Trotz Hildebrandts nachdrücklicher
Erinnerung dauert es nach der Berchtesgadener Beteiligung noch einmal fast
ein Jahr, bis am 31.Januar 1953 im Stuttgarter Kunsthaus Fischinger von
Conzelmann Finsterlins erste Einzelausstellung nach dem Kriege eröfnet
wird. Sie fand in der Stuttgarter Presse sowie im Rundfunk ein lebhaftes
Echo, dem sich aber auch viel Hilflosigkeit ablesen bzw. abhören läßt.
Vielen Kritikern dienten bis in die Fehler hinein ("Gläserne Brücke"
z.B.). Hildebrandts Artikel, Conzelmanns ausführliche Rede als Anregung.
Soweit möglich, zog man sich auf biographische Hinweise zurück,
betonte die Rolle des "Einzelgängers", die Phantastik, das Groteske
der Arbeiten (mit Verweisen auf Morgenstern, Scheerbart, aber auch auf
Caroll, Klee, den Surrealismus), diagnostizierte Spurenelemente des Jugendstils
und entdeckte neben
naturalistischen Anklängen
auch kubistische Momente. Das macht die Kritiken kaum aufregender als die
der 20er Jahre.
Wie schon in den 20er Jahren geht auch diesmal eine Erfolgsmeldung nach Berchtesgaden, zitiert der "Berchtesgadener Anzeiger" die "Stuttgarter Nachrichten":
"Hermann Finsterlin ist eine vielseitige Begabung, ein unternehmender Kopf, er sucht als (korr. aus: ein R.D.) Maler seinen Ausdruck vor allem. Er entzieht sich jeder Einordnung in eine Berufskaste, als Künstler aber will er Überall das gleiche, nämlich die 'statische Form durch die bewegte ersetzen'. Beim ersten Blick auf Finsterlins Malerei, drängt sich dem, der bemüht ist, die Kunst seit van Gogh bis zur jüngsten Gegenwart als eine wachsende Einheit eines sich nur variierenden Stilwillens zu sehen, [auf], wie sehr Finsterlin zwischen Jugendstil, Kandinsky und dem Heute die fehlende Verbindung bedeutete, halb gegenständlich, halb abstrakt."
Es kann gut bei diesem einen Beispiel bleiben. Die meisten nach dem Kriege zu Finsterlins Arbeiten erscheinenden Kritiken bringen in ihrer Hilflosigkeit zu seinem sich nicht entwickelnden Werk keinerlei neue Einsichten. Daß Finsterlin auch jetzt wieder die einzelnen Kritiken vor ihrer Abschrift und Weitergabe redigiert, ist ebenfalls nicht neu. So fehlt zum Beispiel im "Berchtesgadener Anzeiger" der kritische Hinweis der "Stuttgarter Nachrichten" auf die "Gefahr {Finsterlins), plötzlich abzurutschen bei einer Farbenphantasie, bei seinen skurrilen Träumen aus Spaß und Spuk in Bildern", und in einer Abschrift einer Kritik von Clara Menck in der "Neuen Zeitung" wird der berechtigte Einwand eliminiert, daß "die Porträts zeigen, wie fern diesem Geist der wirkliche Mensch ist. Er wird zur glatten, oft süßlichen Maske."
So bringen eigentlich die ersten Nachkriegsausstellungen 1953 im Stuttgarter Kunsthaus Fischinger, 1954 in der Kunsthalle Barmen, 1957 noch einmal bei Fischinger nichts eigentlich Neues mit der einen Ausnahme, daß Finsterlin am 26. Februar 1953 "zum Abschluß seiner Ausstellung" "aus seiner Dichtung" liest. Mit dieser Lesung erprobt Finsterlin erstmals eine kombinierte Präsentation zweier Kunstarten, die für weitere Ausstellungen vorbildlich werden sollte. Statt den Bildern wie bisher Gedichte lediglich beizulegen, spricht er, umgeben von seinen Bildern, seine Gedichte, oder es streuen auch die Eröffner jetzt zunehmend Gedichte Finsterlins in ihre Eröffnungen mit ein. Zwei Beispiele für viele: Innerhalb der Ausstellung "Hermann Finsterlin. Malerei und Architektur", die der Kunst- und Museumsverein Wuppertal am 2. Mai 1954 in Anwesenheit des Künstlers eröffnete, war für den 4. Mai ausdrücklich zu einer "Vortragsveranstaltung", "Gedichte von Hermann Finsterlin" eingeladen. Die Eröffnung der großen Werkausstellung am 25. Mai 1973 im Wrttembergischen Kunstverein durch Franz Sepp Wrtemberger war eher eine Gedichtrezitation mit verbindenden Worten als eine Vernissage-Rede, enthalten doch die 18 DIN-A5-großen Typoskriptseiten ganze 21 Gedichte.
Von Finsterlins mutmaßlich erster Dichterlesung hat sich keine Kritik erhalten, dafür eine zur Lesung in Wuppertal-Barmen, die hier stellvertretend zitiert sei:
"Es gibt nur wenig so kammermusikalisch
angenehme Dichterlesungen wie die gestrige in der Kunsthalle Barmen. Hermann
Finsterlin las zwischen seinen eigenen Gemälden, die dabei eine besondere
Lebhaftigkeit gewannen; er las bescheiden, unpathetisch, und oft mit jenem
Lächeln auf den Lippen, das in fast allen seinen Versen schwingt.
Eine unchronologisch bunte Auswahl aus vielen Jahren, wechselnd zwischen
skurrilen klingenden Wortphantasien und transzendierenden Besinnlichkeiten,
aber auch diese ohne bohrende Tiefgründelei. Hintersinniges wird mit
witzigen Kehrtwendungen nach vorn geholt und entschwert, und philosophische
Erkenntnisse, Lebensweisheiten können einem Wortspiel entspringen.
Dieser Maler-Dichter ist nach seinen Worten ein "illegaler Grenzgänger
der Welt", der auf den beweglichen Schwingen seiner
unerschöpflichen Phantasie
die Grenzen des menschlichen Geist- und Sinnenbereiches ansteuert, um sogleich
wieder in versöhnliche Menschennähe zurückzutreten, dem
Menschen die Erdenschwere zu erleichtern, ihm falsche Götzen, etwa
der Astrologie, zu enthüllen oder auch gelegentlich liebenswürdig-frech
echteren weltanschaulichen Autoritäten den würdigen Faltenwurf
zu lüften. Alle liebevolle Verherrlichung des Lebens und seiner Geschöpfe
enthält eigene Lebensfrömmigkeit und Religiosität; davon
spricht er nur unfeierlich und 'aufgeräumt'. Seine Kunstspiele mit
der Sprache, die surrealistischen Phantasie-Geschöpfe und die humorvolle
Weltkritik haben nicht so säuberliche Kompetenz-Grenzen gegen die
ernsthafte Gedankenlyrik wie bei Christian Morgenstern, dem er nach Geist
und Stil eng benachbart ist. Schade, daß es diese Verse nicht gedruckt
und zu kaufen gibt."
Undatiert, wahrscheinlich zur Wuppertaler, vielleicht aber schon zur Stuttgarter Lesung, gehört eine Vorbemerkung Finsterlins, die deutlich machen sollte, wie er seine Gedichte verstand.
"Ich grüße Sie und danke Ihnen, daß Sie mir nach dem Auge nun auch noch Ihr Ohr leihen wollen, für meine zweite Muse Thalia. Wenn ich die Anwesenheit der Bilder benützt habe, um eine[r], dem beschränkten Raum entsprechend kleine Hörerschaft, welcher mein Wort-Spiel meist noch unbekannt ist, auch diese Facette meines Ausdrucks zugänglich zu machen, so deshalb, weil diese Zwillinge meiner Kunst sich so sehr aufschlußreich ergänzen oder besser gesagt vertreten.
Es ist Ihnen bekannt, daß gewisse chemische Elemente in allotropen Formen auftreten können, wie z.B. der Schwefel. Auch Schmetterlinge einer Art können bis zum Fremdschein mutieren. So ist's auch bei meinen Bildern und Gedichten und Kompositionen.
Sie entstammen einem Weltgefühl. Und wie in der Malerei das absolut surreale neben einem fast extremen Naturalismus steht (was mir freilich von mancher konsequenten Seite oft schwerlich verziehen wird), so werden Sie auch in der Dichtung die tollsten Luftorchideen, die unmenschlichsten Gebiete reiner Idee finden neben einfachster, menschlichster Lyrik, denn je höher ich in den Wolkenkuckuckskrater steigen will, um so näher muß ich auf der Erde bleiben als Anker, als Sicherheitsventil, um an den Abgründen der schizophrenen Mondkrater nicht abzurutschen.
Und noch etwas. Wenn Sie vielleicht ein Hauptelement aller gewohnten Poesie in der meinen vermissen, die Meta-pher, so kommt das daher, daß meinem Wesen alles Vergleichende, eben alles Meta-phorische, Symbolische, Allegorische fremd ist, daß ich aber alles Unvergleichliche, Persönliche, Einmalige, anerkenne und liebe, wo immer es mir entgegentritt, trotz Ben Akiba, und Mephisto's: Original, fahr' hin! usw.
Und wenn einmal etwas nach Weltanschauung riechen sollte, - es riecht nur so. Ich habe keine Welt-Anschauung - nur ein Weltgefühl, das alle Weltansichten in sich schließt; und wenn ich einmal polemisch werde, dann nur gegen extreme Dogmen, die sich Allgemeingut anmaßen.
Sie werden auch kein Problem in meiner Dichtung finden, so wenig wie in den Bildern. Problem ist Analyse und als solche Wissenschaft. Kunst aber will Synthese sein von vornherein, ein Gebilde, das irgendwie beglücken will, lockern, beschwingen, interessieren und - sagen wir es ruhig, im allerhöchsten Sinne 'unterhalten", schwerelos und schmerzlos, so wie die unverwundbaren germanischen Götter im Spiel sich mit Speeren durchbohrten, bis die spießige Mistel, der ewige Parasit, den lichten Baldur fällte."
Finsterlins damalige Auftritte
als Dichter sind weniger überraschend, wenn man weiß, daß
um 1950 Friedrich Carl Lamprecht in Berchtesgaden damit begonnen hatte,
Finsterlins umfangreiches Gedichtwerk zu ordnen. Der jüngere Lamprecht
hat diese Arbeit nicht zu Ende führen können und wäre bei
der Fülle der
Finsterlinschen Gedichte
wahrscheinlich in jedem Fall gescheitert. Dennoch sind seine Bemühungen
nicht unwesentlich, weil sie ein paar Aspekte klären helfen.
Lamprecht hat aber nicht nur versucht, das Gedichtwerk Finsterlins zu ordnen, er hat auch in Berchtesgaden darüber öffentlich gesprochen. "Hermann Finsterlin - ein unbekannter bayerischer Dichter" ist eine ohne Datum und Quellenangabe erhaltene Kritik dieses Vortrags überschrieben, aus der hervorgeht, daß Finsterlins Gedichtwerk insgesamt den Titel "Die Spielarten Gottes" tragen sollte, konzipiert auf die drei Bände: "Um Phantasie zu werben bin ich da", "Was dauern will, muß eigensinnig sein" und "Das Unsagbare ist das einzig Wahre".
Einem undatierten Brief Lamprechts an Finsterlin ist ergänzend zu entnehmen: "Drei Bücher Gedichte zeichnen sich ab. Das erste ist bis auf einzelne Neueinfügungen und Umstellungen in sich abgeschlossen und könnte es nicht besser sein. Es ist der Ungemeine mit seiner Art, seinen Gedichten, seiner Weltschau, seinem Lied von der Erde, seiner Kritik der Fehle und seiner Selbstbefreiung. - Das Zweite Buch enthält einzelne Bücher, Zyklen des Ungemeinen." "Göttliche Vagabunden" und "Lieder des Pan" nennt Lamprecht zwei dieser Zyklen, "die das Dritte Buch vorbereiten", das "nun ganz dem 'Ungemeinen' selber geweiht" sei. "Es wird in dieser Anordnung des organischen Hervorgehens des Einen aus dem
Anderen so weit man das überhaupt sagen kann: allgemein verständlich werden! Und das ist viel - braucht auch noch viel Arbeit ist aber so vielversprechend auch. - Das Zweite Buch ist auch soweit fertig, bekommt noch zu den Liedern des Pan einiges aus dem Material von 3.3 aber bedarf noch einer gründlichen Sichtung, wenn auch die Gliederung mir schon feststeht. - Aus Deinem lieben Weihnachtsgeschenkbuch habe ich die neuen Sachen herausgenommen und in das Ganze eingegliedert. Man kann wohl sagen, daß es ein Kosmos der Fülle wird, das Ganze! - Anzuschließen an diese drei Gedichtbände wären noch in einem 4. resp. 5. Band die Prosa. Dann hätten wir die 'Gesammelten'. Doch sind mir die Gedichte in dieser Ordnung so wichtig, daß ich daran noch nicht einmal denke. Wie schön diese Fülle!"
Einige Klarheit bringen Lamprechts Briefe auch in die mehrfache Angabe Finsterlins, Verleger hätten sich für sein Werk interessiert. Eine erhaltene Liste zeigt, daß Lamprecht in der Tat an zahlreiche namhafte deutsche Verleger geschrieben hat. Offensichtlich erfolglos, denn "nach Versagen der Deutschen" schlägt er in einem Brief vor, die Gedichte "den Schweizer Freunden zu einer Veröffentlichung in der Schweiz zu geben". Und er bietet in einem undatierten Briefentwurf "An die Chefredaktionen" verschiedener literarischer Periodika und Zeitschriften, nachdem "das Gesamtwerk (...) einem Schweizer Verlage übergeben" sei, "um auch so der gesamteuropäischen Bedeutung dieser Dichtungen Rechnung zu tragen", ein kleines Konvolut Finsterlinscher Gedichte zur "Auswahl" und zum Vorabdruck an. Zusammen mit einem "Geleitartikel" von seiner Hand. Allerdings kamen weder ein Druck der Gedichte in der Schweiz noch ein Vorabdruck in Deutschland zustande. Der "Geleitartikel", der wahrscheinlich mit Lamprechts Berchtesgadener Vortrag identisch ist, bildet 1964 die Einleitung zu einer schließlich im Selbstverlag Finsterlins erschienenen Gedichtauswahl: "Lieder des Pan. Ein Griff in ein halbes Jahrhundert", die gerade noch rechtzeitig zur Münchner Retrospektive von 1964, "60 Jahre Finsterlin. Querschnitt durch sein Schaffen", erschien und diese damit auch literarisch ergänzte. Allerdings ist Lamprechts einleitendes Vorwort mit 1930 falsch datiert. Hier müßte es wohl 1950 heißen. Nicht herauszufinden war, ob die Anordnung dieser endlich erschienenen Gedichtauswahl mit dem von Lamprecht vorgesehenen gleichnamigen Gedichtszyklus des 2. Bandes identisch ist oder nicht.
Im Falle einer anderen Datierung schafft der Briefwechsel Lamprecht-Finsterlin ebenfalls Klarheit, nämlich für die Bekanntschaft mit Hans Steiner. Im Anschluß an die Bitte, "bald noch die restlichen Gedichte" zu schicken, schreibt Lamprecht in einem wiederum undatierten Brief: "Kürzlich Beratung mit Prof. Steiner, der eine Nacht lang die Gedichte anhörte - für mich war es Leseprobe zwecks erneuter Abstandnahme - für ihn wie er meinte der schönste in Berchtesgaden verbrachte Abend. Er meinte, man müsse sie da und dort zum Abdruck bringen, man müsse einen Aktionsplan planmäßiger Einschaltungen entwerfen. Wenn er zu seiner Mitschrift kommt, wolle er veröffentlichen. Bester, wann kommst Du mal nach hier? Der alte Steiner würde Dir gefallen."
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