Als "Illegalen Grenzgänger" im Bereich der Bildenden Kunst bezeichnete sich der seitdem Jahre 1927 auf dem Stuttgarter Frauenkopf still und zurückgezogen lebende Hermann Finsterlin einmal in einem seiner Gedichte. Dieser Künstler von europäischem Rang, niemandem und nichts und keiner Richtung untertan, wird am 18. August 75 Jahre alt. Er kam in München im gleichen Jahr 1887 zur Welt, als auch Schlemmer, Macke, Mataré und Mendelssohn geboren wurden.
Am Beginn seines Bildungsweges standen universelle, wissenschaftliche Studien, unter anderem in Medizin und Chemie, Philosophie, Mythologie und Indologie. Den Weg zur Kunst fand er durch ein Sylvester-Erlebnis auf dem Gipfel des Watzmanns, eine Bekehrung des Forschers zum Former und Schöpfer.
Zunächst war es die Architektur, durch die er in der Fachwelt bekannt wurde. Seine "fantastische Zukunftsarchitektur" wirkte befruchtend und anregend auf so bedeutende Architekten wie Gropius, Bruno Taut, Mendelssohn, Alfred Brust und andere, und mit ihnen zusammen gründete Finsterlin im Jahre 1919 die Architektengruppe der "Gläsernen Kette". Damals wurde er auch in den "Arbeitsrat für Erneuerung der Kunst" berufen. Eine Amsterdamer Architektenzeitschrift widmete ihm eine ganze Nummer (1924). Nach seiner Auffassung sollte ein Bau ein Organismus sein und kein künstliches Gebilde. Sein von ihm erfundener "Stil-Baukasten" zeugt von tiefem Verständnis für die Grundelemente des baulichen Schaffens und könnte bei vielen ein besseres Verstehen wirken - wenn es ihn noch gäbe!
Gerade so originell wie als Architekt ist Finsterlin als Maler. Einfälle fliegen ihm in Fülle zu. Aus Farbflecken, Nebeln und Wolkenfetzen lösen sich Gegenstände, Gestalten, Gesichter und Geschehnisse, welche vernunftskalte Betrachter in Verlegenheit bringen mögen. Der Künstler ist Entdecker einer Vielzahl von gestalteten und gestaltenden Kräften des ewig gebärenden Kosmos. Mineral, Pflanze, Tier und Mensch stehen in den verschiedenartigsten Beziehungen. Der Maler wird zum Seher, ihm offenbaren sich Erscheinungen der sinnlichen und der transzendenten Welt in einträchtiger Kommunion. Derart wunderliche Verbindungen bedingen den entsprechenden Text. So finden wir etwa unter seinen köstlichen Aquarell-Miniaturen einen "Schutzengel des Steckenpferds", ein "Schneewittchen im gläsernen Elefanten" und einen "Walfisch der sich entschuldigt". Das sind Titel, wie wir sie ähnlich bei dem artverwandten Paul Klee finden. Hans Hildebrandt wertet ausführlich die Bedeutung Hermann Finsterlins in seiner "Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts", in dem er ihm einen rühmlichen Platz zwischen Klee und dem Surrealismus zuweist.
Doch ist das Schaffen Finsterlins keineswegs durch Architektur und Malerei begrenzt. Er ist auch Sprachschöpfer, er dichtet, komponiert, schnitzt, stickt. Er lotet empirisch alle Bereiche des Künstlerisch-Schöpferischen aus, phantasievoll, spielerisch, frei von allem Formalismus. Dabei ist es absolut nicht abwegig, daß er auch ein guter Porträtist ist, der das Hintergründige einer Persönlichkeit realvordergründig darzustellen weiß. Der menschliche Körper, vorzüglich der weibliche bedeutet für ihn das schönste Geschenk des Schöpfers, das er Künstler nachbilden darf.
Bekannte Experten, wie Redslob, Behne und Pazaurek, sind für Finsterlin eingetreten. Eine der ersten Kollektivausstellungen richtete Professor Pazaurek im Stuttgarter Landesgewerbemuseum ein (1928), nachdem Ausstellungen in Amsterdam und Berlin vorausgegangen waren. Die Aufnahme seiner ersten Bilder im Münchener Glaspalast, die Illustrierung von Ernst Häckels Werken, die Berufung als Professor an das Dessauer Bauhaus, die er wegen dessen Auflösung im Hitlerreich leider nur kurze Zeit ausüben konnte - das alles sind weitere Marksteine am Wege seines früheren Schaffens.
Unter den Ausstellungen der letzten Jahre nennen wir eine Kollektivausstellung in Wuppertal-Barmen (1954), Kollektivausstellungen im Kunsthaus Fischinger, Stuttgart (1954 und 1957) und ein ansehnlicher Beitrag zur Ausstellnng fünf bekannter Künstler in der Vaihinger Ludwig-Uhland-Bücherei (1959). Große Wandmalereien in Nordafrika und auf Mallorca, Fresken in den neuen Kunsthallen von Bad Mergentheim und Schömberg und in der Altweibermühle von Tripsdrill sind von seiner Hand gemalt. Das wissen nur wenige, weil der Künstler bescheiden, vielleicht allzu bescheiden, hinter seinem Werk zurücktritt. Gerade darum soll es aus Anlaß seines 75. Geburtstages öffentlich gewürdigt werden.
[Filder-Zeitung, 4. September 1962]*)
*) Signatur "WaG" und Datierung "Paris 1958" des Artikels beim Nachdruckdurch die Berliner Galerie Diogenes sind falsch. R.D.