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Reinhard Döhl | Strudel und Untiefe

Will man das, was Ulrich Zeh neben dem Zyklus seiner "Sportbilder" seit 1981 als Maler besonders beschäftigte, auf einen inhaltlichen Nenner bringen, müßte man von Landschaften sprechen, genauer von Landschaftsausschnitten, von Ausschnitten hügeliger oder flacher, winterlicher oder eher sommerlicher, von Schnee- oder Wasserlandschaften und sofort. Und viele dieser Landschaften wären sogar lokalisierbar. Die Schneelandschaften zum Beispiel auf dem schwäbischen Härtsfeld, die schwarzen Landschaften auf der kanarischen Insel Lanzarote, die "Ungenauen Landschaften" unter anderem im Kornwestheimer Stadtpark.

Damit wird bereits etwas faßbar, was allgemein die künstlerische Produktion Ulrich Zehs charakterisiert: nämlich, daß er selten das eine tut, ohne nicht auch das andere zu versuchen. Dabei entsprechen die kontrastiv einander zugeordneten lokalisierbaren Landschaften des schwäbischen Härtsfelds und der warmen kanarischen Insel Lanzarote auf der einen, auf der anderen Seite den "Ungenauen Landschaften", entspricht der Schneefläche mit ihren Unterbrechungen die Wasserfläche mit ihren Kräuselungen, ergänzen sich Strudel und Untiefe.

Selbstverständlich geht es Ulrich Zeh dabei nicht um naturalistische Landschaftsabschilderung, nicht um Abbildung von real Vorgefundenem. Denn alle hier einschlägigen Arbeiten sind nicht vor Ort, sondern ausnahmslos im Atelier entstanden, und zwar in der Umsetzung von Fotovorlagen. Wenn man so will, ist der Fotoapparat Ulrich Zehs Notizbuch, ein technisches Hilfsmittel, dessen er sich bedient, um Bildideen für eine eventuelle spätere Ausführung festzuhalten. Und diese Bildideen heißen nicht Härtsfeld oder Lanzarote oder Kornwestheimer Stadtpark oder See XY, sondern Schnee- oder Lava- oder ungenaue oder See- beziehungsweise Wasserlandschaft. Oder noch abstrahierter: weiße oder schwarze oder grüne Landschaft, "Wasserzeichen" und so fort.

Damit bin ich bereits bei der ästhetischen Diskussion dieser Arbeiten. Max Bense hat in einer Eröffnungsrede und einem Beitrag in der umfangreichen Zeh-Monographie "Stadt & Landschaft weiß", bezogen auf die "Weißen Bilder" Ulrich Zehs von "Schneelandschaft und Farbfleck" gesprochen und mit dieser Formel sagen wollen, daß es sich bei den Schneelandschaften um farbige Ereignisse, um Farblandschaften handelt. Und er hat damit eine Einsicht formuliert, die sich leicht auch für die anderen Arbeiten dieser Ausstellung geltend machen läßt. Wobei die Spuren dieser Farblandschaften oft Zeichencharakter haben, was der von Ulrich Zeh für die Wasserlandschaften gewählte Serientitel "Wasserzeichen" als durchaus beabsichtigt ablesen läßt.

Einen zweiten Aspekt hat Max Bense mit Hinweis auf den amerikanischen Schriftsteller Ambrose Gwinnett Bierce eher angedeutet als ausgeführt: Die Surrealität dieser Bilder, was im Sinne Benses als Subrealität zu verstehen ist.

Diesem subrealem Moment der Arbeiten Ulrich Zehs kommt man relativ leicht auf die Spur, wenn man auf ihre - wie ich es nennen möchte - Strudel und Untiefen achtet, die dem Betrachter schnell den sicher geglaubten Boden entziehen. Ein Serientitel wie "Ungenaue Landschaften", die Undeutbarkeit der "Wasserzeichen" weisen in dieselbe Richtung.

Dabei habe ich durchaus die Doppeldeutigkeit dieser Wärter im Sinn, denn "Wasserzeichen" bezeichnet nicht nur das durchscheinende Fabrikzeichen auf dem Papierbogen, es steht in der mystischen Literatur zum Beispiel auch für "wässeriges Sternzeichen", belegt etwa bei Paracelsus, der empfiehlt, "daß man Acht hab auff die Astra, daß sie seyendt im Element deß Wassers, und exaltirn sich in den Wasserzeichen."

Mag diese Vermutung beabsichtigter Doppeldeutigkeit hier noch Spekulation sein, im Falle der Untiefe, die sowohl eine seichte, gelegentlich nicht ungefährliche, wie eine besonders tiefe Stelle meint, ist nicht mehr zu streiten. "Die Eingäng", lese ich zum Beispiel in einer Übersetzung der berühmten "Utopia" des Thomas Morus, "seind erschrecklich, auf der einen Seiten wegen der Seuchte und Untieffe, auf der anderen aber wegen des Felsen". Und in Wilhelm Raabes "Vom alten Proteus" heißt es: "Da lag [...] das, was das Volk eine Untiefe oder Grundlose nennt, nämlich ein stehend Gewässer von geringem Umfange, aber einer nicht ausgemessenen Tiefe".

Konkret beziehe ich mich, wenn ich in diesem doppelten Sinne von Untiefe spreche, natürlich auf die "Wasserzeichen", aber ebenso auf die Spiegelungen in den "Ungenauen Landschaften" oder auf Bilder des Lanzarote-Zyklus, speziell eine "Studie über eine Landschaft auf Lanzarote", deren zentraler Trichter seine Entsprechung hat in einem trichterähnlichen Loch am Rande der Insel, das sich im Laufe der Zeit mit Meerwasser aufgefüllt hat, das, durch den schwarzen Sand ständig nachdrückend, durch Verdunstung allmählich eine ins Grünliche spielende Salzbrühe ergab, die zwar kein Leben zuläßt, wohl aber auf faszinierende Weise alle umgebenden Farben intensiv spiegelt.

Im Falle des Strudels findet sich bedeutungsgeschichtlich Vergleichbares, da das Wort sowohl die flächenhafte wie die in die Tiefe gehende Kreisbewegung bezeichnet, den oberflächlichen Wirbel ebenso wie die berühmte Charybdis. Wobei mir zusätzlich nicht unwichtig ist, daß der Begriff umgangssprachlich auch auf Menschen übertragen wird (1), und vor allem, daß er ein Stück Zehscher Malpraxis bezeichnet, so daß sich hier Bildtechnik und -bedeutung in einem Wort fassen lassen. Konkret beziehe ich mich, wenn ich in diesem mehrfachen Sinne von Strudel spreche, auf die kreisende Gestik mancher Arbeiten, speziell auf die schon genannte "Studie über eine Landschaft auf Lanzarote", vor allem aber auf die zahlreichen freigewirbelten oder freigetauten Stellen der weißen Landschaften sowie die wirbelähnliche Anlage einiger Holzschnitte dieses Jahres.

Vom "Wirbel im Malstrom" hat 1982 ein Kritiker angesichts der "Weißen Bilder" Ulrich Zehs gesprochen und damit - bewußt oder unbewußt - auf eine für die moderne Ästhetik zentrale Erzählprosa Edgar Allan Poes gewiesen. Wobei ich dem Vorwurf, hier werde der Exegese zu viel getrieben, vorab entgegne, daß die für einen Maler umfangreiche Bibliothek Ulrich Zehs natürlich eine Werkausgabe Poes enthält, daß Ulrich Zeh 1975 Poes Erzählung "Die Tatsachen im Falle Waldemar" illustrierte - Indizien, die sich vermehren lassen.

Edgar Allan Poes zur Diskussion stehende Erzählung "Der Sturz in den Malstrom" (auch zitiert als "Der Maelstrom"), wird den "Tales of terror" zugerechnet, denen es nicht um "Wahrheit in Gestalt von logischen Schlüssen und logischer Analyse" gehe, in denen vielmehr alles berechnet sei auf die Erzeugung eines einzigen Gesamteffektes, der, schwer zu umschreiben, mit dem Wort "Grauen" nur unzulänglich getroffen werde, eines Effektes, der im Schrecklichen plötzlich Schönheit erkennen lasse. Ein wörtliches Zitat macht dies deutlicher als jede Erklärung. Das Boot der beiden Lofotenfischer ist gekentert. Der Erzähler kreist im alles verschlingenden Malstrom.

"Ich nahm meinen Mut zusammen und blickte wieder auf meine Umgebung. Niemals werde ich die Gefühle von Ehrfurcht, Schrecken und Bewunderung vergessen, mit denen mich der Anblick erfülte. Das Boot schien wie durch ein Wunder an der inneren Oberfläche des Trichters zu hängen, der von weitem Umfang und unerkennbarer Tiefe war, und dessen glatte Flächen man für Ebenholz gehalten hätte ohne die erschreckende Schnelligkeit ihres Herumwirbelns und den grausigen Schimmer, der von ihnen ausging in den Strahlen des Vollmonds, der aus der kreisrunden Wolkenöffnung, die ich schon beschrieben habe, eine Flut goldenen Scheines auf die schwarzen Wände und weit hinunter in die innersten Winkel des Abgrundes ergoß.

Zuerst war ich zu verwirrt, um irgend etwas genau beobachten zu können. Die plötzliche Erscheinung schrecklicher Größe war alles, was ich begriff. Als ich wieder zu mir kam, wandte sich mein Blick unwillkürlich nach unten. [...] Die Mondstrahlen schienen den untersten Grund des tiefen Schlundes zu durchsuchen. Aber noch immer konnte ich nichts genau sehen, durch den dicken Nebel, der alles einhüllte und über dem ein herrlicher Regenbogen hing wie die schmale, schwankende Brücke, die nach dem Glauben der Mohammedaner den einzigen Pfad zwischen Zeit und Ewigkeit bildet." (2)

Was Edgar Allan Poe hier beschreibt, ist der Prozeß eines Umschlagens von Grauen in Erstaunen und schließlich in Bestaunen von etwas schrecklich Schönem. Ähnlich pointiert auch Max Bense, wenn er in Eröffnungsrede und Beitrag zur Zeh-Monographie Ambrose Gwinnet Bierce zitiert, der einen Toten mit den Worten beschreibt: "Noch nie hatte ich so etwas Schönes gesehen wie dieses abscheuliche Geschöpf" (= Bei Resacca gefallen).

Schönheit des Häßlichen, Grauen und Schönheit sind die Formeln, die die moderne Ästhetik hier zur Hand hat. Nur - in dieser Form gilt das für Ulrich Zeh gar nicht. Wohl aber in der Umkehrung: Häßlichkeit des Schönen, Schönheit und Grauen. Denn genau umgekehrt wie der Lofotenfischer begreift der Betrachter die Schmutzstellen in Zehs Schneelandschaften, die Farbflecken seiner Lanzarote-Landschaften, die Grüntöne, die Kreisbewegungen und Spiegelungen der "Ungenauen Landschaften", die Spiegelungen und Kräuselungen der "Wasserzeichen" durchaus als Strudel, als Untiefe, als ein in die vermeintliche Idylle eingeschlossenes Erschrecken.

Es gibt eine kunstgeschichtlich bekannte Bildtradition, in der arkadische Hirten einem Totenkopf, später einem Sarkophag konfrontiert werden, dem die Worte "Et in Arcadia ego" eingeschrieben sind. Was den Hirten der Idylle und über sie dem Betrachter des Bildes besagen will: Selbst in Arkadien herrsche ich, der Tod (3).

Was in dieser Bildtradition inhaltlich als Idyllenbruch durchvariiert wird, spielt Ulrich Zeh seit seinen "Gestörten Idyllen" ästhetisch durch. Zum Beispiel in den eher unnatürlichen Grüntönen seiner "Ungenauen Landschaften". Seine "Weißen Bilder" umfassen die Kälte des Schneefeldes und zugleich - physikalisch gesprochen - die Anwesenheit aller Farben im Weiß. Um dies sichtbar zu machen, bedarf es des Tauflecks oder der Schmutzstelle (je nach Einstellung des Betrachters). Ulrich Zehs "Schwarze Bilder" umfassen die Wärme des Lavafeldes und zugleich - physikalisch gesprochen - die Abwesenheit aller Farben im Schwarz. Um dies sichtbar zu machen, bedarf es des Trichters oder des Farbflecks (je wiederum nach Einstellung des Betrachters). Auf einer weiteren Stufe aber sind - da sich die Schmutzstelle auf das Schwarz und der Farbfleck auf das Weiß reziprok beziehen lassen - die "Weißen" und die "Schwarzen Bilder" Ulrich Zehs in dem gleichen Maße Variationen eines Themas, wie ihre genaue Lokalisierungsmöglichkeit auf der einen und die austauschbaren Lokalitäten der "Ungenauen Landschaften" auf der anderen Seite, wie die Untiefe hier und Strudel dort.

Das Thema aber, der gemeinsame Nenner, auf den man Ulrich Zehs scheinbar so unterschiedliche Arbeiten bringen könnte, die ästhetisch gestörte Idylle, wäre mißverstanden, sähe man in ihr ausschließlich ein malerisches Problem. Denn hinter ihm verbirgt sich als weiteres etwas, das sich vielleicht nicht direkt, in jedem Fall aber indirekt über die genannte Bildtradition des "Et in Arcadia ego" erschließt. Denn alle hier einschlägigen Bilder kontrastierten zu einer Zeit, die sich, statt längst überfällige Lösungen zu suchen, in Schäferspiele flüchtete.

Dieser Flucht aber sind die aktuellen, in der Regel unreflektierten Zurück-zur-Natur-Ambitionen durchaus vergleichbar. Blindlinks veranstaltete "Umweltschutzdemonstrationen", hat es der Gießener Philosoph Odo Marquard überspitzt, "sind die Schäferspiele der spätbürgerlichen Welt". Denen hinwiederum, möchte ich meinerseits überspitzen, setzt Ulrich Zeh die Strudel und Untiefen seiner gestörten Idyllen entgegen, ein Memento mit den Mitteln der Malerei.

[Rathaus Galerie Euskirchen, 5.10.1985. Druck in: Kunst Handwerk Kunst. Hrsg. von R.D. Kornwestheim: Edition Geiger 1986]

Anmerkungen
1) Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 20. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, Spalte 93 ff., spez. 99.
2) Edgar Allan Poe: Der Mord in der Rue Morgue. Geschichten zwischen Tag, Traum und Tod. Hamburg: Rowohlt 1959, S.94 f.
3) Vgl. zu dieser Bildtradition Erwin Panofskys klassischen Aufsatz "Et in Arcadio ego: Poussin and the Elegiac Tradition" in: Meaning in the Visual Arts. Papers in and on Art History by Erwin Panofsky. New York: Doubleday & Comp. 1955, S.295 ff.