Hermann Finsterlin: Rede gehalten in der Akademie der Künste Berlin am 28.2.1964

Liebe Freunde!

Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, amen. Ich bin glücklich, hier zu Ihnen sprechen zu können und danke Ihnen für diese Gelegenheit. Sie wissen, jedes reine Echo bedarf des ganz entsprechenden Reflexes, jeder Lichtstrahl braucht seinen Widerstand, um in Erscheinung zu treten und diese ich möchte fast sagen symbiotischen Widerstände erhoffeich mir hier im besonderen Maße.

Da ich nun heute hier auch als Mitglied einer Gruppe - als Glied einer Kette - die, wie Sie sehen, in einem halben Jahrhundert keineswegs zerbrochen ist, in Erscheinung trete, möchte ich auch gleich vorweg mein besonderes Verhältnis zu dieser Gemeinschaft klären, das durch die, etwas unglückliche Verbindung der "Gläsernen Kette" mit Paul Scheerbart in der Leverkusener Ausstellung etwas entstellt worden war, vor allem in der Presse.

Das Gemeinsame unserer damaligen Bindung war das "Was" das Trennende das "Wie". - Wir waren so verschieden in unserem Bauausdruck, wie wir einig in seiner Mission waren. Aber eben wegen dieser fruchtbaren Verschiedenheit konnte von einer gemeinsamen geistigen Abhängigkeit von Scheerbart keine Rede sein. - Höchstens noch bei Bruno Taut, der mit Scheerbart den Vorstoß in die reine Utopie gemeinsam hatte, der sich freilich heute schon als großartige Raumfahrtstationsprophetie zu verwirklichen scheint. Ich jedenfalls habe erstmals ca. 15 Jahre nach der Gründung der "Gläsernen Kette" etwas von Scheerbarts Schriften kennengelernt und sie literarisch wohl sehr sympathisch gefunden, architektonisch aber habe ich, was damals manchen erstaunt haben mag, jede unabsehbare Utopie als Begriffsverwirrung abgelehnt. Ich baute meine Zukunftshäuser und Dome für diese Erde, auf diese Erde, - baute mit allem Drum und Drin des bewohnbaren, in einem höheren Sinne zweckmäßigen Raumes, baute im architektonischen Sinn keine "gut bürgerliche Küche", sondern festliche "Delikatessen".

Ich setze nun gerne voraus, daß die Mehrzahl von Ihnen schon durch die Ausstellung einen kleinen Einblick in meine ganz persönliche Bauweltanschauung gewonnen hat, so daß ich meine Ausführungen auf das Wesentlichste beschränken kann, auf das, was meine Idee scheinbar am unüberbrückbarsten scheidet von der Architektur unserer Zeit, - scheinbar, denn die Idee der organischen Architektur in ihrem wortwörtlichsten Sinn liegt seit mehr als einem halben Jahrhundert schon als unvermeidlicher Pol einer zum Extrem gewordenen Bauform in der allgemeinen Bauluft.

Darf ich nun mit einem alten Gedicht beginnen, das apriori mein Verhältnis zur Jahrtausendealten Grundlage unserer gesamten Bauerei klärt, zum Würfel, also zum Kristall. Es war ein seltsamer Hymnus einer scheinbar angeborenen Haßliebe zu dem Sechsseiter, durch mich geborenen Außenseiter:

Wo ich dich sehe, holder Hexaeder,
Ob groß, ob klein, ob rot, ob weiß, ob blau,
Du bist ein Wesen solcher Seelennähe,
Daß ich dich liebe wie die Menschenfrau.

Du lebst für mich, aus dir strahlt die Empfindung
Wie eines Engels Liebestat mir zu.
Und gar kein Wunder ist mir diese Bindung,
Von Anbeginn umworbener Würfel du!

Das war ein ganz perfides, weil ironisches Gedicht.

Aber nun heraus aus dem Kristall und hinein in den Organismus. Als solcher war mir der Bau stets das "Gesamt-Kunstwerk", das absolute Kunstwerk, die hohle Riesenplastik die nicht nur ein äußerliches anregendes Formerlebnis vermittelt wie ein genialer Kunstgegenstand, ein kleines dreidimensionales ansprechendes "Außerhalb", sondern auch ein großes "Innerhalb". Gleichsam eine stete Geburt, eine Veräußerung aus einem anorganischem Organ, das man als ausgewachsener Organismus verläßt, um sich jederzeit in die Geborgenheit dieses erstarrten

organischen Umraumes mit seinen differenzierten Reliefen wieder zurückzuziehen.

Wie eine Schnecke. Ja, wie eine Schnecke, nur eben im Gegensatz zu diesem noch primitiven Urahn, nun mit geistigen formenreichsten Ausschwitzungen die Schutzhülle bauend und organisch von ihr emanzipiert wie die Ökopleura, der wunderliche Einzeller, der bei Gefahr aus seinem Silberpantöffelchen schlüpft, um es hernach neu zu bauen. Aber dort immer dasselbe eben, wie es das Trägheitsgesetz der untermenschlichen materiellen biologischen Welt befiehlt, wo des Menschen Geist in Freiheit jederzeit unendlich variieren und differenzieren kann.

Im Grunde also das Märchen von Gulliver in 2 Bänden, Gulliver bei den Liliputanern und Gulliver bei den Riesen. Die naturgegebene Entwicklung der ursprünglichsten, schöpferischen Menschenäußerung gleichsam als Projektion eines Geburtsaktes im Bau der ersten bergenden Halbkugelhülle des Naturmenschen bis hinauf dann zu den höheren Differenzierungen im östlichen Kultbau ist bis heute trostlos übersehen worden. Nur so konnte die primitive Massendifferenzierung im kristallinischen Zweckbau in die endliche Sackgasse führen, in die sterile, leblose, technische Architektur.

Die tieferen Gründe zu dieser kristallinischen Verspannung wie bei einem Infusor im langsam eintrocknenden Wassertropfen, vor allem in den westlichen Stilen ist mir nie ganz klar geworden (klimatische Depressionen)?

Wir brauchen wieder eine menschenwürdige Bau-Kunst, damit nicht zukünftige Aus-Graber unserer "Kultur" die Erbauer dieser Riesenbrutkästen eines kristallisierten Menschenvolks als vollendete, mechanisierte Roboter analysieren.

Wir stehen heute an einem großen Scheidewege, an einem Entscheidungswege. Es geht darum, ob wir als arme Hyperboräer in einem klimatisch stiefmütterlichen Erdteil für immer auf Tropen im Geiste verzichten wollen wie sie zuletzt die romantischen, weltsinnvollen Stile der Renaissance, der Gotik, des Barock, versucht und begonnen haben, oder ob wir diese periodischen Wellen materiellen und geistigen Reichtums, die scheinbar in den verheerenden chronischen Kriegen bis zur Vernichtung verebbt waren und die schließlich in den [u]niformen Wucherungen unserer heutigen Technik entarteten bis zum absehbaren Ende alles Menschentums überhaupt, ob wi[r] diese Welle wieder zu einer Flut anschwellen lassen wollen und können, eine neue Gezeit, welche die Form endlich vollends in die Unendlichkeit der Spielarten entwickelt. - So wie der gleichsam schematische Hering des Nordens in den Korallenriffen der Südsee sich auslebt in der göttlichen Unbegrenztheit formaler und farbiger Wunder. An dieser Stelle aber möchte ich vor allem der Jugend bewußt machen, daß Formenreichtum Phantasie, Form und Farbenspiel etc. nicht identisch ist mit Chaos; Anarchie, aesthetischer Gesetzlosigkeit wilden Impulsen und ungelenkter Dynamik. Der tollste Korallenfisch, der ausschweifendste Paradiesvogel, die hybrideste Orchis sind Beweise des, noch in der schwindeligsten Vielfalt beherrschten [a]usgewogenen Compositionsgenies des Naturgeistes. Der Kristall darf noch unverantwortlich sein, jeder Organismus aber, auch der primitivste, muß funktionieren. - Aller Anfang, alle Großartigkeit des Ein-Fachen in Ehren, aber die Schöpfung ist nicht nur Beginn. Sie ist keine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, sondern eine gigantische beglückende Spirale mit polaren Unabsehbarkeiten. Was wir gegenwärtig noch erleben ist ein Spiralpunkt, der senkrecht über dem Anfang steht, nur Stockwerke höher, aber über der Primitive.

Und - Hand aufs Herz - so selig es ist, ein Kind noch zu sein, wer bliebe gerne ewig Kind? Vor allem ein Riesenkind, das höchstens eine pathologische Erscheinung sein kann, aber nie ein gesunder Erwachsener. Wer möchte auch die Tugend aus Not verewigen. Einmal wird die leer, arm, lange-weilig, langweilig wie unsere Städte, wie unsre Technik, unsere Maschinen, unsere Musik, unsere Bilder, unser Leben. Ich bin hier mit vollem Bewußtsein einseitig, aus einer ausgeprägtesten Bipolarität meines Wesens heraus. Ich bekenne ruhig, daß auch mich die Hafeneinfahrt New Yorks begeistert, wie grandiose technische Anlagen, Brücken usw. oder die Tempelstädte von Madura, aber neben der Schönheit eines Alaunkristalls oder eines Fluoritkristalls fehlt mir der Zauber eines Tropenfalters oder einer Orchidee. Und nicht undankbar bin ich mir bewußt, daß ohne die Entwicklung unserer Technik meine Zukunftsarchitektur unter den heutigen menschlichen Verhältnissen wohl nicht denkbar wäre.

Die größte Einfachheit in der Materie kann sich natürlich in einem fabelhaften Reichtum im Geistigen auspendeln, - aber ist das heute der Fall? Der Geist will nicht nur über dem Wasser schweben. Der Schöpfer hat uns vorgemacht, daß alle Entwicklung, alles Reifen in die Bereicherung geht, in die Differenzierung, Verfeinerung, in die Vielfalt, in die Schönheit und die Vollendung. Sollten wir nicht auch in dieser Beziehung wohl geratene Kinder Gottes sein? Die Tropen des Geistes sind nahe und in ihnen entsteht vielleicht auch wieder einmal ein bell canto und "La bella casa"! La bella casa novissima, das Noch niedagewesene!, dem alten Ben Akiba zum Trotz.

Und darum lassen Sie mich diese "Gläserne Kette" auch mit einem Gedicht schließen, das diesem Trotz entsprang.

Das Unerhörte, wenn mir das gelänge - -
Ja, dann möcht ich wohl lang lebendig sein,
wenn über meinen Schatten ich mal spränge,
Und finge unbekannte Klänge
Ein,
Und zwänge
Ungeschaute Farben plötzlich
Ins Blickfeld der Bewohner auf dem Stern.

Und Dome türmten sich, verwandt ergötzlich
Selbst dem Idee gewohnten Weltenherrn,
Ja, Bauten, die vom Zweck noch nicht geschändet,
Nur einem Sinne hörig, schön zu sein,
Aus Schaum geboren, ewig Schaum gebärig,
Amöbe Gottes, fall mir endlich ein!