1963 feierte die literarische Welt den 200. Geburtstag von Jean Paul, der von vielen seiner Zeitgenossen über den "Olympier" Goethe gestellt wurde, später in Vergessenheit geriet und erst in unseren Jahren neue Würdigung findet. Der Romantik gab Jean Paul entscheidende Impulse. Der begeistertste Anhänger Jean Pauls mag Robert Schumann gewesen sein. Nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Musiker fand Schumann im Werk Jean Pauls manche Anregung. Jean Paul, der gern und häufig am Klavier fantasierte, weist der Musik in seinen Romanen einen großen Raum zu, sei es, daß Bilder und Metaphern aus dem Bereich der Musik gewählt werden, sei es, daß die Musik selber Gegenstand der Betrachtung wird.
Um die Funktion der Musik in Jean Pauls Dichtung zu untersuchen, wählen wir als Beispiel den Roman "Flegeljahre". Jean Paul schrieb diesen Roman in den Jahren von 1795 bis 1805. Er faßte ihn als ein Gegenstück zum 1803 beendeten "Titan" auf: "Ich habe darin Titans Vulkane und Thronen verlassen und spiele wieder auf ebener Gasse der Bürgerlichkeit." Doch ungeachtet der bürgerlichen Szenerie bleibt Jean Paul seinem Stilprinzip treu, das er im "Quintus Fixlein" als beständigen Perspektivenwechsel charakterisierte: zum einen, sich tief in die Furche eines Gärtchens einzunisten, zum anderen, so hoch zu fliegen, daß die Welt "ein eingeschrumpftes Kindergärtchen" wird.
Die Hauptfiguren des Romans, Thema und Gegenthema, sind die Zwillinge Walt und Vult. Sie personifizieren die tief verwandte und doch unvereinbare Doppelnatur Jean Pauls, wie sie Schumann in seinem Studententagebuch "Hottentottiana" erkennt. Wir finden sie wieder in Schumanns fiktivem Freundespaar "Eusebius" und "Florestan". Walt ist Träumer, Dichter empfindungsreicher "Polymeter", im Leben ein "tumber tor", eingesponnen in die bunte Welt seiner Einbildungskraft, von Beruf frischgebackener Notarius. Vult, der als Flötenvirtuose die Musik in den Roman und in Walts Leben bringt, ist Abenteurer der Kunst und des Lebens, Realist und satirischer Beobachter.
Walt ist unverhofft Erbe eines riesigen Vermögens geworden, doch ist die Erbschaft an heikle Bedingungen und Proben geknüpft, von denen er am Ende des Romans nur einige hinter sich gebracht hat. Vult, als Kind dem Elternhaus entlaufen, begegnet Walt, als dieser seine schwierige Erbschaft antritt. Die Erbschafts-Handlung tritt im Verlauf des Romans immer mehr hinter die Zwillings-Handlung zurück. Die Brüder er- und verkennen sich als "ihr eigenes Widerspiel". Die Begegnung Walts mit dem Grafen Klothar stört zuerst die brüderliche Harmonie, die glückliche Begegnung Walts und Winas zerstört sie. Walt und Vult, innerlich zueinander hingezogen, können doch im Leben nicht zur Einheit finden. Der Roman endet offen, als Fragment, während er sich im Innern als Labyrinth des Erzählers Jean Paul erweist, der sich in den kauzigsten Ab- und Umwegen gefällt. (Anm. 1)
Die beiden wesentlichen Gesichtspunkte, unter denen sich die Musik im Roman darstellt, sind
I. die Beziehung von Musik und Gefühl,MUSIK UND GEFÜHL
II. die Beziehung von Musik und Dichtung (Synästhesie).
Vult spielt Flöte, indem er mit der Wirkung spielt und sie einkalkuliert. Dem Vater fiel er "mit einigen klingenden Paradiesen der Flöte, und zwar - weil er wußte, wie ihm Chorale schmeckten - mit diesen in den Rücken" (49). Für den Bruder blies er bei der ersten Begegnung "statt der schwersten Flöten-Passagen nur solche einfachen Ariosos, wovon er glauben durfte, daß sie ins unerzogne Ohr eines juristischen Kandidaten mit dem größten Glanz und Freudengefolge ziehen würden" (91).
Vom Virtuosen verlangt Vult, daß er imstande sei, "während er außen pfeift, innen Brezeln feilzuhalten... Rührung kann wohl aus Bewegungen entstehen, aber nicht Kunst, wie bewegte Milch Butter gibt, aber nur stehende Käse" (238). Heißt es von Walt: "er hatte oft zu viel Liebe, um Geschmack zu haben (Anm. 3), wie andere umgekehrt" (196), so könnte man von Vult eher sagen: "er hatte zuviel Geschmack, um Liebe zu haben". Der enttäuschte Geschmack schlägt um in Zynismus.
Schon als Kind versucht Vult, "ins laute gemeinschaftliche Abbeten eine Art Dreiachtel-Takt zu bringen" (492". Später sekundiert er die Rezitation eines sentimentalen Gedichts mit "närrischen Sechsachtel-Takten, Ballet-Passagen, sogar mit einem Wachtelruf", und eine satirische Epistel "mit Lagrimosis-Passagen und einigen Silben aus Haydns sieben Worten" (440). Die Menschen verdienen es nach Vults Meinung, betrogen zu werden. Und da sich "das deutsche Kunstpublikum in nichts inniger verbeißet als in Wunden und Metastasen" (117), konzertiert Vult in Haslau als blinder Virtuose: "das eine Auge unter einem schwarzen Band, mit dem andern starrblickend, den Kopf wie ein Blinder ein wenig hoch und die Flöte am Munde haltend - mehr um sein Lachen zu decken" (202).
Zuweilen bekommt Vult mephistophelische Züge, in hoffärtigem Anspruch und Verzicht an Thomas Manns Leverkühn gemahnend: "Der Musikdirektor der Sphärenmusik werd' ich doch nie, sagt' er einst, sich verbeugend die Flöte weglegend, und meinte wahrscheinlich Gott" (44).
Er nennt die Flöte "den Zauberstab, der die innere Welt verwandelt, wenn er sie berührt, eine Wünschelrute, vor der die innere Tiefe aufgeht". - "Die wahre Mondachse des inneren Monds" ergänzt ironisierend Vult (89).
Dem Träumer Walt wird das Gefühl zum Medium der Musik und die Musik zum Medium des Gefühls. Nicht wachend bewußt, sondern unbewußt medial folgt er dem abendlichen Flöten Vults: "unter dem mondhellen Flötenlicht" wird "sein klippenvolles Leben eine romantische Gegend" (483). Das Wort "romantisch" steht nicht von ungefähr an dieser Stelle. Ein wesentliches Charakteristikum der Romantik ist die Wechselwirkung von Musik und Gefühl. Töne werden zu Gefühlen. Bestimmte "Töne" werden zu einem unbestimmten "Tönen" (259). Das Spezielle wird zum Allgemeinen und so verwandelbar. Töne bekommen "Stimmen und Gesichte" (208). Musik wird zu irrealen Bildern und Träumen. "Die heilige Musik zeigt den Menschen eine Vergangenheit und eine Zukunft, die sie nie erleben" (92). Gefühle werden zu Tönen. Durch Gegenwart der geliebten Wina wird für Walt aus einer Flußfähre "ein auf Tönen sich wiegender Sangboden des Lebens" (360). Winas Dasein ist "eine sanfte Musik um ihn" (512). Die Liebenden gleichen "zwei Tönen, die unsichtbar zu einem Wohllaut zittern" (519).
Bezeichnenderweise ist es der empfindsame und empfindungsbereite Walt und nicht der skeptische Vult, der das all-einende "romantische" Gefühl personiflziert. Bei Vult erscheint die gefühlhafte Einheit von Objekt und Subjekt gestört. Ihm, der die Musik und mit ihr die Menschen als Virtuose zu meistern sucht, fügt sich die Musik der Natur nicht mehr bruchlos. Sein Plan zum Beispiel, mit Wina auf dem Wege über gemeinsames Musizieren eins zu werden - "wenn ein Paar durch das Ausführen eines zweistimmigen Satzes nicht einstimmig werden: so irr' ich mich sehr" (535) - hat etwas gewaltsam Bewußtes, das Walt völlig abgeht, und erfüllt sich so nicht. Die Dissonanz, die durch Vults Person und Leben geht, prägt auch seine Begegnung mit Walt. Walts Sehnsucht nach dem Grafen Klothar "verstimmt" ihn "wie eine Windharfe oder wie die Glocke einer Brockenkuh"; und sein Verhältnis zu seinem Bruder erscheint ihm so, als "ein langer unaufgelöster Verhalt auf einem Mißton" (234).
Die liebenden "Herzohren" Walts spüren wohl den Zwiespalt Vults: "er ist fast immer das Widerspiel seines Spiels und oft fast hart, wenn er sehr weich flötet." Doch versöhnen sich für Walt in der Musik die Dissonanzen der Welt. Das Flötenspiel Vults deckt ihm als "Flut alle die offnen rauhen Klippen der Welt mit einem weichen Meer" zu (458). Und gerade die Flöte Vults vermag in Walts allversöhnender Traumwelt die Stimmungen einzustimmen und wiederzutönen. Sie erschließt als "Wünschelrute" die "innere Tiefe", und das sprach-los sehnende Gefühl mündet in die unbegrenzte Irrealität der Musik.
Im Verlauf des Romans wird Vult zuweilen unsichtbar hinter der Flöte, die dann allein - quasi personifiziert - zu Walt spricht. So begleitet sie ihn aus der Ferne auf einer Wanderung: "Die Flöte floß ihm immer durch das Bette des Tales nach, ohne doch weder näherzukommen, wenn er stand, oder zurückbleibend, wenn er lief" (320). Die Ferne erscheint hier als "Folie der Flöte". Und wieder verschmelzen Natur und Musik: "Er hörte die Flö"te, die gleichsam aus dem Herzen der stummen Nachtigall sprach" (319). An solchen Stellen wird die Flöte fast zur Stimmungschiffre, wie später das "ferne Horn" in der Dichtung Eichendorffs. Als Walt einmal die Begegnung mit Wina erträumt, läßt er (im Traum!) die "ferne Flöte" seines Bruders erklingen, so als gehörte sie notwendig dazu: "wir haben die Sterne in der Hand und in der Brust, und schweigen und lieben. Da fängt eine ferne Flöte hinter dem Hirnmelsberge an, und sagt alles laut, was uns schmerzt und freuet: 'Es ist mein guter Bruder' sag' ich..." (291).
Es mag im Zusammenhang des Romanganzen symbolische Bedeutung haben, wenn Vult zuweilen hinter der Flöte, der Mensch hinter dem Instrument verschwindet und wenn die Flöte zur "fernen Flöte", das Spezielle zum Allgemeinen, wird. Trotz aller Berührung bleiben sich die Brüder fremd bis zu den "entfliehenden Tönen" ihrer endgültigen Trennung (572).
Wieder ist die Musik das Medium des Gefühls. Während des Flötenkonzerts Vults erträumt sich Walt die erste Begegnung mit Wina: "Wenn Töne schon ein ruhendes Herz erschüttern, wie weit mehr ein tief bewegtes! Als der volle Baum der Harmonie mit allen Zweigen über ihm rauschte: so stieg daraus ein neuer seltsamer Geist zu ihm herab, der weiter nichts zu ihm sagte als: 'Weine!'
- Und er gehorchte... die Töne bekamen Stimmen und Gesichte - diese Götterkinder mußten Wina die süßesten Namen geben - sie mußten die geschmückte Braut im Kriegsschiff des Lebens ans Ufer einer Schäferwelt führen und wehen - hier mußte sie ihr Geliebter, Walts Freund, empfangen unter fremden Hirtenliedern... Er nötigte jetzt Cherube von Tönen, die auf Flammen flogen, Morgenröte und Blütenstaub-Wolken zu bringen, und damit Winas ersten Kuß dämmernd einzuschleiern und dann weit davonzufliegen, um den stummen Himmel des ersten Kusses nur leise auszusprechen" (208).
Als Walt später in Winas Elternhaus Schreibarbeiten zu erledigen hat, sind es auch hier zunächst Töne, in denen Walts Sehnen Wurzeln schlägt. Die "Orpheus-Töne" einer Putzjungfer erbauen in ihm "eine Sonnenstadt nach der andern" (279). Dann ist es Wina selbst mit dem "letzten Wunsch" von Reichard: "ihre süße Sprache zerschmolz in den noch süßern Gesang, aus Nachtigallen und Echos gemacht - sie wollte ihr liebewarmes Herz in jeden Ton drängen und gießen, gleichsam in einen tönenden Seufzer; - den Notar umfing der lang geträumte Seelenklang mit der Herrlichkeit der Gegenwart so, daß ihn das heranrollende Meer, das er von ferne rollen und wallen sah, nun mit hohen Fluten nahm und deckte" (285). (Anm. 7)
Nunmehr erträumt sich Walt die Begegnung nicht mehr für einen "Freund" (wie im Konzert), sondern er wagt es für sich selbst, wenn auch in vertauschten Rollen: Wina als Pfarrerstochter aus seinem Heimatdorf Elterlein, er selbst als "Markgraf, oder Großherzog". Und da sie "schweigen und lieben", muß die Flöte des Bruders sprechen (291). Darin äußert sich wieder die romantische Auffassung, daß, wo die Menschen verstummen, die Sprache der Töne beginnt. (Anm. 8)
Unter einem tosenden Wasserfall werden Walt und Wina sich ihrer gegenseitigen Zuneigung bewußt. Der Wasserfall wird ihnen zur Musik, wobei Ton, Farbe und Gefühl untrennbar ineinanderspielen: "das herzerhebende Donnern und das Wetterleuchten des Stroms umrauschte, überdeckte beide mit himmlischen goldenen Flügeln gegen die Welt" (383). Danach stört Walt nicht der Regen, denn "da der Vorhang vor dem Singspiele der Liebe aufgegangen war: so wußt' er, mit Augen und Ohren unter ihren Gesängen und Lichtern wohnend, wenig oder nicht, ob es auf das Dach des Opernhauses regne oder schneie" (384); und es stört ihn nicht der Wind, der auf der Windharfe "einen mißtönigen Läufer und Kadenzen voller Schreitöne" spielt (385). Winas Dasein ist hinfort "eine sanfte Musik um ihn" (512).
Die erste seelische Berührung gleicht "zwei Tönen, die unsichtbar zu einem Wohllaut zittern" (519). Bei Gelegenheit eines Ständchens, das Wina (singend), Vult (spielend) und Walt (lauschend) einer Freundin Winas bringen, kommt es zur ersten zarten körperlichen Berührung. Diese löst vollends die Grenzen der Realität auf: "Freudentränen, Freudenseufzer, Sterne und Klänge, Himmel und Erde zerrannen zu e i n e m Äthermeere" (542). Nähe und Ferne vertauschen sich. "Der nahe Gesang" Winas scheint Walt "wie einem Ohnmächtigen aus weiten Fernen herzuwehen". Reale Musik und Traummusik gehen ineinander über. Nachdem die reale Musik erklungen ist, glaubt der "außer sich und außer die Welt" gesetzte Walt "noch immer, es töne um ihn".
Auch hier offenbart sich
eine symbolische Funktion der Musik. War schon bisher dadurch, daß
Vults Flöte oft die "ferne Flöte" war, auf eine innere Distanz
der Brüder hingewiesen, so bedeutet die Kombination "ihre näheren
Töne und Vults fernere", daß sich zwischen Wina und Walt eine
Vereinigung vollzieht, die zwischen Vult und Walt nicht gelang. Auch der
Satz am Ende des Ständchens "Die Flöte stand ganz nahe, das letzte
Wort wurde gesungen" mag nicht von ungefähr
stehen. Wina hat vor dem
Ständchen Vult eine Absage erteilt und damit unwissentlich die Trennung
der Brüder vollzogen. Die Flöte Vults wird Walt hinfort nicht
mehr begleiten. Der Gesang Winas löst sie ab. Zwar erklingt am Ende
des Romans Vults Flöte noch einmal. Doch ist sie dort gänzlich
Zeichen der Entfremdung und Kommunikationslosigkeit der Brüder geworden.
Walt erzählt von seiner Traumvision, die als metaphysische "Du und
ich"-Erfahrung die Walt-Wina-Begegnung zu erfüllen und zu übersteigen
scheint, und fragt Vult, was von diesem Traum zu halten sei. Statt zu antworten,
nimmt Vult seine Flöte und geht, sie blasend, "aus dem Zimmer - die
Treppe hinab - aus dem Hause davon, dem Posthause zu", während Walt
"entzückt die entfliehenden Töne reden" hört, "denn er merkte
nicht, daß mit ihnen sein Bruder entfliehe". So schließt der
Roman und mit ihm die Begegnung der Brüder, ungelöst.
SYNÄSTHESIE
In Walt und Vult, den beiden Hauptfiguren des Romans, personifizieren sich zwei verschiedene ästhetische Perspektiven, deren Aufspaltung im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Bildung von zwei Fronten führte: auf der einen Seite eine poetische, auf der anderen Seite eine absolute Auffassung der Musik. Der Gegensatz kommt im 25. Und 27. Kapitel des Romans, "Musik der Musik" und "Gespräch", denen quasi als Satyrspiel "das zertierende Konzert" eingeschoben ist, am deutlichsten zum Ausdruck. Doch ist es für die Doppelseele Jean Pauls, wie für die beginnende Romantik überhaupt, charakteristisch, daß beide Perspektiven auch aufeinander bezogen sind und ineinander übergehen können, sei es als Begrenzung des Unbegrenzbaren (Poetisierung der Musik), sei es als Entgrenzung des Begrenzten (Musikalisierung der Poesie).
Mit einem monumentalen Bild beginnt das Konzert: "...als Haydn die Streitrosse seiner unbändigen Töne losfahren ließ in die enharmonische Schlacht seiner Kräfte. Ein Sturm wehte in den andern, dann fuhren warme nasse Sonnenblicke dazwischen, dann schleppte er wieder hinter sich einen schweren Wolken-Himmel nach und riß ihn plötzlich hinweg wie einen Schleier, und ein einziger Ton weinte in einem Frühling, wie eine schöne Gestalt" (200). (Anm. 9) Walt hört mit seinen "Herzohren", und die Musik überspült und verwandelt ihn. Er wird "durch das ihm neue Wechselspiel von Fortissimo und Pianissimo, gleichsam wie von Menschenlust und Weh, von Gebeten und Flüchen in unserer Brust, in einen Strom gestürzt und davon gezogen, gehoben, untergetaucht, überhüllt, übertäubt, umschlungen und doch - frei mit allen Gliedern" (201).
Die letzten vier Worte sind zu beachten: "frei mit allen Gliedern". Musik ist kein bloßes Narkotikum. Walt vermag sie sich anzuverwandeln, sie setzt die Einbildungskraft in ihm frei: "Als ein Epos strömte das Leben unten vor ihm hin, alle Inseln und Klippen und Abgründe desselben waren e i n e Fläche - es vergingen an den Tönen die Alter -, das Wiegenlied und der Jubelhochzeit-Gesang klangen ineinander, e i n e Glocke läutete das Leben und das Sterben ein - er regte die Arme, nicht die Füße, zum Fliegen, nicht zum Tanzen."
Das folgende "Adagio" bringt lyrische Assoziationen: "Wie eine Luna ging das Adagio nach dem vorigen Titan auf - die Mondnacht der Flöte zeigte eine blasse schimmernde Welt, die begleitende Musik zog den Mondregenbogen darein.Walt ... hörte das Tönen - dieses ewige Sterben - gar nicht mehr aus der Nähe, sondern aus der Ferne kommen" (202). Die Musik, die die Nähe zur Ferne macht, gießt in die "Herzohren" der Menschen die unstillbare Sehnsucht nach einem Dauernden: "und das alte Heimweh in der Menschenbrust vernahm von vaterländischen Alpen ein altes Tönen und Rufen und weinend flog der Mensch durch heiteres Blau den duftenden Gebirgen zu und flog immer und erreichte die Gebirge nie". (Anm. 10)
Die Musik ist aber trotz aller Bilder nicht programmatisch aufgefaßt. Die "Szenen-Träume" sind teils von der Musik in Walt ausgelöst, teils von Walt der Musik zugesetzt, nicht aber von der Musik selbst eindeutig "dargestellt" bzw. "ausgedrückt". Der "Ausdruck" der Musik ist allgemeiner, nicht spezffizierter Natur: "0 ihr unbefleckten Töne, wie so heilig ist euere Freude und euer Schmerz! Denn ihr frohlockt und wehklagt nicht über irgendeine Begebenheit, sondern über das Leben und Sein und eurer Tränen ist nur die Ewigkeit würdig, deren Tantalus der Mensch ist. Wie könntet ihr denn, ihr Reinen, im Menschenbusen, den so lange die erdige Welt besetzte, euch eine heilige Stätte bereiten, oder sie reinigen vom irdischen Leben, wäret ihr nicht früher in uns als der treulose Schall des Lebens und würde uns euer Himmel nicht angeboren vor der Erde?" (203).
Dies stimmt zu Walts Glauben, daß "Poesie früher als Prosa" war (191). Die Musik erscheint darüber hinaus gewissermaßen als "Poesie der Poesie", als Urpoesie. Sie ist Sprache des Irrealen, nur Imaginativen, und nicht dazu da, Reales auszudrücken.
Nachdem bislang die Musik mehr Walts Empfindungen auslöste, setzt Walt mit Beginn des "Prestos" mehr seine Empfindungen der Musik zu. In Gedanken an Wina drückt Walt die meisten der anwesenden weiblichen "schönen Welten" ans Herz. "Unglaublich steigerte die Musik seine Zuneigung zu den Unverheirateten... '0 ihr sanften, sanften Mädchen, wär' ich ein wenig das Geschick, wie wollt' ich euch lieben und laben!...' Diesen Text legte Walt dem Prestissimo unter" (204). Und nach den "Hör-Ferien" bzw. "Sprech-Minuten" der Pause, in der Walt Wina erblickte, bekommen die Töne "Stimmen und Gesichte", sie müssen Wina "die süßesten Namen geben", sie müssen sie "ans Ufer einer Schäferwelt führen" und mit Morgenröte und Blüterstaub-Wolken "Winas ersten Kuß dämmernd einschleiern" (208). Die Musik tönt, wie es Walts "Herzohren" wollen. In Walts produktiver Einbildungskraft wird die Musik zur Poesie. Wieder zu Hause, setzt Walt "im Feuer, das fortbrannte" einen "Polymeter" auf (209).
Walt teilt Vult "die gewaltige Stärkung des Eindrucks mit, die er selber der Flöte durch die Szenen-Träume, durch die Mädchen und durch Wina zugeschickt" und veranlaßt damit Vults heftige Polemik gegen die zeitgenössische "spießbürgerliche" Musikauffassung: Tafelmusik lasse er noch gelten, weil sie so schlecht sei wie Tafelpredigten; von den verruchten Hofkonzerten, "wo der heilige Ton wie ein Billardsack am Spieltische zum Spielen spielen und klingeln muß", rede er nicht vor Grimm; doch das sei ein Jammer, daß auch die Konzertsäle, wo doch jeder bezahle, nicht besucht würden, um für das Geld etwas zu empfinden, "sondern damit das Klingen aufhöre ein paarmal und endlich ganz". Nur billige Effekte seien von Wirkung: "Hebt noch etwas den Spießbürger empor am Ohr, so ist's zwei-, höchstens dreierlei, 1. wenn aus einem halbtoten Pianissimo plötzlich ein Fortissimo wie ein Rebhuhn aufknattert, 2. wenn einer, besonders mit dem Geigenbogen, auf dem höchsten Seile der höchsten Töne lange tanzt und rutscht und nun kopfüber in die tiefsten herunterklatscht, 3. wenn gar beides vorfällt. In solchen Punkten ist, der Bürger seiner nicht mehr mächtig, sondern schwitzt vor Lob" (217).
Vult räumt zwar ein, daß Herzen übrigbleiben, die "delikater fühlen", doch könne er aufbrausen "gegen ein paar verliebte Bälge, die, wenn sie etwas Hohes in der Poesie oder Musik oder Natur vorbekommen, sofort glauben, das sei ihnen so recht auf den Leib gemacht".
Gegen diese objektivierende Wertästhetik versucht Walt seine subjektivierende Gefühlsästhetik zu verteidigen: "was kann denn ein Mensch für eine Empfindung oder gegen sie, es sei in der Kunst oder großen Natur? - Und wo wohnen denn beide; so groß sie auch sind, als nur in einzelnen Menschen? - Wohl mag er sie sich daher zueignen, als wären sie für ihn allein".
Doch diese subjektive Einschränkung
läßt Vult nicht gelten: "Darfst du Tränen und Stimmungen
in die Musik einmengen: so ist sie nur die Dienerin derselben, nicht ihre
Schöpferin. Eine elende Pfeiferei; die dich am Todestage eines geliebten
Menschen aus den Angeln höbe, wäre ,dann eine gute. Und was wäre
das für ein Kunst-Eindruck, der wie die Nesselsucht sogleich verschwindet,
sobald man in die kalte Luft wieder kommt? Die Musik ist unter allen Künsten
die
rein-menschlichste, die
allgemeinste" (218).
Walt setzt offenbar "allgemein" gleich "vieldeutig" und entgegnet: "Desto mehr Besonderes geht hinein." Während Vult in dem Kompositum "rein-menschlich" das Wort "rein" akzentuiert, akzentuiert Walt das Wort "menschlich". Er, der zuviel Liebe hat, um Geschmack zu haben (196), streitet um die Möglichkeit, der Musik eigene Empfindungen zuschicken zu können, ohne ihr die absolute "Reinheit" absprechen zu wollen. Vult, der zuviel Geschmack hat, um Liebe zu haben, will die Musik von musikfremden Empfindungen frei wissen, ohne ihr darum die "Menschlichkeit", d. h. die Bedingung menschlicher Leistung und Wahrnehmung, abzusprechen. Beide reden aneinander vorbei, weniger auf Grund ihrer verschiedenen ästhetischen Perspektiven als auf Grund ihrer verschiedenen Charaktere.
Nicht nur menschliche~Situationen, auch menschliche Stimmungen werden musikalischen Verhältnissen verglichen. Vult ist "verstimmt" "wie eine Windharfe oder die Glocke einer Brockenkuh", "ein langer unaufgelöster Verhalt auf einem Mißton" (234). Walt fühlt sich, wie er als der bevorzugte Universalerbe vor den anderen Erben erscheint, "als ein hoher Saitensteg..., auf welchen andere Menschen wie Saiten gespannt waren" (112). Ganz anders ist es ihm, als Graf Klothar seine "Polymeter" lobend zitiert: "Mit diesem silbernen Leitton wurd' er ordentlich von dem zur Saite gespannten Liebesseil, das ihn gab und worauf er tanzte, aufgeschnellt, er konnte die Himmel nicht zählen (der Flug war zu schnell), wodurch er fuhr" (260). Durch Winas Gegenwart wird aus einer Flußfähre "ein auf Tönen sich wiegender Sangboden des Lebens" (360). Auch Walts Überlegungen, ob er sich den Luxus einer Reise gönnen dürfe, vollziehen sich musikalisch: "Er las alle moralischen Regeln des reinen Satzes genau durch, um zu erfahren, ob er diese süßtönende Aufweichung oder diese Quinten-Fortschreitungen von Lust zu Lust in sein Kirchenstück aufnehmen würde" (295).
Außer menschlichen
Situationen, Stimmungen, Gefühlen und Überlegungen wird auch
der Mensch selber zuweilen musikalisch verbildlicht. Wina wird mit dem
"süßen Ton" ihrer Stimme (363), Vult wird mit seiner Flöte
identifiziert (z.B. 319, 458). Winas Dasein wird als "sanfte Musik" empfunden
(512). Die Liebenden werden zu "zwei Tönen, die unsichtbar zu einem
Wohllaut zittern" (519). Dieses Bild wird in der Traumvision gegen Ende
des Romans ins Kosmische erweitert: "die
beiden Sonnen gingen auf
- es waren nur zwei leise Töne, zwei aneinander sterbende und erwachende;
sie tönten vielleicht: 'Du und ich'" (571). Mehr im Realen bleibt
es, wenn im Tanz "der Körper Musik" wird; doch indem die Musik zur
Sphärenmusik wird, löst sich der Vergleich wieder im Irrealen
auf: zwei Seelen, die "einsam wie Himmelskörper in einem Ätherraum
um sich und um die Regel kreisen" (555).
Das musikalische Bild kann auch zur Karikatur werden, wenn etwa in einer Musizierszene ein Gläubiger als "ein ganz anderer Miß- und Dur-Ton, der vier Fuß lang war, höflich mit dem Hut in der Hand" ins Zimmer tritt (440).
Umgekehrt wie in den oben genannten Beispielen, wo Personen musikalisiert erscheinen, kann die Musik personifiziert erscheinen, wenn es z. B. heißt, daß "eine fremde Flöte so närrisch mit feindlichen Tönen durch die Nachtmusik gegriffen und geschrien" hat, "daß diese es für angenehmer hielt, überhaupt aufzuhören" (377).
Das amüsanteste Beispiel verbildlichter Musik und zugleich musikalischer Karikatur ist das Kapitel "Das zertierende Konzert". Das Wort "Konzert" bedeutet für Jean Paul etymologisch "Wettstreit"; und als "zertierendes" wird das Konzert ganz wörtlich zum Streit der Instrumentalisten. Der Streit bricht aus, als ein Deutscher den "deutschen großen Dreiklang" Haydn, Gluck und Mozart rühmt und damit den Widerspruch anderer, besonders der Italiener, erregt. Das Konzert beginnt - in der Schilderung Vults - unisono: "Der Baßgeiger, ein Welscher, mochte zuerst mit seinem Fidelbogen den Ellenbogen des Flötabec-Pfeifers im Feuer angestrichen oder vielleicht auch auf solchen, wie auf eine Baß-Saite, piccicato geschlagen haben - um wohl Harmonie der Meinungen vorzulocken" (210). Und es endet in einem "reichen Ein- und Vielklang": "Es kam eine beträchtliche Vereinigung des Organischen und Mechanischen zustande, Rückenwirbel und Geigenwirbel verknüpften sich, so Geigen- und sonstige Hälse, die Kunstwörter Vor- und Nachschlag, Dreimalgestrichen, Hämmerwerk, Kalkant bekamen organische Beziehung, die ohne dieses sonst als flaches Wortspiel gänzlich zu verwerfen wäre - jede Hand wollte der Geigenfrosch sein, der fremde Haare zu Tönen anziehet und spannt" (213).
Die räumlichen Dimensionen werden aufgehoben. In Vults Flötenkonzert hört Walt "das Tönen - dieses ewige Sterben - gar nicht mehr aus der Nähe, sondern aus der Ferne kommen" (202). Der "nahe Gesang" Winas scheint dem entzückten Walt "wie einem Ohnmächtigen aus weiten Fernen herzuwehen" (542). Die geheimnisvolle "Pans Stunde" verwandelt die Landschaft ins Irreale: "In der Nähe ist es leise, in der Ferne an den Himmels-Grenzen schweifet Getön" (324).
Die zeitlichen Dimensionen werden aufgehoben. Zwar ist die Zeitlichkeit eine Grunderfahrung der - von Jean Paul an anderer Stelle einmal "laufende Strichregen" genannten - Menschen: "Je dunkler und zeitlicher das Wesen, desto mehr Zeit kennt es...; nur ein Geist kann die Zeit vergessen, weil nur er sie schafft" (423). Und auch die Musik, "dieses ewige Sterben", ist der Zeitlichkeit unterworfen. Doch vermag die Musik in der Phantasie und im Traum die zeitlichen Dimensionen zu entgrenzen, vertauschen und vereinen. Sie zeigt den Menschen "eine Vergangenheit und eine Zukunft, die sie nie erleben" (92). Sie erscheint als "Mittlerin... zwischen Gegenwart und Zukunft" (192). Sie läßt das Leben "als ein Epos" dahinströmen, wobei das zeitliche Nacheinander des Lebens zum (quasi räumlichen) Miteinander wird: "alle Inseln und Klippen und Abgründe desselben waren e i n e Fläche - es vergingen an den Tönen die Alter - das Wiegenlied und der Jubelhochzeit-Gesang klangen ineinander, e i n e Glocke läutete das Leben und das Sterben ein (201). Einen ähnlichen Eindruck macht das "Summen und Aussummen" der Glocke im Glockenstuhl der heimatlichen Dorfkirche: "alle drei Zeiten des Lebens schienen darin untereinanderzuwogen" (494).
In der Unendlichkeit kommen Zeit und Raum zur Deckung: "Die Ewigkeit ist ganz so groß als die Unermeßlichkeit; wir Flüchtlinge in beiden haben daher für beide nur ein Wort..., Z e i t - R a u m" (310). Die Konfiguration von "Zeit" und "Raum" in dem Wort "Zeit-Raum" weist auf die ideelle Einheit im Unendlichen der Imagination, wo die Zeit "unermeßlich" als Raum und der Raum "ewig" als Zeit wird.
Vor allem im Traum weitet sich die Idylle zur kosmischen Perspektive, wird der Larventanz zum Sphärentanz, wird die Musik zur Sphärenmusik. Das Thema der Sphärenmusik wird zum ersten Male mit Vults Äußerung "Der Musikdirektor der Sphärenmusik werd' ich doch nie" angespielt (44). Was Vult nicht gelingt, gelingt indes der traumhaften Imagination Walts: Nach einer Begegnung mit Wina lauscht Walt einer Nachtmusik, indem er "die herrlichen Blitze des Klanges... auf sich einschlagen" läßt und "die Sterne und den Mond nach der irdischen Sphärenmusik in Tanz" setzt (376). Der Larventanz mit Wina wird in Walts Phantasie zum Tanz von Himmelskörpern, und er schildert ihr unter dem Tanz, "wie da sogar der Körper Musik werde - wie der Mensch fliege, und das Leben stehe - wie zwei Seelen die Menge verlieren und einsam wie Himmelskörper in einem Ätherraum um sich und um die Regel kreisen" (555).
Nicht nur die ästhetischen Bereiche als Gesamtheiten, sondern auch ihre einzelnen Elemente werden im Traum vertauscht und vertauschbar und gehen ineinander über: "... das verdämmernde Land erwachte und alles wurde verändert; denn die Blumen, die Steine, die Töne, die Tauben waren nur schlummernde Kinder gewesen.
Nun umarmte jedes Kind ein Kind, und die Aurora klang unzählig darein... Darauf spielten die Kinder untereinander 'Liebens'. 'Sei meine rote Tulpe', sagte das eine, und das andere war sie; und ließ sich an die Brust stecken. 'Sei mein liebes Sternchen oben', und es war es und wurde - an die Brust gesteckt. 'Sei mein Gott' - 'und du meiner', aber dann verwandelten sich beide nicht, sondern sahen sich lange an voll zu großer Liebe, und verschwanden wie sterbend dahin. - 'Bleibe bei mir, Kind, wenn du von mir gehst', sagte das bleibende; da wurde das scheidende in der Ferne ein kleines Abendrot, dann ein Abendsternchen, dann tiefer ins Land hinein nur ein Mondschimmer ohne Mond, und endlich verlor es sich ferner und ferner in einen Flöten- und Philomelenton" (570).
Die Bilder sind in permanenter Verwandlung befindlich. Die Gestalten gehen ineinander über und lösen sich auf in Farbe, dann in Licht und schließlich in den fernen Ton. Das Konkrete wird nach seiner sinnlichen Erscheinung stufenweise entgrenzt bis zum Grenzenlosesten und Fernsten, dem Ton, der auch in sich wieder entgrenzt und unbestimmt ist, in der Schwebe zwischen einem "Flöten- oder Philomelenton".
Die letzte Traumszene hat den Charakter eines feierlichen kosmischen Balletts, in dem sich wieder die ästhetischen Bereiche mischen, Gestalten, Farben und Töne vertauschen: "der Morgenröte gegenüber stand eine Morgenröte auf; immer herzerhebender rauschten beide wie zwei Chöre einander entgegen, mit Tönen statt mit Farben, gleichsam als wenn unbekannte selige Wesen hinter der Erde ihre Freudenlieder heraufsingen... Der Allklang hatte die Blumen zu Bäumen gereift. Kinder waren dem Auge zu Menschen gewachsen und standen endlich als Götter und Göttinnen da und sahen sehr ernst nach Morgen und Abend. Die Chöre der Morgenröten schlugen jetzt wie Donner einander entgegen, und jeder Schlag zündete einen gewaltigeren an. Zwei Sonnen sollten aufsteigen, unter dem Klingen des Morgens. Siehe, als sie kommen wollten, wurde es leiser und dann überall still. Amor flog im Osten, Psyche flog im Westen auf, und sie fanden sich oben mitten im Himmel, und die beiden Sonnen gingen auf - es waren nur zwei leise Töne, zwei aneinander sterbende und erwachende; sie tönten vielleicht: 'Du und ich'; zwei heilige aber furchtbare, fast aus der tiefsten Brust und Ewigkeit gezogene Laute, als sage sich Gott das erste Wort, und antworte sich das erste (571).
Gegenüber der Tendenz, das Grenzenlose zu konkretisieren, Musik in Bilder zu verwandeln ("Musik der Musik" bzw. Poetisierung der Musik), findet sich bei Jean Paul, vor allem in den Traumszenen, die umgekehrte Tendenz, das Konkrete zu entgrenzen, Bilder in Musik aufzulösen ("Poesie der Poesie". bzw. Musikalisierung der Poesie). Die Bilder werden aus ihren ästhetischen Zugehörigkeiten gelöst, die gewohnte Syntax der Bedeutung wird aufgelöst (allenfalls gibt der irreale Ort des Traums hierfür eine semantische Legitimation), und die freigesetzten, Bilder und Bildelemente treten in ein autonomes Spiel von Kombinationen, Permutationen und Variationen, das die Dichtung auch insofern "musikalisiert", als es ihre semantische Logik aufhebt. In dieser Hinsicht erscheint Jean Paul über die Romantik hinaus als Vorläufer symbolistischer und späterer Dichter.
Anmerkungen
1) Auf ein solches Stilprinzip
mag auch Schumanns Wort weisen, daß er von Jean Paul mehr Kontrapunkt
gelernt habe als von seinem Musiklehrer (Brief an Simonin de Sire vom 15.3.1839).
Daß Schumann in dem
"Larven-Tanz" gegen Ende des Romans eine spezielle Parallele zu seinen
"Papillons" sah (sei es als Anregung, sei es als Entsprechung), kann hier
nur am Rande notiert werden. Vgl. ausführlicher W. Bötticher,
"Robert Schumann. Einführung in Persönlichkeit und Werk...",
Berlin 1941.
2) Zitiert nach der Reclam-Ausgabe
der "Flegeljahre" (Universal-Bibliothek Nr.77-80/80 a-i), S.38.
Bei den folgenden Zitaten
finden sich die Seitenangaben in Klammern hinter den Zitaten.
3) Vgl. Thomas Manns "Das
Gefühl hat keinen Geschmack" oder Gottfried Benns "Gut gemeint ist
das Gegenteil von Kunst".
4) Zur Ergänzung sei
auf die Funktion der Maskerade bei den einzelnen wichtigen Begegnungsszenen
hingewiesen. Bei der ersten Begegnung fällt mit dem Erklingen der
Musik die Adelsmaske Vults, was die Erkennung ermöglicht. Bei der
Begegnung Walts und Klothars läßt Walt mit dem Verstummen der
Musik die Maske fallen und vereitelt so die Fortführung des Gesprächs.
Der "Larven-Tanz" gegen Ende des Romans ermöglicht Walt und Wina die
nahe Berührung (die Masken trennen nicht, sondern verbinden); und
in der Maske Walts empfängt Vult Winas Entscheidung für Walt.
5) Daß es sich - äußerlich
gesehen - umgekehrt verhält und zu Beginn die prosaische Testamentsszene,
am Ende des Romans die großartige Traumvision Walts steht, verrät
die meisterhafte Kontrapunktik Jean Pauls.
6) Eine Stelle, die Schumann
in seiner Jean-Paul-Ausgabe angestrichen hat. Vgl. W. Bötticher, a.a.0.
S. 204, Anm. 14.
7) Auch Vult hört Winas
Gesang, doch nicht mit "Herzohren" wie Walt, sondern mit den kritisch abwägenden
Ohren des Kenners. Er lobt ihre "köstliche kunstgerechte Stimme" (236),
"das edle Portamento der Sopran-Person, deren diminuendo und crescendo
und ihre herrliche Vereinigung von Kopf- und Bruststimme" (522). Doch evoziert
ihr Gesang bei ihm nicht Träume wie bei Walt, sondern ihre Stimme
"jagt" ihn umgekehrt "aus allen Satiren, Träumen, untergehenden Sonnen...
ins Ohr hinein" (326). Walt macht die Musik träumen, Vult macht sie
wachen und überlegen. Winas Gesang evoziert bei dem sonstigen Eheverächter
Vult den "vernünftigen" Gedanken: "Eine schöne Stimme aber zu
ehelichen durch Ehepakten - das ist Vernunft" (237).
8) Die gleiche Anschauung
finden wir bei Schumann, der die Töne "höhere Worte", "aufgelöste
Empfindungen", und die Musik "Sprache des Gefühls" nennt.
9) Dieses Bild mag den heutigen
Leser überraschen. Doch ist zu bedenken, daß Haydn auf die damalige
Zeit eine ganz andere Wirkung ausgeübt hat als auf die unsrige und
daß selbst E. T. A. Hoffmanns "romantisches" Musikideal sich an den
Klassikern orientierte.
10) Diese Stelle mag als
Vorbild zu Eichendorffs Mondnacht gedient haben ("Und meine Seele spannte
/ weit ihre Flügel aus / flog durch die stillen Lande / als flöge
sie nach Haus"), in der Vertonung Schumanns ein Herzstück der Romantik.
Die poetisch ausgesprochene
Musik bei Jean Paul wurde zum Klang der Eichendorffchen Verse, die Schumann
schließlich wieder in Musik faßt. So schließt sich der
Kreis: von der Musik des Konzerts (Haydn) über die Poesie Jean Pauls
und dann Eichendorffs wieder zur Musik (Schumann), bzw. eine Spirale, wenn
man bedenkt, daß darin der Schritt von der KlassIk zur Romantik enthalten
ist.
11) d.i. der griechische
"Aulos".