lassen der hypertext (in der groesseren tradition einer zettelkastenpoesie von lichtenberg bis arno schmidt), versuche mit texten auf der basis einer email-struktur (z.b. klaus thalers "AVANTGARDEZ VOUS !") oder andere versuche wie die mitschreibe-projekte durchaus ansaetze erkennen. wobei dem "user", dem leser eine rolle zugedacht ist als gelenkter leser beim hypertext, als leser/autor bei den mitschreibe-projekten.

So was wie "Mitschreibe-Projekte" gibt es ja nicht erst seit der Erfindung des Internet. Vielleicht können Sie kurz ältere Traditionsstufen erläutern.

wie sich schon andeutete, stehen die bisherigen textmoeglichkeiten des internets in der regel in groesseren traditionszusammenhaengen, bei den mitschreibe-projekten z.b. in der altehrwuerdigen japanischen renga-, renku-, renshi-tradition. bei ihr handelte es sich um dichtertreffen, auf denen die beteiligten unter bestimmten spielregeln und im wechselseitigen dialog einen gemeinsamen text schrieben. um solche gemeinschaftsproduktionen haben wir uns nicht nur in stuttgart, schon bevor wir dazu das netz nutzen konnten, in form poetischer korrespondenzen experimentell bemueht. ich nenne als ein beispiel das internationale renshi "auf der nämlichen erde" <http://www.reinhard-doehl.de/poetcorr2.htm>. jetzt im internet muessen wir uns natuerlich den geaenderten spielregeln anpassen. Auch hier nenne ich ein beispiel: das internationale "poemchess" <http://auer.netzliteratur.net/poemchess/pochess.htm> mit z.t. denselben mitwirkenden.

Bei Mitschreibe-Projekten (zum Beispiel TanGo) kann jeder schreiben, was ihm gerade spontan in die Tasten läuft. Das bewegt sich oft hart an der Grenze zum Unsinn. Kann man da überhaupt noch von Literatur sprechen? Sind Ihre Erwartungen an das Projekt erfüllt worden?

TanGo ist von martina kieninger (uruguay) und johannes auer (stuttgart) als mitschreibe-projekt anders konzipiert. Hier war wie bei unserem heissenbuettel- und gertrude-stein-projekt eher auf den individuellen autor-beitrag zum thema gesetzt, was johannes auer z.b. zum 'abschiessen' eines tango-textes, mich nicht ohne lokale anspielung u.a. zu einem "pietisten-tango" animiert hat.

die naehe zur unsinnspoesie stoert mich dabei keinesfalls. es gibt grosse literatur an der grenze zur unsinnspoesie. vgl. alfred liedes "dichtung als spiel. studien zur unsinnspoesie an den grenzen der sprache", der seine 2baendige untersuchung in der romantik startet (er haette aber schon bei den (sprach)mystikern beginnen koennen) und ueber moerikes "wispeliaden" bis zu den ismen des 20. jahrhunderts fuehrt.

ob man beim TanGo-projekt noch von literatur sprechen will, haengt vom literaturbegriff ab, den man hat. fuer mich ist das durchaus literatur, wenn auch nicht im sinne eines traditionellen lese-buchs.

ob sich die erwartungen martina kieningers oder johannes auers in ihr projekt erfuellt haben, kann ich nicht beantworten. ich fuer meinen teil halte das projekt in vielen seiner teile fuer geglueckt und betone noch einmal, dass sich eine internetliteratur ja erst entwickeln will, wobei jedes experiment (auch im scheitern) ein schritt nach vorne sein kann.

Das Internet hat seine eigenen Gesetze. Sie haben in diesem Zusammenhang von der "Grammatik des Internet" gesprochen. Hat diese Grammatik Rückwirkungen auf traditionelle Formen der Literatur? Wie sehen die aus?

ich habe von der grammatik, aber auch von der syntax des internets und seiner schreibmaschine, dem computer, gesprochen und damit erst einmal (wie bei jedem medium) die technischen voraussetzungen und bedingungen gemeint oder anders gesagt: die dialogischen spielmoeglichkeiten, die das internet technisch anbietet und die genutzt werden wollen. diese voraussetzungen und bedingungen nehmen natuerlich einfluss auf die literatur, bestimmen und veraendern sie, so wie die buchliteratur die muendliche literatur veraendert hat, der akustische text in der entwicklung des hoerspiels wiederum die leseliteratur bis an die grenze der musik undsofort.

Internet-Literatur fordert von ihrem Leser ein völlig neues Leseverhalten. Was kennzeichnet diesen Leser? Was sind das überhaupt für Leute, die sich mit Literatur im Internet beschäftigen? Sehen Sie hier Möglichkeiten, ein neues (möglicherweise jüngeres) Lesepublikum heranzuziehen?

wir gehen heute davon aus, dass der roman beim lesen im kopf des lesers entsteht, ohne dass er aber das, was der autor ihm vor-geschrieben hat, veraendern kann. der produktive internettext bietet dem leser jetzt die moeglichkeit, je nach vermoegen an ihm mitzuschreiben, ihn versuchsweise zu veraendern, wobei seine mit-schrift wiederum veraenderbar ist. so gesehen gehoeren fuer mich die geglueckteren internet-projekte auch in den zusammenhang der dialogischen kuenste, des kuenstlerischen dialogs seit beginn des 20. jahrhunderts.

was das fuer leute sind, sie sich mit literatur im internet nur rezipierend oder mitschreibend beschäftigen, kann man pauschal nicht sagen. fuer viele ist das internet wohl nur ein tummelplatz ohne ernstere ambitionen. andere sind neugierig und wollen lernen. eine dritte gruppe will das netz und seine schreibmaschine, den computer, nutzen, um etwas lesbar, sehbar, gar hoerbar zu machen, das sich anders nicht hoerbar, sehbar, lesbar machen laesst. fuer eine vierte gruppe ist das ganze vorrangig zunaechst einmal spiel, aber man sollte nicht vergessen, dass der hollaendische kulturhistoriker johan huizinga bei seiner "bestimmung des spielelementes der kultur" neben den "homo sapiens" und den "homo faber" gleichberechtigt den "homo ludens" gestellt hat, überzeugt, "daß menschliche kultur im spiel - als spiel" aufkomme und sich entfalte. Ich denke, daran hat sich auch beim umgang mit dem internet wie auch immer nichts geaendert. nicht zufaellig sind ja eines der genannten stuttgarter internationalen projekte ein schachspiel ("poemchess"), das letzte netzprojekt "wertschöpfung / creation of value" von frieder rusmann und johannes auer ein "flash-spiel über klonen, picasso, schafe, permutationen und genies" <http://www.wert-schoepfung.de/>.

[Das Gespräch wurde im März 2002 per email geführt. Eine geringfügig redaktionell gekürzte und überarbeitete Fssg erschien auf einer Sonderseite, "Wenn der Computer dichtet: Literatur im Internet", des Reutlinger General-Anzeigers vom 13.4.2002]