Hermann-Finsterlin-Gesellschaft e.V.
Reinhard Döhl | Hermann Finsterlin. Spielsachen und Spiele

Papiertheater | Der Rattenfänger von Hameln | Alle möglichen Tiere und Bauten | Architekturbaukästen | Kartenspiel | Homo ludens | Anmerkungen

Alle bisherigen Veröffentlichungen und Ausstellungen zum Werk Hermann Finsterlins haben sich um eine grundlegende Frage gedrückt: die Frage nämlich, in welchem Umfang Spiel und Spielen am Gesamtwerk Finsterlins teilhaben. Dabei hätte bereits zu denken geben müssen,

Die Schömberger Ausstellung "Spielsachen und Spiele" und ihr Katalog wollen deshalb das Augenmerk nicht wie üblich von den Architekturen auf das andere Werk, das es eben auch gibt, richten, sondern nach dem Spiel in Biographie und Werk Finsterlins fragen.

Papiertheater

Vater hatte, erinnert sich Hellmut Finsterlin, aus der eigenen Kindheit ein auf einem Tisch Platz findendes Pappe-Marionetten-Theater aufbewahrt (2), und Gabriele Reisser-Finsterlin präzisiert: Noch vor Schulbeginn schenkte ihm seine Mutter einen großen Kasten zum Aufklappen, so entstand ein Theater mit Rückwand für Kulissen. Dabei waren Karton-Bögen, auf denen zum Ausschneiden Figuren aller möglichen Opern farbig aufgedruckt waren. Auf Holzklötzchen konnten sie nun auf der Bühne bewegt werden. Die Namen der Figuren beschriftete meine Großmutter. (3)

Dieses Papiertheater hat sich erhalten, ebenso zahlreichere Spielfiguren (4) nebst den zugehörigen Textheften.

Aus der Literatur wissen wir um die Rolle, die solche Papiertheater seit der Zeit des Biedermeier/Vormärz im Kreis (groß)bürgerlicher Familien gespielt haben, mit literarischen und autobiographischen Belegen von Ludwig Tieck bis Albrecht Goes (5), die einen eigenen Vortrag wert wären. Ich beschränke mich im Kontext der heutigen Ausstellung auf Erinnerungen bildender Künstler.

So beschreibt der 1802 in Petersburg geborene Maler Wilhelm von Kügelgen in seinen "Jugenderinnerungen [...]", im Kapitel "Ein Kindermord und seine Folgen", wie er zum erstenmal 1813 in Dresden ein Marionetten-Theater besuchen durfte, und wie er diesen Besuch verarbeitete:

Zu Hause hatte ich nun nichts Eiliges zu tun, als alles nachzumachen. Es wurde ein Theater konstruiert, gepappt, gekleistert und angestrichen. Auf Notenpapier malte ich den König Herodes und die übrigen, wie sie mir im Gedächtnis waren, und schnitt sie sauber aus. Dann wurde mit der Aufführung des Kindermordes vorgegangen. Die Geschwister gaben Publikum und Orchester zugleich ab. Mein Bruder trompetete schmetternd mit dem Munde und schlug die Pauken auf seinem eigenen Leibe, und auch die kleine Schwester machte tapfer Musik, bis ich klingelte und die Vorstellung ihren Anfang nahm.

Inzwischen wurden wir des einfachen Sujets bald überdrüssig. Ich fing an, mich in eigenen Ideen zu ergehen, und nun erst gewann die Sache rechten Reiz für mich. Ich wurde ein berühmter Puppenspieler unter meinesgleichen, ja selbst Margarete verfehlte nicht, mir zuzusehen mit "assez bien" und "fort joli!" und da ich alles selbst machen mußte, Text, Malereien und Aufführung, so hatte ich immerhin auch meinen Nutzen von diesen Spielereien. (6)

An ein vorgefertigtes Papiertheater erinnert sich der 1885 geborene Münchner Maler Rolf von Hoerschelmann: Große gesellschaftliche Ereignisse aber waren die Aufführungen des Puppentheaters, die, vom Vater inszeniert, einer zahlreichen Zuhörerschaft den "Robinson Crusoe", den "Freischütz" oder gar "Die Räuber" vermittelten. Ich kann nicht leugnen, daß es Eindrücke fürs Leben waren. (7)

Daß das Papiertheater auch für den 1887 geborenen Hermann Finsterlin bedeutungsvoll wurde, läßt sich bereits daran ablesen, daß er es für seine Kinder wieder auspackte und bespielte, sowie daran, daß er es später durch eine Bühne aus Holz ersetzte, zu einer Zeit, in der er auf der anderen Seite selbst ernsthaft Szenarien und Filmskripte verfaßte. Diese Szenarien und Filmskripte (8) sind zwischen 1919/1920 und 1925 entstanden. Da die Kinder ihre ersten Erinnerungen an das Papiertheater ihres Vater mit vielleicht knapp vierjährig (der Sohn), mit etwa vier bis fünf Jahre alt (die Tochter) datieren, ergeben sich die Jahre 1920 bis 1924 als die Jahre gemeinsamer spielerischer Theatererfahrung. Die erste Erinnerung des Sohnes ist eine Aufführung des "Rattenfängers von Hameln" durch den Vater im Jahre 1920 oder 1921.

Der Rattenfänger von Hameln

Es war ein großes Fest, als er [...] den Rattenfänger von Hameln zur Aufführung brachte. [...] Die beleuchtete Bühne, die in der Tür vom Elternschlafzimmer zum Wohnzimmer stand, der verdunkelte Zuschauerraum, die gewisse Feierlichkeit, in der die Zuschauer Platz nahmen, sodann die Vorhänge auf der Bühne - ich begriff nichts, doch faszinierten mich die Bewegungen, die es auf der Bühne gab sowie die Lichtspiele - all das beeindruckte mich sehr. Zum Schluß tanzte der Rattenfänger an der Spitze der Kinderschar auf der Bühne und verschwand dann mit ihnen in der Dunkelheit. Vater hatte die Silhouetten des flötenden Anführers und die Kinder aus schwarzer Pappe herausgeschnitten und an einem Reifen befestigt. Dieser hing an unsichtbaren Fäden und drehte sich. Merkwürdiger Weise durchschaute ich diesen 'Mechanismus', während mir der Sinn des Dramas vollständig verborgen blieb.

Nun ist "Der Rattenfänger von Hameln" Ende des 19. Jahrhunderts ein auf dem Papiertheater beliebtes Stück gewesen (9). Hermann Finsterlin hat nicht nur die zugehörigen Dekorationen, die ausgeschnittenen Spielfiguren und das Textheft (10) des Eßlinger Schreiber Verlags besessen, sondern offensichtlich mit ihnen und nach ihm gespielt.

Dem steht die Erinnerung des Sohnes an die vom Vater aus schwarzer Pappe ausgeschnittenen Silhouetten des Rattenfängers und der Kinder entgegen. Was zwei Spekulationen zuläßt:

Wobei zusätzlich zu fragen ist, welcher Text dieser Rattenfänger-Inszenierung zu Grunde lag. Denn im Nachlaß befindet sich außer dem Textheft des Schreiber Verlags ein fünfseitiges Manuskript eines Rattenfänger-Spiels von Finsterlins Hand, das sich, bei stark reduziertem Personal, auf merkwürdige Weise vom Textheft des Schreiber Verlags unterscheidet. In ihm ist nämlich der Rattenfänger kein fahrender Spielmann, der die Kinder im Auftrag des Feenkönigs Luminus befreit und in den Feenpalast bringt, sondern ein Heilsbringer, der schließlich zu einem Engel mutiert, der die Kinder gen Himmel führt. Allerdings ist das Personal des Feenpalasts ebenfalls durch Flügel ausgezeichnet.

In diesem Manuskript schließt die 3. Szene:

Gitter schieben sich von allen Seiten herein [...] bis die Scene ganz dunkel ist. Eine Zeitlang Stille. - Dann ganz ferne wieder d[as] Rattenfängerlied. - Mit dem Stärkerwerden des Lichts nimmt die Helle zu und die Gitter lösen sich, das Tor öffnet sich, bei vollem Klang zieht der R[attenfänger] draußen vorbei mit einer Kette von Kindern als Silhuetten [sic, R.D.]. Dämmernder aber unwirklicher Morgen. - Leuchtender gelber Hintergrund.

Chor der Kinder, - erst von ferne.
O Wunder o Wonne
Der Traum ward endlich wahr
Nie strahlte so hell die Sonne
Nie war der Himmel so klar
Nie klangen so nah die Sterne
Und duftete so die Luft
Es war alles so dumpf und ferne
Wie Träume in dunkler Gruft.
O Freiheit, aller Gnaden
Zauberhaftestes Glück,
Es führt kein tückischer Faden
In unsere Kerker zurück.
Uns ist so leicht zu Mute
Seit der da vorne uns führt,
Es ist als ob in seinem Blute
All unser Wesen sich kürt,
Vollende, Du Heiland, Dein Tuen,
Und leite uns zu uns allein
Du lockst nicht auf Gipfel zum Ruhen
Du führst in den Berg hinein!

Die folgenden zwei Szenen hat Finsterlin damals offensichtlich nicht mehr gespielt oder sie sind dem Gedächtnis des Sohnes entfallen.
4. Szene. [...] großes offenes Felsentor durch das der Kinderzug zieht, der Spalt ist voll Licht. Nach dem Letzten schließt sich das Tor. -
5. Scene. Freie Wiese, in der Ferne ein ragender beleuchteter Berg, der sich wolkenartig nach oben öffnet. Ihm entsteigt ein Engel, unter seinen Flügeln eine Schaar Kinder und junges Volk, er fliegt gen Himmel.
Musik.
Vorne strömen die Bürger zusammen und schauen das Phänomen, - starr unter vereinzelten Seufzern. -
Alle möglichen Tiere und Bauten

Daß Finsterlin Anfang der 20er Jahre auf dem Papiertheater schon gedrechselte Tierfiguren eingesetzt hat, ist unwahrscheinlich. Sicherlich eine Rolle gespielt haben sie aber auf der Bühne aus Holz, die Mitte der 20er Jahre das Papiertheater ablöste.

Die Vorderseite, erinnert sich der Sohn, war ein senkrecht stehender Halbbogen, die Rückseite wurde durch einfarbige Hintergründe ergänzt. Bäume wurden aus geeigneten Baumwurzeln gemacht, die eine bestimmte Farbe bekamen und einen Fuß aus Plastilin hatten. Alle möglichen Tiere und Bauten ließ er aus Holz fertigen. Sie wurden, der Erinnerung der Tochter zufolge, nach eigenen Zeichnungen [...] gedrechselt. Seine dazu verfaßten Gedichte schlugen wahre Purzelbäume.

Einige um 1928 zu datierende Archivfotos lassen ablesen, mit was Finsterlin sein Theater bei wechselnden Hintergründen bestückt hat: z.B. mit dem "Wolkenkuckuck" und einer Schnecke vor einem Hochhausmodell oder mit Würfeln, Musikinstrumenten und einem Regenbogen vor einer Notenkulisse, aber auch mit Kombinationen aus dem "Formdomino" oder Phantasiebauteilen. Auffällig ist der stets wechselnde, freilich nicht einfarbige Hintergrund.

Man kann davon ausgehen, daß zu den meisten noch erhaltenen Tieren nicht nur Gedichte sondern auch kleine Spiele existierten. Wenn sich zum Wolkenkuckuck ein zweiter gesellt, der auf einem an den Fudschijama gemahnenden Berg sitzt, deutet sich bereits eine Geschichte an. Zum Schwan gehört mutmaßlich die kleine Szene "Der Schwan, der die Diebe auseinandersetzt" (11), eine Szene, in der zu den guten Tieren noch ein Pferd, ein laufender Fisch, der immer seinen Schwanz verliert und eine Knotenschlange, in der zu den schlechten Tieren die Diebsmäuse, die Riesenmaus und die Schlange aus Kupfer und Blei zählen.

Natürlich spielen viele dieser Tiere auch an anderer Stelle des Gesamtwerks ihre Rolle. Ich hatte in "Hermann Finsterlin. Ein Werkquerschnitt" bereits auf die Bedeutung der Schlange im und für das Gesamtwerk verwiesen und einen Schlangenbaum abgebildet, gezeigt, daß der Regenbogen sowohl in der Freskenmalerei wie in den erotischen Zeichnungen eine Rolle spielt. Der Elephant, der sich in einer farbigen und einer naturbelassenen Fassung erhalten hat,  korrespondiert in der Bilderwelt Finsterlins mit dem Ganesha der Mythologie. Die Nacktschnecke des abgebildeten Bühnenbilds gibt es auch mit Haus und wird dann ebenfalls gerne in erotischen Architekturen und Zeichnungen ausgedeutet. In einer gedrechselten Version trägt sie statt des Hauses eine Moschee auf dem Rücken.

Aber nicht nur den Tieren und Spielfiguren, auch dem Bühnenbild galt ein besonderes Interesse Finsterlins. Dieses Interesse läßt sich bis zu ersten Theaterbesuchen zurückverfolgen und belegt nach 1912 mit Bühnenbildentwürfen zu "Siegfrieds Tod" wie später mit den Aquarellen "Lohengrin" und "Parzifal" zugleich Finsterlins großes Interesse an Wagner. Und wen der Hintergrund der letztgenannten zwei Archivfotos an Finsterlins frühe Landschaftsmalerei erinnert, der sollte den Aphorismus Hermann Finsterlins mitbedenken: Jedes schöpferische Bild ist gleichsam ein Bühnenentwurf.

Architekturbaukästen

Gleichzeitig bestätigen diese Archivfotos, was die "Moscheenschnecke" demonstriert: die offene Grenze zwischen Spielsache und Architekturspiel. Hermann Finsterlin hat 1928 in den Abbildungen eines Prospekts zum "Stilspiel" nicht nur die Stiltypen der Weltarchitektur sondern in zwei der drei Abbildungen auch Phantasiebauten mit dem Stilspiel gezeigt. Und er hat dafür geworben, die Handhabung des Stilspiels [...] nicht auf die großen historischen-abstrakten Bautypen zu beschränken, erklärt, daß die Ursprünglichkeit der Bauelemente [...] unendliche Kombinationen zweiter Ordnung ermögliche, die trotzdem nie ins Chaotisch-Geschmacklose entgleisen können kraft der bestimmten Anzahl, Größe und Vielförmigkeit der Bauteile, was somit auch eine Beigabe festlegender, phantasiehemmender Vorlagen jenseits der historischen Reihe für das spielende Kind entbehrlich mache. (12)

Erläuterungen Finsterlins zu seinem "Lehr-, Spiel und Versuchsbaukasten" erschienen erstmals im Frühjahr 1922 im "Frühlicht". In ihnen unterscheidet Finsterlin 3 große Epochen der Weltarchitektur, und er geht dabei aus von Kugel und Würfel als den beiden Polen aller Form, der bipolaren Urform.

1. Die Koordinatenepoche, die die primären Formelemente als Ganzkomplexe nach den drei Dimensionen hin proportional entwickelt und untereinander kombiniert. (Die großen Völkerstile bis heute).

Zu diese Epoche hat Finsterlin mit dem "Stilspiel" den Baukasten bereit gestellt und seine Bevorzugung der Kultbau[ten] - also Tempel, Pyramide, Pagode, Moschee, Dom - damit begründet, daß mit ihnen der Mensch in unbewußter oder unterbewußter Symbolik die imaginären Orte seiner geistigen Vereinigung mit dem Bauherrn seiner Welt umkleidet habe.

2. Die geometrische oder trigonometrische Epoche oder auch die Mineralepoche, die die primären Formelemente aufsplittert und zueinander in harmonisches Verhältnis setzt im Reinschnitt, in Zwillingen und Gruppen, und die in unseren Tagen zu beginnen scheint.

Auch dieser Epoche hat Finsterlin das passende Spielzeug bereit gestellt in Gestalt des "Formdominos" und der "Didyms" (griech. zwiefach, doppelt; subst. Zwilling).

Die meisten Zeichnungen schließlich eines im Anschluß an die Erläuterungen wiedergegebenen Blattes verweisen dann unübersehbar auf die Architektur-Aquarelle Finsterlins seit 1919 und leiten damit zur dritten Epoche, der Zukunftsarchitektur, über, die Finsterlin

3. die organische Epoche nennt, welche auf rein intuitivem Wege eine unberechenbare organische Verschmelzung schon hybrider Formelemente erreicht, die jedoch nicht minder ausbalanciert sein können als etwa ein gotischer Dom.

Vor diesem Hintergrund und in diesem Kontext wird der utopische Architekt Hermann Finsterlin mit seinen Achtitekturbaukästen zum Spieler, sucht er Anschluß an das kindliche Spiel, mit der Begründung, daß von jeher klare Verwandtschaft bestanden habe zwischen dem unverbildeten Kinde und Naturmenschen, dem die Kulturhemmungen überwindenden Narren und dem Genius (13).

Es überrascht also kaum, daß Finsterlin seine Baukästen durch seine spielenden Kinder hat 'testen' lassen.

Eine wichtige Erfahrung in unserem ersten Kindheitsabschnitt, schreibt Gabriele Reisser-Finsterlin, war die Begegnung mit Vater's "Stilspiel" [...]. Aus Grundelementen errichtet, farbig und etwas größer als die spätere Form, die in einen Holzkasten passen mußte, hatten wir die freie Wahl für unsere Prachtbauten, die wir dann noch mit Figuren bevölkerten. Um solche Bauten war es immer lebendig und es passierte viel. Was Hellmut Finsterlin bestätigt: Viel Freude hatten wir mit Vaters Baukasten "Stil-Spiel", mit dem man Grundbauten der Weltarchitektur aufbauen konnte. Man konnte damit auch alles mögliche andere bauen. Der kindlichen Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Wir bestimmten den Linoleum-Boden-Belag in einem der Räume zum Meer. An dessen Ufer [...] bauten wir Häuser und Paläste und auf dem "Meer" ließen wir Schiffe fahren, die ebenfalls aus Teilen des Baukastens hergestellt waren.

So sicher sich aus dem frühen Besitz eines Papiertheaters das Wasserzeichen Theater in Finsterlins Gesamtwerk mit erklären läßt, im Falle des "Stilspiels" ist man auf Vermutungen angewiesen. Und die führen zu den Stein- und Holzbaukästen, die ebenfalls seit Biedermeier/Vormärz als Spielzeug in keiner (groß)bürgerlichen Familie fehlten. Man darf also davon ausgehen, daß Finsterlin in seiner Kindheit ebenfalls einen solchen Baukasten besessen hat, dessen obligate Bauvorschriften seiner überbordenden Phantasie freilich im Wege waren, was noch nachklingt, wenn er 1928 in dem bereits zitierten "Stilspiel"-Prospekt auf Beigabe festlegender, phantasiehemmender Vorlagen [...] für das spielende Kind ausdrücklich verzichtet.

Zusammenhänge und Unterschiede zwischen einem Anker-Steinbaukasten und Finsterlins "Stilspiel" sind in den 20er Jahren durchaus gesehen worden, z.B. in der Zeitschrift "Deutsche Kunst und Dekoration", in der das "Stilspiel" als Produkt der Bonner "Mikado-Werkstätten" angekündigt wird, wo es dann aber doch nicht erscheint:

Der gute alte Anker-Steinbaukasten hat lange genug und redlich seine Dienste getan. Aber jede starke Zeit mit wirklich eigenem Wollen und Stil wird dieses bis ins Letzte zum Ausdruck bringen, bis in das Spielzeug der Kinder. Ob es aber für die Großen nicht noch wertvoller ist, die selber erst wieder einmal Kinder werden müssen, ursprünglich, rein empfindende Menschen? Ein Baukasten ist's, der auf die Urformen der Architektur und aller Stile zurückgeht [...](14).

Kartenspiel

Eine dritte Fortsetzung traditionellen Spielens liegt schließlich vor bei einem von Finsterlin erfundenen "Märchenspiel". Allerdings gehören zu diesem "Märchenspiel" keine Spielsachen, sondern von Finsterlin selbst vorbereitete Spielkarten. Zusätzlich bewahrt der Nachlaß einen Spielplan, nach dem dieses Spiel als Würfelspiel gespielt werden könnte, was ich aber vernachlässige. Ich zitiere die Spielregel des Kartenspiels:

Die Anzahl der Spiele ist unbegrenzt. Das Spiel besteht aus 5 Päckchen, welche, die Rückseite nach oben in folgender Reihenfolge aufgelegt werden:
1. die Zahlen.
2. die Farben.
3. die Eigenschaften
4. die Gegenstände
5. die Tätigkeiten.
Der erste ausgeloste Teilnehmer beginnt das Spiel, indem er das 1. Päckchen abhebt. Die freiwerdende Karte, in diesem Falle also eine Zahl, wird von einem dazu [...] bestimmten Schriftführer notiert. Sodann folgt der 2. Spieler mit dem Farbenpäckchen usw. bis alle Päckchen einmal abgehoben und damit das 1. märchenhafte Ereignis abgeschlossen ist, das nun durch Bedingungswörter durch weil, damit oder durch nachdem etc. beliebig fortgesetzt werden kann. Es entstehen immer neue Bilder mit verblüffenden Kombinationen, welche nicht nur unbegrenzte Anregung zu phantastischen Geschichten für Erzählung, Bühne usw. geben [...], sondern durch die Kombination der Gegenstandsbilder, welche nur die großen Typen der unbelebten und belebten Schöpfung umfassen, auch für bildhafte Komposition und Illustration. (15)
Daß Finsterlin auch hier an die Souveränität des schöpferischen Kindes dachte, sein "Märchenspiel" gleichsam als Therapie angesichts unserer beispiellosen vorstellungsarmen Zeit verstand, um die Phantasiekräfte auch des Erwachsenen wieder fördern zu helfen, verbindet Märchenspiel und Baukästen. Und es verweist zugleich auf die unsinnigen Spiele des Dadaismus, auf den Finsterlin am Schluß seiner Erläuterungen zum "Stilspiel" kurz und aus seiner Sicht  zu sprechen kommt. (16)

Ich zitiere zwei märchenhafte Ereignisse, die sich erhalten haben:

Grüne Tintenfische sprossen aus elf roten Glasspinnen und schießen aus ihren Näpfen Ketten von orangefarbenen Herzen. Die zerfallen in blaue Kamele aus Papier, während Elefanten aus Metall gelb-violette Wachsbäume aussaugen mit ihren Rüsseln.

Ein Turm von Elefanten zerfällt in erstarrte Wogen, aus denen ein Schirm mit Händen an den Spitzen einen Tempel baut. Violette Spinnen jagen gelbe Bäume aus Glas, auf den[en] die Schirmhände wachsen aus grünem Metall.

Allerdings hat Finsterlin dann versucht, solche spielerischen Texte in Gedichte zu verwandeln und in eine seiner zahlreichen, nie gedruckten Gedichtsammlungen einzuordnen.

Märchenhaftes Ereignis:

Aus schwarz-rot wechselnden Spinnen entpuppen sich blitzende Frösche, die orangefarbene Blumen ausbrüten, und kleine Wappenlöwen verschlingen. Blaue Masken aus Wachs schmarotzen dieweil auf gelbgestreiften Wolkenbogen, aus denen es goldene Elfen regnet.
Gedichtfassung:
Aus schwarzrot spieln'den Spinnen blitzen Frösche,
Die brüten goldenwarme Blüten aus,
Heraldtische [sic, R.D.] Leue werfen lauter Päsche
Mit fleckigen Masken, Stern schmarotzt darauf.

Aus gelbgestreiften wächsernem Gewölke
Regnen gar goldne Elfen auf ein Herz.
Das kocht in einem Kelch der Feuernelke,
Und plötzlich fließt das Alles himmelwärts.

Ganz offensichtlich konnte sich Finsterlin ein Gedicht ohne Reim nicht vorstellen, spürte er nicht, wie in der Transformation die spielerischen Textwelten ihre poetische Unschuld verloren, was ja ebenso der Fall war, wenn der Maler Finsterlin seine hingeworfenen faszinierenden Flecken und Linieninspirationen ins Gegenständliche auszudeuten versuchte. Das aber ist heute mein Thema nicht.

Worauf es mir vielmehr ankommt, ist, daß einmal nachweislich, zweimal mit großer Wahrscheinlichkeit den Finsterlinschen Hervorbringungen traditionelle Spielsachen und Spiele zugrunde liegen, die er sich anverwandelt und auf seine Weise produktiv gemacht hat für eine Kunst, die, auf der Basis von Spiel und Spielen, alle Kunstarten einschließen wollte.

Homo ludens

Bereits in seiner Antrittsvorlesung im Jahre 1903 deutete der holländische Kulturhistoriker Johan Huizinga an, was er dann in den dreißiger Jahren immer konsequenter versucht hat, eine Bestimmung des Spielelementes der Kultur. Er stellte dazu neben den homo sapiens und den homo faber den homo ludens, überzeugt,

Finsterlin hat Huizingas Buch nicht gekannt. Aber er hat dieses Eingebettetsein des Menschen im Kosmos 1918 während einer nächtlichen Besteigung des Watzmann erfahren, bei der ihm die schöpferischen Künste als einziger grandioser Abglanz der gesamten Schöpfung erschienen. Ich zitiere und schließe meine kleine Einführung mit einem Satz, auf den es mir im heutigen Zusammenhang vor allem ankommt:

Die Allmacht, die Urphänomene ins Unendliche komponieren und variieren zu können, zeit- und raumlos gebundene Ereignisse bildhaft, klanglich oder wörtlich erstehen zu lassen in einem unbeschränkten grenzenlosen Spiel [...] war mir [seither, R.D.] höchster Sinn des Lebens. (17)

Schömberg 21.7.2000


Anmerkungen
1) Brief Gustav Pazaureks vom 10. Juni 1928.
2) Hellmut Finsterlin: "Um Phantasie zu werben"...war er da. In: Aus Erde und Kosmos, Jg 13, Juli 1987. Nachdruck in Gabriele Reisser-Finsterlin: Hermann Finsterlin. Phantasie und Erkenntnis. Ein Leben für die Kunst. Mylifebook, o.O. 1999), S. 105.
3) Gabriele Reisser-Finsterlin: Hermann Finsterlin, S. 8.
4) Zusätzlich zu Papiertheaterfiguren der Verlage Schreiber, Eßlingen, und Scholz, Mainz, befinden sich im Nachlaß Finsterlin auch einige wenige, offensichtlich von Finsterlin gezeichnete oder collagierte Figurinen.
5) Vgl. die im Katalog dieser Ausstellung genannten Namen, die noch um die Namen Cäsar Flaischlen, Franz Otto Gensichen; Martin Greif, Paul Oskar Höcker, Richard Voß, Adolf Wilbrand und in England vor allem durch den Namen R.L. Stevenson ergänzt werden müssen.
6) Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Neu hrsg.n von Dr. Franz Kwest. Halle o.J., S. 139. - Mein Referat vernachlässigt einen zweiten Auftritt W.v.K.s als Papiertheaterspieler vor dem Erbprinzen von Bernburg in Schloß Ballenstedt (ebd., S. 148 ff.)
7) Rolf von Hoerschelmann: Leben ohne Alltag. Berlin o.J., S. 10. - Zu allen drei Stücken finden sich auch in Finsterlins Nachlaß ausgeschnittene Figuren der Verlage Schreiber bzw. Scholz.
8) , "Die Grotte", "Der Trotz des Heils" und "Sphinx hoch drei". In: Hermann Finsterlin. Das literarische Werk. In R.D.: Hermann Finsterlin. Eine Annäherung [künftig zitiert: Annäherung]. Stuttgart 1988, S. 333 ff.
9) Nach Annegret Reitzle (Die Texthefte des Papiertheaters. Diss. Stuttgart 1990) haben gleich drei Verlage unterschiedliche Texthefte angeboten, und zwar die Neuruppiner Verlage Gustav Kühn (zwischen 1875-1880), Oehmigke und Riemschneider (zwischen 1880-1885) und der Eßlinger Verlag Jakob Ferdinand Schreiber (1884). Auch für das Repertoire der Wiener Verlage Julius Neidl, C. Fritz & Comp. ist "Der Rattenfänger von Hameln" belegt, allerdings kein Textheft mehr nachweisbar.
10) Der Rattenfänger von Hameln. Ein Zaubermärchen [sic, R.D.] in drei Akten, nebst einem Vorspiel: "Die Aufgabe" und einem Nachspiel: "Die Feenschule". Von Ernst Siewert. Schreiber's Kinder-Theater, H. 19.
11) Das Typoskript in der Graphischen Sammlung / Staatsgalerie Stuttgart, in der sich auch das Rattenfänger-Manuskript findet, überschreibt "aufeinandersetzt", was aber dem Spieltext zufolge in "auseinandersetzt" korrigiert werden muß.
12) Zitiert nach dem Prospekt.
13) Die Genesis der Weltarchitektur oder die Deszendenz der Dome als Stilspiel. Annäherung, S. 323.
14) Annäherung, S. 78.
15) Hervorhebungen von mir. Zitat: Annäherung, S. 98 f.
16) "Eben weil wir an einer Wende nach oben stehen, war der scheinbare Riesenrückschlag, wie ihn der Expressionismus bis zum Dadaismus darstellte, unerläßlich - aber seine Träger  waren in der Mehrzahl zu wenig unschuldig, das Unterbewußtsein muß ins Bewußtsein klettern, nicht das Bewußtsein unterbewußt oder vielmehr unbewußt gemacht werden um jeden Preis". Annäherung, S. 323.
17) Biographie in großen Zügen. Annäherung, S. 9.