Am zwanzigsten Juni wäre Kurt Schwitters achtzig Jahre alt geworden. Wie bei sonst kaum einem Künstler unseres Jahrhunderts hat sich bereits zu seinen Lebzeiten eine Vielzahl von Anekdoten um seine Person und sein Werk gerankt, derart, daß es heute oft kaum möglich ist, Legende und Wirklichkeit zu trennen, ja daß es heute eher möglich wäre, Leben und Werk in einer Reihung von Anekdoten Revue passieren zu lassen, als sie anhand der wenigen bisher gesicherten Fakten nachzuzeichnen. Man könnte sogar übertreiben, daß das Leben Kurt Schwitters' gleichsam zu einer Anekdote geworden ist, oft auch denen bekannt, die sein Werk nicht oder nur wenig und oberflächlich kennen.
Kurt Schwitters selbst ist daran nicht ganz unschuldig. Er hat - zeit seines Lebens ausschließlich an seiner Kunst interessiert - unbewußt und gelegentlich auch bewußt, dieser Anekdotenbildung Vorschub geleistet. In Hannover geboren, gab er später die verschiedensten Geburtsorte an, geographisch benachbarte wie Einbeck oder Lüneburg, aber auch Orte im Ausland oder gar erfundene. Wie wenig ihn seine Biographie, wie sehr ihn statt dessen der unsinnige Text reizte, der sich unter dem Vorwand des Autobiographischen schreiben ließ, zeigt exemplarisch die "Kurze Lebensbeschreibung" aus der Emigration von 1939:
"Ich wurde als ganz kleines Kind geboren. Meine Mutter schenkte mich meinem Vater, damit er sich freute Als mein Vater erfuhr, daß ich ein Mann war, konnte er sich nicht mehr halten und sprang vor Freude im Zimmer herum, denn er hatte sich sein ganzes Leben immer nur Männer gewünscht. Die größte Freude für meinen Vater aber war es, daß ich kein Zwilling war. - Dann wuchs ich heran zur Freude anderer, und es ist schon immer in meinem ganzen Leben mein Bestreben gewesen, anderen immer nur Freude zu bereiten. Wenn sie sich dann manchmal aufregen, dafür kann man ja nichts. Mein Lehrer freute sich immer, wenn er mich ohrfeigen konnte, und die ganze Schule war froh, als ich mit ihr fertig war."
Anders als bei Richard Huelsenbeck, aber ähnlich wie bei Hans Arp war für Kurt Schwitters die in den zwanziger Jahren bezogene Position eigentlich unpolitisch, nicht vom ständigen Nachdenken über die eigene Person begleitet, statt dessen eine radikale Entscheidung für eine neu gewollte Kunst. Etwas später als Arp vor die Entscheidung gestellt, war die Abkehr von einer als nicht mehr nachvollziehbar empfundenen Tradition dabei bewußter, vielleicht auch konsequenter. Hielt Arp noch 1962 anläßlich eines Interviews fest: "Wir wollten etwas machen... Etwas Neues, Nichtdagewesenes. Aber wir wußten nicht, was! Wir hatten kein Programm", so hatte Schwitters von dem, was er wollte, bald sehr genaue Vorstellungen, proklamierte er 1919 als sein Programm "Merz" und überspitzte 1922 gegenüber der Tradition: "Im übrigen wissen wir, daß wir den Begriff 'Kunst' erst los werden müssen, um zur 'Kunst' zu gelangen."
Was heute - falls überhaupt - von Schwittersscher Kunst bekannt ist, sind einige seiner Collagen und sein berühmtestes Gedicht "An Anna Blume", erstere inzwischen in zahlreichen Ausstellungen (vor allem im Ausland) in Auswahl immer wieder gezeigt, letzteres gelegentiich auch dort in Anthologien aufgenommen, wo Man den Beiträgen einer sogenannten Literaturrevolution sonst keinen Wert beimißt und keinen Raum gewährt. Zwei Oeuvre-Ausstellungen (1956 in Hannover, 1983 in Köln) und eine Edition aller Anna-Blume-Texte (Anna Blume und ich, 1965) haben in letzter Zeit dazu beigetragen, die Kenntnis des Schwittersschen Werkes zu intensivieren, und verwirren dennoch ein wenig die Dimensionen. Denn die Anna-Blume-Texte und die sogenannten Merz-Bilder stellen nur zwei Aspekte des Schwittersschen Werkes dar, zu dessen spezifischer Variationsbreite als weitere Aspekte das Feuilleton ebenso wie der Schlager, das Kinderbuch ebenso wie der Werbetext, die literarische Polemik ebenso wie die "Sonate in Urlauten", das Bühnenstück ebenso wie die "Kathedrale des erotischen Elends" gehören. Sie alle sind Einzelaspekte des Schwittersschen Generalthemas Merz, und sie alle sind Vorstufen, Bruchstücke einer Tendenz zu einem spezifischen Gesamtkunstwerk, das Schwitters - nicht nur aus äußerlichen Gründen wie Flucht, Emigration, Zerstörung des Merzbaus in Hannover und Norwegen - dennoch nie verwirklichen konnte.
Es war das "Merzgesamtkunstwerk", das Schwitters als künstlerisches Ziel seit 1919 ständig vorgeschwebt und das er - zum erstenmal 1919 - gefordert hat:
"Ich fordere die Merzbühne.
Ich fordere die restlose Zusammenfassung aller künstlerischen Kräfte zur Erlangung des Gesamtkunstwerks. Ich fordere die prinzipielle Gleichberechtigung aller Materialien... Ich fordere die restlose Erfassung aller Materialien... Ich fordere die gewissenhafteste Vergewaltigung der Technik bis zur vollständigen Durchführung der verschmelzenden Verschmelzungen...
Vor allen Dingen aber fordere ich die sofortige Einrichtung einer internationalen Experimentierbühne zur Ausarbeitung des Merzgesamtkunstwerks. Ich fordere in jeder größeren Stadt die Einrichtung von Merzbühnen zur einwandfreien Darstellung von Schaustellungen jeder Art (Kinder zahlen die Hälfte.)"
Wie Kurt Schwittere sich solch ein "Merzgesamtkunstwerk" vorstellte, formulierte er in einer unsinnigen "Vision" drei Jahre vor Proklamation des französischen Surrealismus:
"Nun beginne man die Materialien miteinander zu vermählen. Man verheirate zum Beispiel die Wachstuchdecke mit der Heimstättenaktiengesellschaft, den Lampenputzer bringe man in ein Verhältnis zu der Ehe zwischen Anna Blume und dem Kammerton a. Die Kugel gebe man der Fläche zum Fraß, und einen rissige Ecke lasse man vernichten durch 22tausendkerzigen Bogenlampenschein. Man lasse den Menschen auf den Händen geben und auf den Füßen einen Hut tragen, wie Anna Blume. Und nun beginnt die Glut musikalischer Durchtränkung. Orgeln hinter der Bühne singen und sagen ',Fütt Fütt'. Die Nähmaschine rattert voran. Ein Mensch in der einen Kulisse sagt: 'Bah.' Ein anderer tritt plötzlich auf und sagt: 'Ich bin dumm.' (Nachdruck verboten.) Kniet umgekehrt ein Geistlicher dazwischen und ruft und betet laut: '0 Gnade wimmelt zerstaunen Halleluja Junge, Junge vermählt tropfen Wasser.' Eine Wasserleitung tröpfelt ungehemmt eintönig. Acht Pauken und Flöten blitzen Tod, und eine Straßenbahnschaffnerpfeife leuchtet hell. Dem Mann auf der einen Kulisse läuft ein Strahl eiskalten Wassers über den Rücken in einen Topf. Er singt dazu cis, d, dis, es, das ganze Arbeiterlied. Unter dem Topf hat man eine Gasflamme angezündet, um das Wasser zu kochen, und eine Melodie von Violinen schimmert rein und mädchenzart. Ein Schleier überbreitet Breiten. Tief dunkelrot kocht die Mitte Glut. Es raschelt leise. Anschwellen lange Seufzer Geigen und verhauchen. Licht dunkelt Bühne, auch die Nähmaschine ist dunkel."
Man täte Kurt Schwitters fraglos Unrecht, wollte man eine solche Passage nur als künstlerischen Ulk abwerten. Ulk ist sie sicher auch: an der Oberfläche. Aber dahinter verbirgt sich etwas, Grundsätzlicheres dem heutigen Leser - durch den historischen Abstand, durch seine Kenntnis der Happenings etwa - ersichtlich: das Dilemma nämlich des Künstlers zu Beginn des 20. Jahrhunderts, gegenüber einem Kunstverständnis, wie es das ausgehende 19. Jahrhundert ausgeformt hatte, zu einem neuen, seiner eigenen Situation entsprechenden Kunstverständnis und damit auch zu einem neuen eigenen Selbstverständnis als Künstler zu gelangen.
In einem "Nachwort" zur "Anna Blume" hat Schwitters 1919 dieses "Selbstbestimmungsrecht des Künstlers" für sich abzuleiten versucht, wobei er unter Künstler entsprechend seiner Konzeption vom Gesamtkunstwerk den Gesamtkünstler meint. "Die Beschäftigung mit verschiedenen Kunstarten" - heißt es in dem Aufsatz "Merz" von 1921 - "war mir ein künstlerisches Bedürfnis. Der Grund dafür war nicht etwa Trieb nach Erweiterung des Gebiets meiner Tätigkeit, sondern das Streben, nicht Spezialist einer Kunstart, sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit. Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung. rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. Ich habe Bilder so genagelt, daß neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht. Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen. Das Merzgesamtkunstwerk aber ist die Merzbühne, die ich bislang nur theoretisch durcharbeiten konnte."
Man kann sich die Konsequenzen, die Schwitters aus seinem künstlerischen Dilemma zog, am besten mit einer Behelfsüberlegung verdeutlichen, indem man nämlich das "Merzgesamtkunstwerk" mit dem von Richard Wagner gewollten Gesamtkunstwerk vergleicht. Gemessen an ihm ist die Merzbühne Schwitters' nicht nur radikale Parodie, sie ist gleichzeitig die extremste Gegenposition, die - speziell durch das Vermischen der "Materialien", durch den Rückzug auf die "Banalität" - gegenüber der spätsymbolischen Konzeption Wagners, allgemein gegenüber einer Spätform bezogen werden konnte.
Es muß einer gründlichen und umfangreichen Analyse vorbehalten bleiben, en detail zu zeigen, wie radikal der Schwitterssche Ansatz ist, wieweit in diesem Ansatz die einzelnen künstlerischen Tätigkeiten auf dasselbe hinzielen, wie sehr Kurt Schwitters beim Einzelnen ein Gemeinsames vorschwebte. Immer wieder begegnen bei ihm Formulierungen, die auf das Analoge der einzelnen künstlerischen Tätigkeiten hinweisen: "Die Merzdichtung ... verwendet analog der Merzmalerei als gegebene Teile fertige Sätze aus Zeitungen, Plakaten, Katalogen, Gesprächen und so weiter, mit und ohne Abänderungen." Und man könnte verallgemeinern, daß die Entwicklung des Autors Schwitters ihre Entsprechung findet in der Entwicklung des bildenden Künstlers. Aber erst beides zusammen würde seine künstlerische Entwicklung ausmachen. Dennoch sei es hier gestattet, im folgenden kurz auf die literarische Entwicklung einzugehen, weil gerade sie am unbekanntesten geblieben ist.
Das literarische Oeuvre Schwitters' ist verhältnismäßig umfangreich und reicht von stramm-naher "Wortkunst" zu von Kurt Schwitters so genannten "elementaren" Gedichten, von literarischen Traktaten ("Tran") zu höchst ergötzlichen Feuilletons, von der Parodie symbolischer Redeweise, des Erlebnisgedichts zu einem elementaren Spiel mit umgangssprachlichen, banalen Versatzstücken und schließlich zum Spiel mit Zahlen, mit dem Alphabet an der Grenze zur Typo-Grafik. Und wie sich Schwitters im Spiel mit dem Alphabet an dr Grenze zur Typo-Grafik bewegt, überschreitet er mit seiner "Sonate in Urlauten" die Grenze auch eine Handvoll von ihm verfaßter Schlagertexte zu verstehen sind.
Im Gegensatz zu seinem Freund Arp sowie zahlreichen expressionistischen Künstlern ist Kurt Schwitters in seiner Entwicklung - von wenigen Ausnahmen abgesehen - verhältnismäßig konsequent geblieben. Das lag vor allem an seiner Konzeption, aber es dürfte nicht zuletzt auch in einem großen Maß von Selbstkritik seiner eigenen Produktion gegenüber begründet sein. Für ihn war "Künstler unserer Zeit" gleichbedeutend mit "schaffender kritischer Mensch". An anderer Stelle pointierte er: "Der kritische Künstler ist stets konsequent, der Imitator extrem." Es ist diese geforderte Konsequenz, die Kurt Schwitters in der Tat von zahlreichen "extremen" Künstlern der Zeit abhebt. Und sie ist in seinem Werk deutlich zu beobachten, zum Beispiel an einer Handvoll Liebesgedichte". War "An Anna Blume" (1919) - bereits angefüllt mit Banalitäten - in erster Linie aber noch Parodie des traditionellen Liebesgedichts (und so ex negativo an dieses gebunden), zeigen zwei Beiträge der "Zinnoberfestschrift" von 1918 die konsequente Rückführung auf den banalen Schlagertext ("Meine süße Puppe, / Mir ist alles schnuppe, / Wenn ich meine Schnauze / Auf die Deine bautze") beziehungsweise auf den umgangssprachlichen Dialog, der - unter der Überschrift "Der Leidenschaft" - seinen Witz aus der Diskrepanz von Überschrift und folgendem Text, aus einem banalen Mißverständnis zieht: "Er: Ich liebe Dir / Sie; Was sagste? / Er: Ich liebe Dir. / Sie: Was sagste? / Er: Ich bin Dich gut. / Sie: Ach, so."
Sicher kann man diese Mischformen verstehen innerhalb einer allgemeinen Entwicklungstendenz der Künste im 20. Jahrhundert. Innerhalb des Schwitterschen Werkes sind sie Stationen auf dem Weg zu einem gewollten Gesamtkunstwerk, das Schwitters dennoch nie erreicht hat. Dieser Stellenwert verbindet sie ebenso wie eine zumeist unsinnige Absicht "Ich werte" - hielt Kurt Schwitters 1921 generell fest - "Sinn gegen Unsinn. Den Unsinn bevorzuge ich, aber das ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mir tut der Unsinn leid, da er bislang so selten künstlerisch geformt wurde. Deshalb liebe ich Unsinn.
Es ist nicht zuletzt auch diese erklärte Liebe zum Unsinn, die zu den erwähnten zahlreichen Anekdoten geführt hat, die fraglos ebenso kennzeichnend sind, wie sie sich andererseits leicht als Sperre zwischen den Interessierten und das Schwittersche Werk stellen können.
Stuttgarter Zeitung 16.6.1967 [Mit Nachdruck des am 20. Mai 1926 in der "Prager Presse" publizierten Feuilletons "Das geliehene Fahrrrad"]