Reinhard Döhl | zu Fred von Hoerschelmanns "Flucht vor der Freiheit"  ["Weg in die Freiheit"]

Einspielung | Flucht vor der Freiheit

Rauk: Still! Bedenken Sie lieber, was Sie draußen erwartet.
Wegel: Immer noch nichts begriffen, Rauk? Schließen Sie die Tür auf. Sie sollen die Tür aufschließen!
Rauk: Nein. Ich will Sie schützen, schützen vor sich selber will ich Sie. Ehe Sie ruhig geworden sind, lasse ich Sie nicht aus der Tür. Und wenn Sie ruhig sind, dann haben Sie auch begriffen. Dann bleiben Sie...
Wegel: Aber ich laß mich von Ihnen nicht einsperren... in diesen Käfig hier oben...!
Rauk: Was wollen Sie? Was ist denn? Wegel, den Schraubenschlüssel... was wollen Sie, was
nehmen sie den Schraubenschlüssel mit? Wollen Sie mit dem die Tür aufmachen? Die ist fest.
(Poltern)
Rauk: Sehen Sie, Sie müssen ja bleiben. - Wegel!
Wegel: Weil Sie mich zwingen?
Rauk: Weil ich Sie zwinge.
Wegel: Aber wenn Sie mir den Schlüssel nicht geben,... dann nehme ich ihn mir... mit Gewalt... Sie! Sie...!
Rauk: Wegel... Wegel! Was wollen Sie... Wegel. Was tun Sie... was tun Sie... Hören
Sie -
Wegel: Jetzt
Rauk: Hilfe!
Wegel: ... den Schlüssel...
(Ein schwerer Körper fällt. Pause.)
Wegel: Jetzt... habe ich... den Schlüssel
(Abblenden)
Musik (?)
(Telefon klingelt. Hörer wird abgenommen.)
Wegel: Högsor
Telefonstimme: Hafenamt Sundsval. Eine Dame wird mit Ihnen sprechen. Privat... Bitte -
Wegel: Wer ist da?
Mädchen: Ja, ich bin es.
Wegel: ... Warum willst du denn jetzt noch... mit mir sprechen?
Mädchen: Die Kassette war doch kein Hirngespinst, und das Geld auch nicht, und die Unterschlagung.
Wegel: Ja. Ich weiß.
Mädchen: Ich habe es der Polizei übergeben. Ich habe alles gemeldet. Verzeih bitte, es war eigenmächtig von mir. Aber in dem Augenblick, als Rauk mir das Geld gab, wußte ich, was ich zu tun hatte. Jetzt ist mit einem Schlage alles geklärt, jetzt wirst du von diesem Unholde befreit. Kann er uns eben hören -?
Wegel: Nein.
Mädchen: Eben lief das Polizeiboot aus, um ihn abzuholen. Du sollst auch mitkommen, du wirst vielleicht gleich abgelöst werden, du sollst als Zeuge vernommen werden. - Hörst du mich?
Wegel: Ja. Ich höre. Wahrscheinlich hast du sehr vernünftig gehandelt... Aber ich kann nicht kommen.
Mädchen: Was sagst du?
Wegel: Ich komme bestimmt nicht.
Mädchen: Du mußt sogar kommen. Hast du denn nicht verstanden? Du mußt deine Aussagen machen.
Wegel: Ich habe... als du weggefahren warst... habe ich... Rauk getötet...
Mädchen: Was hast du? - Ich verstehe nicht -?
Wegel: Als er mich nicht fortlassen wollte, und als er die Tür abschloß und den Schlüssel abzog... habe ich ihn totgeschlagen.
Mädchen: Du bist nicht bei Besinnung!
Wegel: Doch... nur sehr müde. Und ich habe dir sonst nichts zu sagen. Leb wohl.
Mädchen: Nein, - du mußt jetzt -
(Hörer wird eingehängt.)
Wegel: Ich kann mir schon denken... Zeugen und Aussagen und Beweise und Notwehr und das ganze Affentheater... Nein
(Telefon klingelt.)
Wegel: Wie sagte sie - ? Das Polizeiboot ? ? In einer halben Stunde wird es hier sein...
(Telefon klingelt.)
Wegel: Oben brennen noch immer die Lampen. Jetzt geh ich hinauf und lösch sie aus. Die Sonne scheint -
(Telefon klingelt.)
Wegel: ... scheint auf die Steine am Fuß des Turmes. Vierzig Meter.
(Telefon klingelt.)
Wegel: Der Sonne ist es einerlei, worauf sie scheint.

Autor

Derart epigrammatisch zugespitzt und mit dramatisch angedeutetem Selbstmord des Agonisten endete - unter der Regie Schröder-Jahns - die Rekonstruktion und Hamburger Neuproduktion eines Hörspiels, das uns noch einmal zum Problem des dichterischen als des "eigentlichen" Hörspiels zurückführt. Und zwar nach Eduard Reinachere "lyrischem Sprachwerk "Der Narr mit der Hacke" zum - wie man sagen könnte - Typ des dramatischen Hörspiels. Das Beispiel unserer heutigen Lektion ist dabei in mehrfacher Hinsicht interessant.

Zum einen liegt ein historisches Tondokument vor, dessen Reiz wie in der "Geschichte vom Franz Biberkopf" wesentlich durch die dominierende Stimme Heinrich Georges gegeben ist.

Zum zweiten stellt diese alte Schallaufzeichnung die Bearbeitung einer Textvorlage durch Arnolt Brennen vor, und zwar so weitgehend, daß unser heutiges Beispiel mit Fred von Hoerschelmann als Autor und Arnolt Bronnen als Bearbeiter gleichsam
zwei Verfasser hat und sinnvoll eigentlich nur unter dem Namen dieser beiden Verfasser gesendet werden kann.

Zum dritten handelt es sich bei dem zugrunde liegenden Text um Fred von Hoerschelmanns erstes und damit um das erste Hörspiel eines Autors, dessen Hörspiele - der "Hörspielführer" beschreibt allein sieben Stück - die Hörspielgeschichte und das Hörspielverständnis von 1950 bis 1960 als Beispiele für den Typ eines dramatischen Hörspiels wesentlich mit geprägt haben. Wobei Fred von Hoerschelmann vor allem mit "Das Schiff Esperanza" (1953) und "Die verschlossene Tür" (1952) zu einem "der
im In- und Ausland meistgesendeten deutschen Autoren" (Hörspielführer) wurde. Daß er sich daneben - wie der "Hörspielführer" schreibt - "auch mit vielen Funkbearbeitungen nach Werken der Weltliteratur (...) als Meister der Hörspieldramaturgie" erwiesen hat, schlägt den Bogen zurück zum Hoerschelmann-Bearbeiter Bronnen.

Ich habe bereits mehrfach auf den Stellenwert der Hörspieladaption des Kleistschen "Michael Kohlhaas" durch Bronnen hingewiesen. Wie die Hörspieltheorie vor 1933 diesen Adaptionsversuch aufgefaßt, unter welchen Aspekten sie ihn verstanden hat, läßt sich unter anderem der in der letzten Lektion zitierten Antrittsrede Hermann Pongs' über "Das Hörspiel" ablesen, in der Pongs über die Fragen nach der Funkwirksamkeit zunächst allgemein aufstellt:

Zitat

Im Funk wirkt nur, was unmittelbarem Anteil begegnet. Darum wird das Hörwerk Gestalten unwillkürlich suchen, die bereits irgendwie der Allgemeinheit gehören, um ihre Legende oder ihr Problem darzustellen.

Autor

Was sich übrigens für eine ganze Reihe von "Funkbearbeitungen nach Werken der Weltliteratur" bis auf den heutigen Tag geltend machen ließe. Es trifft aber ebenso auf die Napoleon-Hörspiele Hans Kysers zu und stände so in einem Gegensatz zu einer Auffassung Schwitzkes:

Zitat

Die Hörspielkunst aber ist zur Wiedergabe historischer Vorgänge von Haus aus untauglich.

Autor

Und es beträfe und betrifft im Sinne Pongs die Sokrates-Hörspiele Kysers gleichermaßen, die in dem nicht nur Pongs interessierendes Verhältnis des Einzelnen zur Masse der geradezu entgegengesetzt angelegt, sind wie die Bronnensche Bearbeitung des "Michael Kohlhaas", deren Wirkung Pongs erwachsen sieht

Zitat

aus der künstlerischen Substanz des Kleistsehen Werkes und der Kleistschen Sprache. Die Möglichkeit, eine solche Volksgestalt oder auch einen großen Schicksalsaugenblick eines Volkes neu darzustellen, mit einer dichterisch gegenständlichen Sprache und der Ausnützung aller funkischen Mittel für die Wirkung des Heroischen, ist bisher nicht verwirklicht.

Autor

Bis heute galt und gilt Bronnen in der Hörspielliteratur eigentlich uneingeschränkt als geschickter Bearbeiter für den Funk.

Zitat

Der akustische Roman, den Arnolt Bronnen versucht, muß ausprobiert und diese Versuche müssen von mehreren fortgesetzt werden,

Autor

forderte 1929 Bertolt Brecht in seinen "Vorschlägen für den Intendanten des Rundfunks", während Schwitzke 1962 betont:

Zitat

Bronnen hat ausschließlich - freilich höchst geschickte - Funkbearbeitungen vorhandener literarischer Werke für das Berliner Funkhaus geschrieben: ein Kohlhaas-Hörspiel nach Kleist aus dem Jahre 1927 ist im Manuskript erhalten und hat sich als Neuinszenierung bewährt.

Autor

Aber - während Schwitzke so die Funkbearbeitungen Bronnens allgemein als "höchst geschickt" wertet - eine einzige Ausnahme ist ihm Sakrileg: die Bronnensche Bearbeitung des ersten Hoerschelmann-Hörspiels "Flucht vor der Freiheit" (Erstsendung Westdeutscher Rundfunk Köln in der Inszenierung Ernst Hardts) zu "Weg in die Freiheit" in der Bronnenschen Inszenierung der Berliner Funkstunde 1933. Von "sehr entstellt, von "willkürlich und eigenmächtig verändert" sprach die Ansage der technisch interessanten Hamburger Neuinszenierung 1959, von der noch zu sprechen sein wird. Und diese 'Entstellung', 'willkürliche und eigenmächtige Veränderung' und 'Unterlegung eines anderen Sinnes' lassen Schwitzke anlässlich der Drucklegung des Textes der Neuinszenierung, statt nach möglichen Gründen zu fragen, gegen jegliche Neusendung des erhaltenen Tondokuments von 1933 einwenden:

Zitat

Diese alte Schallaufzeichnung ist heute - selbst mit dem entschuldigenden Hinweis auf ihren 'historischen' Charakter - nicht mehr sendbar, es sei denn, man legt es darauf an, das Stück und den jungen Fred von Hoerschelmann, der bei der Entstehung des Hörspiels 27 Jahre alt war, ad absurdum zu führen."

Autor

Nun ist der Hinweis auf das Alter eines Autors (übrigens starb Georg Büchner bereits mit 24 Jahren) kein Argument. Davon abgesehen geht es keinesfalls darum, das Stück eines Autors "ad absurdum zu führen", vielmehr gilt unsere Fragestellung dem Stellenwert des ersten Hörspiels eines in den 50er Jahren so populären Autors, bzw. dem Stellenwert der Bearbeitung dieses Hörspiels in der Geschichte des Hörspiels bis 1933.

Wie gesagt führt uns unser heutiges Beispiel noch einmal zum Problem des dichterischen als des "eigentlichen" Hörspiels zurück, und zwar zum speziellen Typ des dramatischen Hörspiels. Die ursprüngliche Textfassung ist nicht erhalten. Hier hat Fred von Hoerschelmann anläßlich der Hamburger Neuinszenierung versucht, die ursprüngliche Textgestalt zu rekonstruieren, bzw. wie man vielleicht besser sagen müßte, die Bronnensche Bearbeitung aus dem Gedächtnis der ersten Fassung wieder anzunähern. Man wird also auch dem Text der Hamburger Neuinszenierung mit einer gewissen Vorsicht begegnen müssen.

Dieser Tatsache immer eingedenk, zeigt Fred von Hoerschelmanns Hörspielerstling im Aufbau, was das rund fünfundzwanzig Jahre später entstandene "Schiff Esperanza" in noch gekonnterer Form bestätigt, eine auffallende Entsprechung mit der Freytagschen Dramenpyramide, also einem Dramenaufbau mit Exposition, steigender Handlung, Höhepunkt, fallender Handlung und Katastrophe. Hoerschelmanns Hörspiele weisen ihren Autor durchweg als einen Meister in der Handhabung einer so verstandenen Exposition aus.

Zitat

Exposition (lat. expositio = Darlegung) wesentlicher Bestandteil des Dramas: wirkungsvolle Einführung des Zuschauers in Grundstimmung, Situation und Personen des Stückes und Darbietung der für das Verständnis wichtigen Voraussetzungen, die zeitlich vor Beginn der eigentlichen Bühnenhandlung liegen. Im klassischen Drama bildet sie meist den Inhalt des ersten Akts und wird durch das erregende Moment abgeschlossen -

Autor

definiert etwa ein "Sachwörterbuch der Literatur". Schwitzkes Beschreibung des Hörspielbeginns bestätigt, wie weitgehend hier von dem Fall einer nahezu 'klassischen' Exposition gesprochen werden kann, und läßt indirekt erkennen, wie sehr eine vom dichterischen, als dem "eigentlichen" Hörspiel ausgehende Theorie, von der Übernahmemöglichkeit der Dramenexposition in die Dramaturgie des Hörspiels überzeugt war:

Zitat

Hoerschelmann, der einen bewundernswerten Scharfblick für exakte Konstruktionen besitzt, hatte in der Exposition sehr geschickt Rauk und Wegel allein vorgestellt, weil es ihm sehr darum gehen mußte, erst einmal die wichtigste und komplizierteste Voraussetzung alles späteren Geschehens lebendig zu machen: das von Haß und Bosheit genährte Verhältnis der beiden Männer. Die für beide ungewöhnliche Tatsache, daß irgendjemand, dessen Individualität vorerst noch gleichgültig bleibt, in ihre jahrelange Isolierung eingebrochen ist, löst glaubwürdig und zwanglos die gegenseitigen Vorwürfe und Quälereien aus, durch die wir einen Teil ihrer Vorgeschichte erfahren

Autor

Aber nicht nur inhaltlich, auch dem Umfang nach erfüllt Hoerschelmann in seiner "Flucht vor der Freiheit" die klassische Exposition. Denn der von Schwitzke so beschriebene Anfang umfaßt etwa ein fünftel des Gesamttextes. So verwundert es kaum, wenn wir fast genau in der Mitte des Hörspiels auch den Höhepunkt antreffen im "Duell" zwischen Agonist und Antagonist, in einem Dialog zwischen Wegel und Rauk. Hatte Wegel vor diesem Dialog gegenüber dem Mädchen auf deren Frage:

Zitat

Das könnte ich nicht aushalten. Warum gehst du nicht fort?

Autor

mit dem ausweichenden Hinweis auf eine Verhaltensmöglichkeit geantwortet:

Zitat

Das brauche ich gar nicht. Ich könnte aber dafür sorgen, daß er weggeht,

Autor

so frohlockt er nach dem entscheidenden Dialog mit Rauk

Zitat:

Ich habe ihn immerhin weggeschickt. Es ist mir gelungen, ihn wegzuschicken,

Autor

nachdem er im Dialog-Duell gegenüber Rauk ausdrücklich erklärt hatte:

Zitat

Außerdem habe ich gerade festgestellt, daß ich lange genug hiergewesen bin. Ich werde morgen früh dem Hafenamt meine Kündigung mitteilen. Ich will fort von Högsor.

Autor

Genau aber mit diesem Entschluß löst Wegel die Katastrophe aus, muß das Geschehen notwendig zum Mord an Rauk führen, dessen Folge dann der am Schluß angedeutete Selbstmord des Agonisten ist. Auch sonst zeigt nicht nur der Erstling Hoerschelmanns fast 'klassisches' Tragödienprofil in der Wahrung der drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung.

Was hat aber nun Bronnen an dem so aufgebauten Hörspiel geändert, sieht man einmal von bei jeder Hörspielinszenierung eigentlich üblichen kleinen Textstrichen oder -änderungen ab. Er hat Anfang und Schluß erweitert bzw. zum Positiven hin verändert, indem er einmal das erste Zusammentreffen zwischen Wegel und dem Mädchen, das Wegel in dem ersten Dialog mit Rauk in der Hoerschelmannfassung lediglich erwähnt, als selbständige Sequenz dem Hörspiel vorangestellt. Zum anderen, indem er Wegels in dem Dialog-Duell mit Rauk ausgesprochene Entscheidung, sich von Rauk zu trennen, als Lösungsmöglichkeit wörtlich nimmt und am Schluß die (wie es wörtlich heißt) "natürliche Ordnung der Dinge wieder her" stellt. Schwitzke kritisiert für die Erweiterung des Hörspiels am Anfang,

Zitat

daß durch eine solche Maßnahme in der Exposition eine der Sache höchst abträgliche Akzentverlagerung auf Nebensächliches erfolgt,

Autor

und meint zur Bearbeitung des Schlusses:

Zitat

Der andere, geradezu unfaßbare Eingriff Bronnens besteht in der Verkehrung des Stückschlusses in ein Happy-End. Damit wird aus der "Flucht vor der Freiheit" ein "Weg in die Freiheit" und aus der eigentlichen Pointe des Stückes eine Plattitude.

Autor

Leider ist über die der Bearbeitung zugrunde liegenden Absichten Bronnens bisher nichts zu ermitteln gewesen. Immerhin ist vorstellbar, daß Bronnen derartige Eingriffe in ein nahezu 'klassisch' aufgebautes Hörspiel nicht gedankenlos vorgenommen hat. Und hier liegt gerade in dem nahezu 'klassischen' Aufbau des Hörspiels möglicherweise die Antwort. Denn mit der vorgesetzten Sequenz stört Brennen die Architektur in der Tat aufs Empfindlichste; mit der Veränderung des Schlusses nimmt er dem Hörspiel den Anspruch des Tragischen. Damit traf der Theatermann und Hörspielpraktiker Brennen aber gleichsam den dichterischen Nerv der Textvorlage. Und er stellt sich ernstlich die Frage: ob dies nicht die bewußte oder auch unbewußte, der Bearbeitung zugrunde liegende Absicht gewesen ist.

Dann würde diese Bearbeitung aus einem Mißtrauen in die Tragfähigkeit eines dichterisch-dramatischen Gebildes zu verstehen sein, das als Hörspiel ähnlich dem "lyrischen Sprachwerk" Reinachers "der allgemeineren (literarischen) Entwicklung um 30 bis 40 Jahre hinterherhinkte" (Heißenbüttel). Und auch hier wäre wiederum und weiter zu fragen, ob das erste Hörspiel Fred von Hoerschelmanns in seiner Bedeutung für die Geschichte des Hörspiels nicht völlig falsch eingeschätzt und in seinen literarischen Qualitäten ebenso wie Hoerschelmanns spätere aber vom Typ her durchaus vergleichbaren Hörspiele total überschätzt wurde.

Um abschließend wenigstens in einem angedeuteten Vergleich zu zeigen, wogegen sich möglicherweise das Mißtrauen Bronnens gerichtet hat, werden wir die Exposition der Hamburger Neuinszenierung einspielen, die ja dann leicht mit der folgenden Bearbeitung Bronnens verglichen werden kann.

Doch sollte zuvor noch einmal Heinz Schwitzke zu Wort kommen, der in seiner Einleitung zum Druck des Manuskriptes den interessanten und technisch bisher einmaligen Versuch dieser Neuinszenierung beschrieben hat:

Zitat

In der Situation, in der wir (...) eine Neubearbeitung des Stoffes durch Hoerschelmann und eine Neuinszenierung erwogen, schien es nun plötzlich ein Wink des Schicksals zu sein, daß Bronnen gerade an der von George überaus bedeutend dargebotenen Rolle des Rauk so gut wie nichts geändert hatte. So kamen wir zu dem Plan, nicht nur den Stoff und das alte Stück zu retten, sondern auch eine schauspielerische Leistung, die noch nach so langer Zeit ihre ganze Frische und Eindringlichkeit besaß. (...) Von George konnte (außer einer einzigen kurzen Replik) jedes Wort aus der alten Schallaufnahme übernommen werden - mit zwei Einschränkungen. Erstens: die letzte, von Bronnen geschriebene Szene blieb ganz weg, aus ihr nahmen wir nur einmal ein Ja Georges; und zweitens darüber hinaus wurde der Schrei, den Rauk-George ausstößt, als Wegel mit dem Schraubenschlüssel auf ihn losgeht, aus einem Angstschrei in einen Todesschrei umgedeutet (...) Der alte hohe Rauschpegel der abgebrauchten Schallplatten hätte uns, wenn wir nicht einen Kunstgriff erfunden hätten, gezwungen, um der Einheitlichkeit willen auch den neuaufgenommenen Szenen ein Rauschen aufzuprägen, das Neue also künstlich "alt" zu machen. (...) Wir kamen auf den Ausweg, alle Szenen, in denen die Schallplattenstimme Georges vorkam, im Freien, auf der Plattform des Leuchtturms oder bei offenen Fenstern spielen zu lassen, so daß das Rauschen der Meeresbrandung das Rauschen der alten abgespielten Platten übertönen konnte. Es ist heute anerkannt, daß das Ganze mehr wurde als ein interessantes Experiment, daß - wenn man von der zugestandenermaßen etwas makabren Machart absieht, und das tut man als Hörer sogleich und gern - eines der wirkungsvollsten Hörspiele und eine wahrhaft bedeutende Darstellerleistung dem Repertoire zurückgewonnen wurden.

Einspielung | Flucht vor der Freiheit

(Musik, ein paar hohe, diffuse Klänge. Dann Stille. Telefon klingelt, Hörer wird abgenommen.)
Wegel: Hier Leuchtturm Högsor.
Telefonstimme: Hafenamt Sundsral. Wir geben den Wetterbericht. - Bei leichter Bewölkung - Schwache bis mäßige Winde aus südöstlicher Richtung - haben Sie? - südöstlicher Richtung. - Verminderte Sicht. - Temperatur unverändert. - Haben Sie?
Wegel: Danke.
Telefonstimme: Schluß.
(Hörer wird eingehängt. Langsame Schritte die Eisentreppe hinauf.)
Wegel: Südost... Südost... Seit drei Tagen... Ein verfaulter Wind... leise und schwül... Das ist kein Wind... das ist eine Krankheit...
(Nebelhorn - entfernt, von draußen)
Wegel: Und es wird immer diesiger... Jetzt mit dem kleinen Boot zum Festland zu segeln... Bei der Flaute... Kann die ganze Nacht dauern... merkwürdig, - ein fremder Mensch auf dieser Insel... Stundenlang auf den Steinen sitzen und sprechen... Dann klingelt das Telefon, und ich muß weg... Alles ist wieder zu Ende... Nur ein Gespräch... Aber ich glaube ich habe das ganze Jahr lang nicht so viel gesprochen wie in dieser einen Stunde... Ich wußte gar nicht, daß ich überhaupt noch über etwas anderes sprechen kann... als über Wetter und den Nebel und den Südost.
(Nebelhorn - entfernt, draußen.)
Wegel: "... wunderschön, aber sehr einsam... " ... Ich habe längst aufgehört, zu bemerken, was schön ist... oder was Einsamkeit ist... Einsamkeit muß man fühlen... aber ich fühl sie nicht... ich fühl nur diesen Südostwind.... Sonst nichts
(Schritte halten inne.)
Wegel: Hat er sich bewegt? Nein, er schläft noch. Schläft den ganzen Tag... Wie gut, daß er nicht aufgewacht ist. (Im Weitergehen) Wenn nicht ich das Boot bemerkt hätte, sondern er... Oder wenn er dazugekommen wäre.... Dann hätte ich kein Wort hervorgebracht... Aber er hat geschlafen... Gott sei Dank...
(Eisentür wird aufgestoßen. Nebelhorn, diesmal lauter, im Freien. Rauschen. Tür wird geschlossen.)
Wegel: Das Boot segelt ab... Winken hat keinen Sinn... lch bin wohl auch kaum zu erkennen, vierzig Meter hoch. Ich werde dem Segel nachsehen, bis es verschwunden ist.
(Tür wird aufgestoßen.)
Wegel: Da sind Sie ja, Rauk. Ich dachte, Sie schlafen noch.
Rauk: Der Nebel hat zugenommen.
Wegel: Ja.
Rauk: Und der Himmel fängt an, dunkel zu werden.
Wegel: Ja.
Rauk: Man wird die Lampen heute früher anzünden müssen. Heute sind Sie an der Reihe. Damit Sie das nicht vergessen. - Da unten steht ja ein Boot, haben Sie das bemerkt? Ob Sie das Boot bemerkt haben, frage ich.
Wegel: Ich sehe es.
Rauk: Bei diesem Wetter, da werden Ihre Knochen weich, und Sie können den Mund nicht aufmachen.
Wegel: Wenn Sie es wissen wollen: das Boot war eine ganze Stunde lang hier.
Rauk: War hier? Und Sie haben mir nichts gemeldet? Warum haben Sie mich nicht gerufen, Sie!
Wegel: Weil Sie schliefen. Und weil es ganz schön war, einmal mit einem anderen Menschen zu sprechen. Richtig zu sprechen.
Rauk: Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie mich rufen müssen, wenn jemand kommt. Wer war es?
Wegel: Ein junges Mädchen. Sie fand es wunderschön hier und sehr einsam. Sie fragte mich, wie ich hier lebe, und ich erzählte ihr dies und das...
Rauk: So. - Worüber sprachen Sie?
Wegel: Eigentlich über nichts. Es gibt wahrhaftig nicht viel zu erzählen. Es kommt selten vor, daß hier etwas Besonderes passiert, einmal in vier Jahren...
Rauk: Was heißt das?
Wegel: Etwa das gestrandete Schiff, das da tagelang auf den Steinen aufsaß, im Frühjahr, bevor das Meer es wieder wegnahm. Sie fand das sehr geheimnisvoll und interessant.
Rauk: Na und?
Wegel: Das war alles. Ich sagte ihr, daß ich selber nichts davon bemerkt hätte, daß ich damals bewußtlos war und im Fieber lag, und daß Sie mich gepflegt haben. Und daß Sie der einzige sind, der über dieses Schiff bestimmt viel mehr zu erzählen hätte.
Rauk: Sie wissen aber ganz gut, daß ich nicht drauf war.
Wegel: Aber versucht haben Sie es doch?
Rauk: Wo die ganze Zeit Wasser überging - da über die Steine zu klettern! Und bei Nacht!
Wegel: Kann sein.
Rauk: Die Leute waren schon seit Monaten tot. Die Haare waren ihnen doch schon ausgegangen, so lange trieben sie auf dem Meer. Ein alter Schmuggler wahrscheinlich.
Wegel: Wann haben Sie denn diese Toten gesehen? - Warum regen Sie sich immer so auf, wenn von diesem Schiff die Rede ist?
Rauk: Wozu fangen Sie immer wieder davon an?
Wegel: Ich wundere mich nur über eins: daß Sie immer die Tür zu Ihrer Kammer verschließen, seit damals.
Rauk: Woher wissen Sie denn, daß meine Tür verschlossen ist? Von außen sieht man es ihr doch nicht an?
Wegel: Ich suchte neulich nach dem Schraubenschlüssel.
Rauk: Na und?
Wegel: Da war sie zufällig offen geblieben.
Rauk: Wenn Sie den Schraubenschlüssel brauchen, dann kommen Sie gefälligst zu mir und fragen mich danach.
Wegel: Ich habe ihn wieder zurückgelegt.
Rauk: Was reden Sie dann von der Tür?
Wegel: Nichts.
Rauk: Sie! Mit diesen Andeutungen kommen Sie mir nicht... und was machten Sie in meinem Zimmer?
Wegel: Nichts.
Rauk: Also Schluß jetzt, raus, ja - Sie werden jetzt antworten.
Wegel: Ich habe keine Lust, mit Ihnen zu streiten, Rauk. Lassen Sie mich in Ruh.
Rauk: Sie! Das gibt es nicht bei mir! Sie antworten jetzt!
Wegel: Nein.
Rauk: Glauben Sie, daß Sie mir etwas verheimlichen können?
Wegel: Nein... wozu... Ich kann Ihnen sagen, was ich bemerkt habe... Ein kleiner, eiserner Kasten, eine Kassette, unter Ihrem Bett. Genau so eine Kassette, in der man viel Geld einschließen kann. Leicht verrostet obendrein...
Rauk: Passen Sie mal auf. Die Sachen, die bei mir in der Kammer sind, die gehören mir, verstanden? Aber wenn ich Wache habe, und dann versucht jemand an meiner Tür... und nachher tuschelt er mit fremden Besuchern herum - der soll sich in acht nehmen.
Wegel: Sehen Sie, Rauk, ich könnte Sie eigentlich anzeigen. Ich weiß zwar nichts Genaues über die ganze Sache, und ich weiß auch nicht, was in dieser sonderbaren Kassette drin ist, und wo sie herkommt. Aber ich könnt so meinen Verdacht mitteilen... Und dann würde vielleicht eines Tages die Polizei hier erscheinen und sich danach erkundigen. Ich glaube, auf einer so kleinen Insel kann man nichts unbemerkt verstecken.
Rauk: Sie mich anzeigen?
(Anhaltendes, zunehmend lauter werdendes Gelächter.)

WDR III, 2.7.1971