Reinhard Döhl: Hermann Finsterlin. Eine Annäherung / 2

Dichtung und Wahrheit

Die meisten Angaben zu Person und Werk Hermann Finsterlins sind mit Vorsicht zu gebrauchen, weisen Widerprüche auf und leisten in ihrer Tradierung zum Verständnis dieses in seiner Art einmaligen Künstlers kaum Hilfe. Das ist nicht Schuld der Bio- und Monographen allein. Finsterlin selbst hat über lange Zeit Angaben zu seiner Person verschmäht, Aussagen ausschließlich über sein Schaffen bevorzugt. Noch in hohem Alter erklärte er in einem Vortrag vor "Nachbarn und Freunden": "Ich hasse Biografien,- sie sind vor allein auf dem Kunstsektor deplaziert, denn Kunstwerke aller Art sollten für sich selbst sprechen", um zugleich einzuschränken: "um kleine Anhaltspunkte" käme auch er nicht herum, um "die zwei Sternstunden meines Lebens" (2).

Auch anderen Orts hat Finsterlin biographische Aussagen durchaus gemacht, haben sich neben der umfanglichsten, einleitend wiedergegebenen "Biographie in großen Zügen" mindestens ein halbes Dutzend vergleichbarer Skizzen und Entwürfe erhalten, gelegentlich in mehreren Fassungen mit zum Teil abweichenden, auch sich widersprechenden Datierungen (3).

Es läßt sich ziemlich genau angeben, wann Finsterlin mit diesen autobiographischen Notizen begonnen hat, denn die erste Niederschrift der "Biographie [...]" ist abschließend mit 1961 datiert. Das rückt sie in die Nähe von Finsterlins Wiederentdeckung um 1959 und legt die Vermutung nahe, daß Finsterlin spätestens zu diesem Zeitpunkt Leben und Werk nicht mehr unbedingt getrennt wissen wollte.

Finsterlin hat nach 1961 die "Biographie [...]" wiederholt ergänzt und ihre jeweiligen Fassungen auf Anfragen zur Verfügung gestellt. Sie bilden also, erweitert um die anderen autobiographischen Skizzen und eine Eröffnungsrede Otto Conzelmanns aus dem Jahre l953 (4), die Quellen, aus denen die Literatur über Finsterlin seit Beginn der 60er Jahre schöpft. Noch Franco Borsi zitiert daraus ausführlich in "Premessa" bzw. "Vorwort" seiner Monographie "Hermann Finsterlin. Idea dell'architectura. Architektur in seiner Idee" (5), ohne daß ihm zahlreiche Mißstimmigkeiten in Datierung und Zusammenhang aufgefallen wären. Uberhaupt hat bis heute eine Überprüfung der Angaben Finsterlins nicht stattgefunden, mit einer Ausnahme.

"Schon der erste Blick in die Dokumente und Sekundärschriften", konstatierte Gerhard Storck 1976, mache deutlich, daß die bisherige "Arbeit relativ nachlässig durchgeführt wurde, weil kaum ein Interesse [...] vorhanden war oder das Verständnis dafür fehlte" (6). Storck beschränkt sich in seiner Darstellung des "Falles Finsterlin" allerdings auf die Datierungen der "Ideenarchitektur", mit dem Ergebnis, daß "keine der später von Finsterlin hinzugefügten Jahreszahlen als gesichert gelten" kann. Die Erklärung, die Storck dafür findet, ist so verblüffend wie hilfreich. Finsterlin habe, so vermutet er nämlich, "zu einem späteren Zeirpunkt (wahrscheinlich noch in den zwanziger Jahren) die 'Architekturen' nach inhaltlichen Motiven zu einzelnen Gruppen zusammengestellt [...] - und nicht zu 'Folgen' nach ihrer Entstehungszeit.[...]Erst später" seien "die Blätter dann in der Regel signiert und datiert worden" (7). Läßt sich das Ergebnis von Storcks punktueller Ermittlungsarbeit verallgemeinern, würde dies bedeuten, daß auch Finsterlins autobiographische Hinweise und Angaben eine mehr "inhaltliche" als chronologische Funktion haben, daß es Finsterlin in ihrem Falle mehr darauf ankam, Leben und Werk in übergeordnete Zusammenhänge zu stellen, als in eine simple zeitliche Abfolge zu bringen. Das allerdings entbindet das Bemühen um Person und Werk Finsterlins nicht von der Aufgabe, Dichtung und Wahrheit soweit möglich zu trennen, wie auch Storck sicher ist, daß für die Zukunft "kein Weg daran" vorbeiführe, "die Architekturen zeitlich genau in ihrer Abfolge zu bestimmen", wolle "man später zu einem endgültigen Urteil kommen. Dies" aber könne "nur unter Einbeziehung des gesamten Originalmaterials geschehen - also auch der nicht architektonischen Blätter -, und zwar auf Grundlage von Stilvergleichen und im Hinblick auf die Arbeiten des Freundeskreises um Bruno Taut" (8). Es ist dies eine für die Zukunft fraglos berechtigte Forderung, die allerdings dahingehend zu erweitern ist, daß auch das andere Werk Finsterlins, seine Literatur, seine Essays, seine bildnerischen Arbeiten, seine Baukästen und Spielsachen sowie seine Kompositionen mit in den Vergleich gebracht werden müssen. Wenn dieses umfangreiche Material gesichtet und gesichert ist, werden nicht mehr nur einseitige, sondern vernünftige Urteile über Finsterlin möglich.

< Biographie in großen Zügen | Großbürgerlich-herrschaftliches Ambiente >


Anmerkungen 2 - 8
2) Der nicht genau zu datierende Vortrag ist in zwei Typoskripten erhalten, deren zweites wesentlich erweitert wurde.
3) Neben dem Vertrag vor "Nachbarn und Freunden" und der "Biographie [...]" sind im Folgenden berücksichtigt eine "Kurze Biographie" in Er-Form, ein dreiseitiges Typoskript ohne Überschrift("Am Beginn meines bewußten Lebens [...]"), ein vierseitiges Typoskript ohne Überschrift ("Man hat mir oft meine verhältnismäßige gute und stabile wirtschaftliche Lage [...]"}, die Antworten auf eine Anfrage Nikolaus Pevsners namens der "Architectural Review" aus dem Jahre 1962, deren Abschrift irreführend mit "Beantwortung des Londoner TH-Archivs" überschrieben ist, sowie eine kurze biographische Notiz über die Jahre l925 und 1930. - Gedruckt ist ausschließlich die "Kurze Biographie" in Borsi: "Hermann Finsterlin" (s. Anm 6), S. 337 ff.
4) Conzelmanns Rede wurde hektographiert von Finsterin immer wieder in Ausstellungen ausgelegt und zur Information verschickt und ist damit praktisch autorisiert worden. Gedruckt wurde sie in gekürzter, redigierter Form u.a im Katalog der Münchner Retrospektive von 1964 (s. Anm. 21) und bei Borsi: "Hermann Finsterlin" (s. Anm. 5), S. 327 ff.
5) Firenze: Libreria Editrice Fiorentina 969. L'occhio e le seste, 2. - Künftig zit.: Borsi.
6) Gerhard Storck: Der Fall Finsterlin. In: Ausstellungskatalog: Hermann Finsterlin (1887-1973). Ideenarchitektur 1918-1924. Entwürfe für eine bewohnbare Welt. Krefeld: Museum Haus Lange 28.März-2.Mai 1974, o.P. - Künftig zit.: Storck. - Das Zitat ebd., S. [5].
7) Storck, S.[8).
8) Storck, S. [10].