1 Ulrich Zeh zeichnet mit Bleistift und farbig. Häufig vervielfältigt er seine Zeichnungen schließlich noch als Radierung oder Serigraphie.
2 Während eine linke Claque das Ende der Kunst fordert, da sie nichts zur Lösung gesellschaftlich-politischer Mißverhältnisse beitrage, affirmativ sei und überdies nur von der Clique verstanden werde, für die sie produziert werde, während besagte Clique sich - so gesehen - multimedial und interdisziplinär bestätigt, hat sich Ulrich Zeh entschieden, zu zeichnen.
3 Ulrich Zeh zeichnet entschieden nicht, was ihm so unter den Blei- beziehungsweise Buntstift kommt, er zeichnet auch nicht, was er sieht, sondern wie er es sieht: Menschen nicht im Augenblick des griechischen Körpers oder als Maß aller Dinge. Aber auch nicht wie Horst Janssen Gespenster oder Horst Janssen, von Rainer Schwarz ganz zu schweigen.
4 Gelegentlich scheint ihm Francis Bacon über die Schulter zu schauen, wenn Ulrich Zeh Sportler zeichnet, Männer, Frauen mit dem Stift aus der illustrierten Vorlage gleichsam herausseziert. Selten zur Gänze, vielmehr als Torso, entindividualisiert und auf merkwürdige Weise auf das vergrößert, was ihn interessiert.
5 Möglichst nichts sehen und nichts hören, schreibt Ulrich Zeh zum Beispiel einer Skizze zum Alter ein und kommentiert damit, was ihn interessiert: die Reduktion auf Banalität und das Alltäglich-Triviale, die in der Zeichnung dennoch herausgenommen wird aus der Trivialität und Banalität der illustrierten Vorlage.
6 Die Sportzeichnungen Ulrich Zehs zeigen torsoartige Monstren, den chemisch gedüngten Homunkulus, auf einem analytischen Wege bloßgelegt, ausgehend von der korrekt skizzierten Kontur des Aktes im Herauszeichnen symptomatischer Details.
7 Dabei nimmt Ulrich Zeh die Details nicht für sich, löst sie nicht ab. Er projiziert sie vielmehr auf Attribute ihrer jeweiligen Umwelt: den Sportler auf die Aschenbahn, der er nicht entrinnen kann, das Gesicht auf die Vergitterung durch Worte. Und er zeigt so seine Torsi in die ihnen jeweils zugewiesenen Attribute einer Umwelt verstrickt und verkrampft.
8 Sicherlich ist die Hürde ein Hindernis, das der Läufer überspringen kann und wird. Aber die von Ulrich Zeh bloßgelegte und damit sehbar gemachte Verkrampfung der Muskulatur, die zum Zerreißen gespannten Sehnen, der Stau des Knies sind als Folge dieser Hürde gleichsam an sie gebunden. Zwar läßt das Zimmer, in dem sich der Erschossene befindet, den Blick durch das, beziehungsweise aus dem vergitterten Fenster zu. Aber nur in einen weiteren Käfig aus Häusern. Der Käfig ist nur der Käfig im Käfig und so fort.
9 Ulrich Zeh hat bei Stanislaw Jerzy Lec gelesen: Du bist mit dem Kopf durch die Wand, was willst du in der Nachbarzelle tun? Mir scheint, Ulrich Zeh hat auch versucht, die Berechtigung dieser Frage mit dem Zeichenstift zu überprüfen. In Ulrichs Zehs Käfigen singt jedenfalls nicht mehr die Nachtigall Sumi Taigis: laut, als sähe sie ihres Käfigs Stäbe nicht.
10 So vermeidet Ulrich Zeh auch die Perfektionierung des Zeichenvorgangs, das wiederholte Durchspielen einmal entdeckter technischer Möglichkeiten und erworbener Fähigkeiten und damit die Verführung, unter der Hand goldene Käfige zu zeichnen.
11 Ulrich Zeh hat offensichtlich Angst vor der schönen Zeichnung. Daher erklärt sich wohl auch seine schnelle Abkehr von einmal gefundenen thematischen Beschränkungen, auf den Sport zum Beispiel, der in dieser Ausstellung nur mehr Stammtischthema ist. Ulrich Zeh selbst bezeichnet dies als Angst des Künstlers vor der Schönheit. Er spricht von dem möglichen Rausch neuentdeckter technischer Fähigkeiten. Er sagt: Ich muß mich zwingen, Verfremdungen einzubauen.
12 Auch diese Angst und den selbstauferlegten Zwang ihres Herstellers verraten Ulrich Zehs Zeichnungen oft im einzelnen. Aber sie zeigen zugleich, daß sie auch ästhetische Gegenstände sind und als solche gelöst von der Banalität und Trivialität des zugrunde liegenden gesellschaftlichen Anlasses der gewählten illustrierten Vorlage. Das ist ein Dilemma.
13 Aber das ist nicht das Dilemma des Zeichners Ulrich Zeh allein.
[Ausstellungseröffnung / Vervielfältigtes Typoskript zur Ausstellung "Ulrich Zeh. Zeichnungen und Radierungen" in der Studiengalerie des Studium Generale der TH Stuttgart 21.12.1971. Nachdruck in: Ulrich Zeh. Stadt&Landschaft weiß. Hrsg. von R.D. Leutenbach: HSW Verlag 1985]