Reinhard Döhl | Stücke und Spiele | Teils-Teils
9. Die Prinzipien der Kunst

Du übersdiehst dich nicht mehr -

Du übersiehst dich nicht mehr?
Der Anfang ist vergessen,
die Mitte wie nie besessen,
und das Ende kommt schwer.

Was hängen nun die Girlanden,
was strömt nun das Klavier,
was zischen der Jazz und die Banden,
wenn alle Abende landen
so abgebrochen in dir?

Du könntest dich nochmals treiben
mit Rausch und Flammen und Flug,
du könntest -: das heißt, es bleiben
noch einige Töpferscheiben
und etwas Ton im Krug.

Doch du siehst im Ton nur die losen,
die Scherben, den Aschenflug -
ob Wein, ob Öl, ob Rosen,
ob Vase, Urne und Krug.

Die Prinzipien der Kunst

können nicht agoral und politisch verallgemeinert werden. Es ist provinzielle Unentwickeltheit des Künstlers, zu erwarten, daß die Öffentlichkeit sich für ihn interessiert, ihn ökonomisch unterstützt, seinen 60, Geburtstag mit Banketts und Blattpflanzen feiert. Er wütet in sich herum - wer müßte ihm das danken? Durchdenken Sie vielleicht auch, wieviel Egmont- und Leonoren-Ouvertüren über den Stammpolitiker hinweggebraust sind bei Eröffnungen und Festakten, ohne ihn verändert zu haben. Ich stimme daher der Monetschen Sentenz zu: Il faut décourager les arts - und James Joyce variiert einen Talmudspruch: "Wir Juden sind wie die Olive, wir geben unser Bestes, wenn wir zermalmt werden, wenn wir unter der Last unserer Fronden zusammenbrechen - ", das gilt nach meiner Meinung für die Künstler. Das sind gesunde Ideen! Man unterscheide doch endlich zwischen Kunstträgern und Kulturträgern, das schlug ich schon in einem meiner Bücher vor 15 Jahren vor. Der Kunsträger ist statistisch asozial, lebt nur mit seinem inneren Material, er ist ganz uninteressiert an Verbreiterung, Flächenwirkung, Aufnahmesteigerung, an Kultur. Er ist kalt, das Material muß kalt gehalten werden, er muß ja die Idee, die Wärme, denen sich die anderen menschlich überlassen dürfen, kalt machen, härten, dem Weichen Stabilität verleihen. Er ist meistens äußerst nüchtern und behauptet auch gar nichts anderes zu sein, während die Idealisten unter den Kulturträgern und Erwerbsständen sitzen. So schrieb ich vor 15 Jahren. Die Zukunft wird noch ganz andere Dinge offenbaren.

Der Stilder Zukunft

wird der Roboterstil sein, Montagekunst. Der bisherige Mensch ist zu Ende, Biologie, Soziologie, Familie, Theologie, alles verfallen und ausgelaugt, alles Prothesenträger. Das Getue in den Romanen, als ob es an sich weiterginge und etwas geschähe, mit dem altmodischen Begriff des Schicksals oder dem neumodischen einer autochthonen gesellschaftlichen Bewegung, ist Unfug, es geht nichts an sich weiter und geschieht nichts, der Mensch stockt und arbeitet - der Künstler ist es, der weitermuß, sammelt gruppiert - ländlich-großväterlich mit Hilfe von zeitlich-räumlichen Kategorien, aktuell-neurotisch durch absolute transzendente Schwerpunktsbildungen, Fesselungen, Drehpunktskonstituierungen - nur so schafft er etwas jenseits von Relationen und Ambivalenz. Diese Technik selbst ist das Problem und man soll sie ruhig bemerken.

Eine Dame, offenbar etwas Kluges, schrieb mir über ein Bild von Gauguin im neuen Folkwangmuseum, jetzt in einem alten Wasserschloß im Ruhrtal, es lag, wie sie hervorhob, eine Jardins-sous-la-Pluie-Stimmung um das Haus: "Eine Insulanerin, für sich allein, bis in den graziös vorgehaltenen Fächer den Ausdruck des Gemaltwerdens wiedergebend, nur die Augen träumen" - das ist es: Der Ausdruck des Gemaltwerdens muß immer hervortreten, man muß suchen und wissen, was zusammengehört, und das muß man nehmen. Wenn Sie nämlich einmal darüber nachdenken, werden Sie zu dem Resultat kommen, wir bewegen uns mehr in unserer zerebralen Sphäre als in unserer sexuellen oder intestinalen oder muskulären. Uns beschäftigen Gedanken, die brennen. Wir kommen auf sie zurück auch während praktischer Tätigkeiten, kaufmännischer, wir fahren aus dem Schlaf auf und sie sind sofort wieder da. Es ist fraglich, ob das immer so war, heute ist es jedenfalls die Lage.

Der Mensch muß neu zusammengesetzt werden aus Redensarten, Sprichwörtern, sinnlosen Bezügen, aus Spitzfindigkeiten, breit basiert -: E i n  M e n s c h  i n  A n f ü h r u g s s t r i c h e n. Seine Darstellung wird in Schwung gehalten durch formale Tricks, Wiederholungen von Worten und Motiven - Einfälle werden eingeschlagen wie Nägel und daran Suiten aufgehängt. Herkunft, Lebenslauf - Unsinn! Aus Jüterbog oder Königsberg stammen die meisten, und in irgendeinem Schwarzwald endet man seit je. Jetzt werden Gedankengänge gruppiert, Geographie herangeholt, Träumereien eingesponnen und wieder fallen gelassen. Nichts wird stofflich-psychologisch mehr verflochten, alles angeschlagen, nichts durchgeführt. Alles bleibt offen. Antisynthetik. Verharren vor dem Unvereinbaren. Bedarf größten Geistes und größten Griffs, sonst Spielerei und kindisch. Bedarf größten tragischen Sinns, sonst nicht überzeugend. Aber wenn der Mann danach ist, dann kann der erste Vers aus dem Kursbuch sein und der zweite eine Gesangbuchstrophe und der dritte ein Mikoschwitz und das Ganze ist doch ein Gedicht. Und wenn der Mann nicht danach ist, dann können die Ehegatten ihre Frauen und die Mütter ihr Söhne und die Enkel ihre Großtanten im Lehnstuhl oder im Abendfrieden vielstrophig anreimen und selbst der Laie wird bald merken, daß das keine Lyrik mehr ist. (...)

I n t e r e s s a n t - das ist ein wichtiges Wort! Interessant - das führt nicht in diese undurchsichtige quälende familiäre "Tiefe", nicht sofort zu den "Müttern", diesem beliebten deutschen Aufenthalt - interessant ist keineswegs identisch mit unterhalten - übersetzen Sie es wörtlich. inter-esse: zwischen dem Sein, nämlich zwischen seinem Dunkel und seinem Schimmer - "Olymp des Scheins",Nietzsche.

Die wenigen Dinge, das sogenannte Zeitlose, das sickert ja überall durch, das ist selbstverständlich, aber die phänotypischen, an denen muß man arbeiten: Gott ist Form. Das Gen werden wir nie erkennen, aber das Phänotypische läßt sich als Bild erarbeiten. Nach meiner Theorie müssen Sie Verblüffendes machen, bei dem Sie am Schluß selber lachen ("Das nenne ich eine schlechte Weisheit, bei der es nicht ein Gelächter gab", Nietzsche). Sie müssen alles selber wieder aufheben: Dann schwebt es. Scharlatan - das ist kein schlimmes Wort, es gibt schlimmere: historisch und grundsuppig.

((Das Folgende unterlegt bzw. zäsuriert mit Schlagern der Nachkriegszeit))

Orpheus Tod

Wie du mich zurückläßt, Liebste -
von Erebos gestoßen,
dem unwirtlichen Rhodope
Wald herziehend,
zweifarbige Beeren,
rotglühendes Obst -
Belaubung schaffend,
die Leier schlagend
den Daumen an der Saite.

Drei Jahre schon im Nordsturm!
An Totes zu denken, ist süß,
so Entfernte,
man hört die Stimme reiner,
fühlt die Küsse,
die flüchtigen und die tiefen -
doch du irrend bei den Schatten.

Wie du mich zurückläßt -
anstürmen die Flußnymphen,
anwinken die Felsenschönen,
gurren: "Im öden Wald
nur Faune und Schratte, doch du,
Sänger, Aufwölber
von Bronzelicht, Schwalbenhimmeln -
fort die Töne -
Vergessen -!"
- drohen -!

Und eine starrt so seltsam.
Und eine Große, Gefleckte,
bunthäutig ("gelber Mohn")
lockt unter Demut, Keuschheitsandeutungen
bei hemmungsloser Lust - (Purpur
im Kelche der Liebe -!) vergeblich!
drohen -!

Nein, du sollst nicht verrinnen,
du sollst nicht übergehen in
Iole, Dryope, Prokne,
die Züge nicht vermischen mit Atalanta,
daß ich womöglich Eurydike
stammle bei Lais -
doch: drohen -!

und nun die Steine
nicht mehr der Stimme folgend,
dem Sänger,
mit Moos sich hüllend,
die Äste laubbeschwichtigt,
die Hacken ährenbesänftigt -:
nackte Haune -!

nun wehrlos dem Wurf der Hündinnen,
der wüsten -
nun schon die Wimper naß,
der Gaumen blutet -
und nun die Leier
hinab den Fluß -
die Ufer tönen -

Gewisse Lebensabende

I

Du brauchst nicht immer die Kacheln zu scheuern, Hendrickje,
mein Auge trinkt sich selbst,
trinkt sich zu Ende -
aber an anderen Getränken mangelt es -
dort die Buddhastatue,
chinesischer Haingott,
gegen eine Kelle Hulstkamp,
bitte.

Nie etwas gemalt in
Frostweiß oder Schlittschuhläuferblau
oder dem irischen Grün,
aus dem der Purpur schimmert -
immer nur meine Eintönigkeit,
mein Schattenzwang -
nicht angenehm,
diesen Weg so deutlich zu verfolgen.

Größe - wo?
Ich nehme den Griffel
und gewisse Dinge stehn dann da
auf Papier, Leinwand
oder ähnlichem Zunder -
Resultat: Buddhabronze gegen Sprit -
aber Huldigungen unter Blattpflanzen,
Bankett der Pinselgilde -:
was fürs Genre -!

...Knarren,
Schäfchen, die quietschen,
Abziehbilder
flämisch, rubenisch
für die Enkelchen -!
(ebensolche Idioten -!)

Ah - Hulstkamp -
Wärmezentrum,
Farbenmittelpunkt,
mein Schattenbraun -
Bartstoppelfluidum um Herz und Auge -

II

Der Kamin raucht
- schneuzt sich der Schwan von Avon -
die Stubben sind naß,
klamme Nacht, Leere vermählt mit Zugluft -
Schluß mit den Gestalten,
übervölkert die Erde
reichlicher Pfirsichfall, vier Rosenblüten
pro anno -
ausgestreut,
auf die Bretter geschoben
von dieser Hand
faltig geworden
und mit erschlafften Adern!

Alle die Ophelias, Julias,
bekränzt, silbern, auch mörderisch -
alle die weichen Münder, die Seufzer,
die ich aus ihnen herausmanipulierte -
die ersten Aktricen längst Qualm,
Rost, ausgelaugt, Rattenpudding -
auch Herzens-Ariel bei den Elementen.

Die Epoche zieht sich den Bratenrock aus.
Diese Lord- und Lauseschädel,
ihre Gedankengänge,
die ich ins Extrem trieb -
meine Herren Geschichtsproduzenten
alles Kronen- und Szepteranalphabeten,
Großmächte des Weltraums
wie Fledermaus oder Papierdrachen!

Sir Goon schrieb neulich an mich:
"Der Rest ist Schweigen": -
Ich glaube, das ist von mir,
kann nur von mir sein,
Dante tot - eine große Leere
zwischen den Jahrhunderten
bis zu meinen Wortschatzzitaten -

aber wenn sie fehlten,
der Plunder nie aufgeschlagen,
die Buden, die Schafotte, die Schellen
nie geklungen hätten -:
Lücken -?? Vielleicht Zahnlücken,
aber das große Affengebiß
mahlte weiter
seine Leere, vermählt mit Zugluft -
die Stubben sind naß
und der Butler schnarcht in Porterträumen.

Fragmente

Fragmente,
Seelenauswürfe,
Blutgerinnsel des zwanzigsten Jahrhunderts -
Narben - gestörter Kreislauf der Schöpfungsfrühe,
die historischen Religionen von fünf Jahrhunderten zertrümmert,
die Wissenschaft: Risse im Parthenon,
Planck rann mit seiner Quantentheorie
zu Kepler und Kierkegaard neu getrübt zusammen -

Aber Abende gab es, die gingen in den Farben
des Allvaters, lockeren, weitwallenden,
unumstößlich in ihrem Schweigen
geströmten Blaus,
Farbe der Introvertierten,
da sammelte man sich
die Hände auf das Knie gestützt
bäuerlich, einfach
und stillem Trunk ergeben
bei den Harmonikas der Knechte -

und andere
gehetzt von inneren Konvoluten,
Wölbungsdrängen,
Stilbaukompressionen
oder Jagden nach Liebe.

Ausdruckskrisen und Anfälle von Erotik:
das ist der Mensch von heute,
das Innere ein Vakuum,
die Kontinuität der Persönlichkeit
wird gewahrt von den Anzügen,
die bei gutem Stoff zehn Jahr halten.

Der Rest Fragmente,
halbe Laute,
Melodieansätze aus Nachbarhäusern,
Negerspirituals
oder Ave Marias.

Satzbau

Alle haben den Himmel, die Liebe und das Grab,
damit wollen wir uns nicht befassen,
das ist für den Kulturkreis besprochen und durchgearbeitet.
Was aber neu ist, ist die Frage nach dem Satzbau
und die ist dringend: Warum drücken wir etweas aus?

Warum reimen wir oder zeichnen ein Mädchen
direkt ober als Spiegelbild
oder stricheln auf eine Handbreit Büttenpapier
unzählige Pflanzen, Baumkronen, Mauern,
letztere als dicke Raupen mit Schildkrötenkopf
sich unheimlich niedrig hinziehend
in bestimmter Anordnung?

Überwältigend unbeantwortbar!
Honoraraussicht ist es nicht,
viele verhungern darüber. Nein,
es ist ein Antrieb in der Hand,
ferngesteuert, eine Gehirnlage,
Vielleicht ein verspäteter Heilbringer oder Totemtier,
auf Kosten des Inhalts ein formaler Priapismus,
er wird vorübergehn,
aber heute ist der Satzbau
das Primäre.

"Die wenigsten, die was davon erkannt" - (Goethe) -
wovon eigentlich?
Ich nehme an: vom Satzbau.

Restaurat

Der Herr drüben bestellt sich noch ein Bier,
daß ist mir angenehm, dann brauche ich mir keinen Vorwurf zu machen
daß ich auch gelegentlich einen zische.
Man denkt immer gleich, man ist süchtig,
in einer amerikanischen Zeitschrift las ich sogar,
jede Zigarette verkürze das Leben um sechsunddreißig Minuten,
das glaube ich nicht, vermutlich steht die Coca-Cola-Industrie
oder eine Kaugummifabrik hinter dem Artikel.

Ein normales Leben, ein normaler Tod
das ist auch nichts. Auch ein normales Leben
führt zu einem kranken Tod. Überhaupt hat der Tod
mit Gesundheit und Krankheit nichts zu tun,
er bedient sich ihrer zu seinem Zwecke.

Wie meinen Sie das: der Tod hat mit Krankheit nichts zu tun?
Ich meine das so: Viele erkranken, ohne zu sterben,
also liegt hier noch etwas anderes vor,
ein Fragwürdigkeitsfragment,
ein Unsicherheitsfaktor,
er ist nicht so klar umrissen,
hat auch keine Hippe,
beobachtet, sieht um die Ecke, hält sich sogar zurück
und ist musikalisch in einer anderen Melodie.

Stilleben

Wenn alles abgeblättert daliegt
Gedanken, Stimmungen, Duette
abgeschilfert - hautlos daliegt,
kein Stanniol - und das Abgehäutete
- alle Felle fortgeschwommen -
blutiger Bindehaut ins Stumme äugt -:
was ist das?

Die Frage der Fragen! Aber kein Besinnlicher
fragt sie mehr -
Renaissancereminiszenzen,
Barocküberladungen,
Schloßmuseen -

Nur keine weiteren Bohrungen,
doch kein Grundwasser,
die Brunnen dunkel,
die Stile erschöpft -

Die Zeit hat etwas Stilles bekommen,
die Stunde atmet,
über einem Krug,
es ist spät, die Schläge verteilt
noch ein wenig Clinch und Halten,
Gong - ich verschenke die Welt
wem sie genügt, soll sich erfreun:

Der Spieler soll nicht ernst werden
der Trinker nicht in die Gobi gehn,
auch eine Dame mit Augenglas
erhebt Anspruch auf ihr Glück:
Sie soll es haben -

Still ruht der See,
vergißmeinnichtumsäumt,
und die Ottern lachen.

Was schlimm ist

Wenn man kein Englisch kann,
von einem guten englischen Kriminalroman zu hören,
der nicht ins Deutsche übersetzt ist.

Bei Hitze ein Bier sehen,
das man nicht bezahlen kann.

Einen neuen Gedanken haben,
den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann,
wie es die Professoren tun.

Nachts auf Reisen Wellen schlagen hören
und sich sagen, daß sie das immer tun.

Sehr schlimm: eingeladen sein,
wenn zu Hause die Räume stiller,
der Café besser
und keine Unterhaltung nötig ist.

Am schlimmsten:
nicht im Sommer sterben,
wenn alles hell ist
und die Erde für Spaten leicht.

Außenminister

Aufs Ganze gerichtet
sind die Völker eine Messe wert,
aber im einzelnen: Laßt die Trompete zu der Pauke sprechen,
jetzt trinkt der König Hamlet zu -
wunderbarer Aufzug,
doch die Degenspitze vergiftet.

"Iswolkski lachte."
Zitate zur Hand, Bonmots in der Kiepe,
hier kühl, dort chalereux, Peace and Goodwill,
lieber mal eine Flöte zuviel,
die Shake-hands Wittes in Portsmouth (1905)
waren Rekord, aber der Friede wurde günstiger.

Vorm Parlament - das ist keineswegs Schaumschlägerei,
hat Methode wie Sanskrit oder Kernphysik,
enormes Labor: Referenten, Nachrichtendienst, Empirie,
auch Charakter muß man durchfühlen,
im Ernst: Charakter haben die Hochgekommenen ganz bestimmt,
nicht wegen etwaiger Prozesse,
sondern es ist ihr moralischer Sex-Appeal -
allerdings: Was ist der Staat?
"Ein Seiendes unter Seienden",
sagte schon Plato.

"Zwiespalt zwischen der öffentlichen
und der eigentlichen Meinung" (Keynes). Opalisieren!
Man lebt zwischen les hauts et les bas,
erst Oberpräsident, dann kleiner Balkanposten, schließlich Chef,
dann ein neues Revirement,
und man geht auf seine Güter.

Leicht gesagt: Verkehrte Politik.
Wann verkehrt? Heute? Nach zehn Jahren? Nach einem Jahrhundert?

Mésalliancen, Verrat, Intrigen,
alles geht zu unseren Lasten,
man soll das Ölzeug anziehen,
bevor man auf Fahrt geht,
beobachten, ob die Adler rechts oder links fliegen,
die heiligen Hühner das Futter verweigern.
Als Hannibal mit seinen Elefanten über den Simplon zog,
war alles in Ordnung,
als später Karthago fiel,
weinte Salambo.

Sozialismus - Kapitalismus -: Wenn die Rebe wächst
und die Volkswirtschaft verarbeitet ihren Saft
dank außerordentlicher Erfindungen und Manipulationen
zu Mousseux - dann muß man ihn wohl auch trinken?
Oder soll man die Kelten verurteilen,
weil sie den massilischen Stock
tauschweise nach Gallien trugen -
damit würde man ja jeden zeitlichen Verlauf
und die ganze Kulturausbreitung verdammen.

"Die Außenminister kamen in einer zweistündigen Besprechung
zu einem vorläufigen Ergebnis"
(Öl- und Pipelinefragen),
drei trugen Cutaway,
einer einen Burnus.

Radio

I

"- die Wissenschaft als solche" -
wenn ich derartiges am Radio höre,
bin ich immer ganz erschlagen.
Gibt es auch eine Wissenschaft nicht als solche?
Ich sehe nicht viel Natur, komme selten an Seen,
Gärten nur sporadisch, mit Gittern vor,
oder Laubenkolonien, das ist alles,
ich bin auf Surrogate angewiesen:
Radio, Zeitung, Illustrierte -
wie kann man mir da so was bieten?

Da muß man doch Zweifel hegen,
ob das Ersatz ist für Levkoien,
für warmes Leben, Zungenkuß, Seitensprünge,
alles, was das Dasein ein bißchen üppig macht
und es soll doch alles zusammengehören!

Nein, diese vielen Denkprozesse sind nichts für mich,
aber es gibt volle Stunden,
wo man auf keinem Sender (Mittel-, Kurz-, Lang- und Ultrawelle)
eine Damenstimme hört ("erst sagt man nein, dann vielleicht, dann ja"),
immer nur diese pädagogischen Sentenzen,
eigentlich ist alles im männlichen Sitzen produziert,
was das Abendland sein Höheres nennt -
ich aber bin, wie gesagt, für Seitensprünge.

II

"- würden alte Kulturbestände völlig verschwunden sein -"
(nun wenn schon)
"- klingende Vergangenheit - "
(von mir aus)
"- in den Orten Neu-Mexikos
segnen die Farmer ihre Tiere und Felder
mit diesen Liedern"
(angenehm,
aber ich meinerseits komme aus Brandenburg kaum heraus).

Wir hören Professor Salem Aleikum,
der Reporter beliebäugelt ihn noch:
"der Preofessor liegt auf der Terasse seines Hauses
die Laute im Arm
und singt die alten Balladen" -
wahrscheinlich auf einer Ottomane,
Eiswasser neben sich,
widerlegt Hypothesen, stößt neue aus -

Die größten Ströme der Welt
Nil, Bramahputra oder was weiß ich,
wären zu klein, alle diese Professoren zu ersäufen -

Ich habe kein Feld, ich habe kein Tier,
mich segnet nichts, es ist reiner Unsegen,
aber diese Professoren
sie lehren in Saus und Braus
sie lehren aus allen Poren
und machen Kulturkreis draus.

Gedicht

Und was bedeuten diese Zwänge,
halb Bild, halb Wort und halb Kalkül,
was ist in dir, woher die Dränge
aus stillem trauerndem Gefühl?

Es strömt dir aus dem Nichts zusammen,
aus einzelnem, aus Potpurri,
dort nimmst du Asche, dort die Flammen,
du streust und löscht und hütest sie.

Du weißt, du kannst nicht alles fassen,
umgrenze es, den grünen Zaun
um dies und das, du bleibst gelassen,
doch auch gebannt im Mißvertraun.

So Tag und Nacht bist du am Zuge,
auch sonntags meißelst du dich ein
und klopfst das Silber in die Fuge,
dann läßt du es - es ist: das Sein.

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