Claus Henneberg | Ägyptische Notizen

1
Blick lächelnden Einverständnisses mit einem schwerbewaffneten Posten im Wintermantel vor der Glastür
der Abfertigungshalle.

2
Ins Land geschleust unter den Augen scharf musternder Polizisten in Zivil auf schwarzen Kunstledersofas.

3
Nächtliche Fahrt durch tote Vorstädte, an endlosen Friedhofsmauern vorbei.

4
Von unternehmungslustigen Touristen, jungen Mädchen und gereiften Ägyptern umlagerte Bar in der Lounge. Bier Stella, Cru des Ptolemées, Whiskv-Soda und Gin Fiz.

5
In der Frühe ein Blick durch den Spalt im Vorhang der Terrassentür: Grünes Licht, ganz grünes Licht von Tamarisken. Tauben im Geäst.

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Gleich hinter den Bungalows in der Morgensonne plötzlich die Pyramiden.

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Eine kleine nubische Putzfrau mit einem Flederwisch.

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RA - ME - SU. Steinsprache.

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Steinsarg mit gemalten Türchen für den Ein- und Ausgang dar Seele.

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nicht so sehr die eingeschrumpften lederbraunen Köpfe (mit ihren Zähnen) als die unter den zerschlissenen Leintüchern herausragenden nackten Füße (mit ihren Nägeln) der zur Schau gestellten toten Pharaonen in Särgen einer neben und hinter dem andern...

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Mittagessen in einem morgenländischen Baumhaus. Der befrackte Oberkellner gleichsam wüstenstaubbedeckt. Der Toilettenwärter in seiner weißen Galabiya ist zwölf Jahre alt und heißt
"Ausgleichender".

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Schlafstatt der hl. Familie in der Krypta von Abu Serga mit ihren Säulen halb unter Wasser.

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Der Nil in der Abendsonne: Ein Strom unirdisch schimmernder Goldes in balsamischer Luft.

14
Schäkernde Soldaten auf dem Flugplatz von Assuan Hand in Hand. Einer spießt seinem Vordermann zum Spaß das Bajonett in den Hintern. Alte Zweimotorige mit Tarnanstrich am Rollfeldrand. Auf dem Dach des Empfangsgebäudes die Parole: ES LEBE DIE DENTSCH-ÄGYPTISCHE FREUNDSCHAFT. Eines fremden unbekannten Landes Bürger.

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Felstrümmer im Nil bei der Insel Elephantine. Fragmente urweltlicher Plastik, vor allem: Köpfe von vielem möglichen.

16
Reiher -

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Die beiden Wüsten. Die Toten leben in der westlichen. Und die Lebendigen in der andern.

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Nachtgrüner süßer Tee aus frischer Minze in einer Nubierhütte unter dem bunten Photo Sadats.

19
Nur die Augen von hundert Kindern, lärmend, plappernd in der Dunkelheit. Stanley, tiefes Afrika.

20
Nilaufwärt im Mondschein am Steuer einer Feluka zwischen Felskolossen bei eingerolltem Segel. Offene Feuer in entgegenkommenden Booten, rhythmisches Händeklatschen, Trommeln und Singen.

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Bettelnd umkreist ein Invalide ohne Beine auf einem Räderbrett den Touristenbus und reckt seine Hände zu den hohen, geschlossenen Fenstern.

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Zerrissene Torpedonetze an zerbeulten Benzintonnen hinter dem Staudamm.Schützengräben und Stacheldraht.
Auch die Stahlhelme englisch. Von fern die Abbruchkräne von Philae.

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Über dem Wendekreis des Krebses nach dem Sudan. Der Schatten des Flugzeuges im smaragdgrünen Wasser des Nils vor Abu Simbel.

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Im Staub watend zwischen den riesigen Osirispfeilern im Innern des Tempels.

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Transport einer kleinen Feluka: Die Sonnenbarke auf einem Eselskarren.

26
Gischtende Wasserraketen aus den geöffneten Schleusen des Hochdamms.

27
In den Büchern ein unvollendet liegengebliebener, nur halb vom Muttergestein losgelöster Obelisk.

28
Tanz zur einsaitigen Nubierfiedel vor dem Bus auf der Straße.

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Kitchener-Insel blühend von schlafenden weißen Vögeln.

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Eignung kombinatorischen Spiels aller Teile und Elemente ägyptischer Kunst mit allen Teilen und Elementen
ägyptischer Kunst.

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Im Flugzeug auf bevorzugtem Platz Drei-Sterne-General mit abgetretenen Absätzen.

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Das Gesicht der Wüste, von sich verästelnden Wadis gefurcht.

33
Im Rosenbeet unter den Palmen des Winterpalace ein Wiedehopf.

34
Allein die rundpolierte Mütze einer Statue...

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Herstellung eines Nicht-Raums durch dichtstehende Säulenkolosse.

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Von oben durch eine Luke im Dach Licht auf eine löwenköpfige Göttin im dunklen Tempel.

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Tönender Obelisk aus Granit.

38
Nilmorgen. Der kleine Maschinist, ein Bub im Wintermantel. Schmieröl und blitzendes Messing.

39
Von Sonnenlicht vergoldeter Stein. Oder Auflösung des Steins in Licht. Oder goldener Widerschein eingesogenen Sonnenlichts. Ganze Tempel aus sonnenlichtvergoldetem Stein.

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Das Totenleben. Die Schrift an der Wand.

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Früheste Landschaft wörtlich. Konkrete Landschaft: Berg Kuh Baum. Sechs Täler Kuh Sykomore.

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Abgeschnittene feindliche Penisse massenhaft und regellos aufgehäuft.

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Fausttief die Farbe in versenkten heiligen Zeichen.

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Jene Treppe durch den Pylon auf die Zinne.

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Portrait eines Architekten.  Knieend, klein und in einem sehr abgelegenen Gelaß.

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Der langgestreckte Leib einer Göttin scheidet am Morgen die abends gegessene Sonne aus.

47
Menschen aus Nilschlamm.

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Schuhkartons voller vergilbter Ansichtskarten oberägyptischer Sehenswürdigkeiten bei Gaddis & Seif vor Ladenschluß.

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In Stein übersetzte Holzkonstruktionen. Mattenrollen, Papvrussäulen und sich blähende Kobras. Denn der Stein
ist das Fleisch der Ewigkeit.

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Mauerrundung aus hellen Quadern im Licht.

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Ein Standbild durch Bohrlöcher betrachten.

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Acht nebeneinander stehende nackte, steinerne Füße.

53
Schwalben im tiefen Grab des Kambyses.

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Der gelbe Schatten der Sterne in der Totenkammer des Unas. Und immer sich wiederholend sein Name Kaninchen Nil Feder und Tuch.

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Bauern auf den regelmäßigen Feldern von Memphis auf den Wänden und auf den regelmäßigen Feldern von Memphis.

56
Schatten von Menschen und Vieh im gekräuselten Wasser.

57
Staubschwangere Kasematten schwarz eingesargter Stiere.

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Zu Memphis in einem Palmenhain liegt Ramses der Große im Sonnenschein und träumt - Du hast es erfahren -
von nichts seit dreitausend Jahren.

59
Schüchtern liebenswürdig und verschämt ein weißgekleideter Knabe mit einem Stab.

60
Das Vogelnest hinter der Kanonenkugel napoleonischer Artillerie in der Mauer der Sultan-Hassan-Moschee.

61
Die längst abgelaufene Uhr des Bürgerkönigs Louis-Philippe.

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Der europäische Telefontechniker im Menschengewühl des Suk vor einem geöffneten Relaiskasten, vertieft in verwickelte Schaltungen.

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Auf federnden Dielenbrettern in einem hölzernen Haremsbau mit Säulen und Schnitzwerk. Im Vorraum ein ergrauter Fremdenpolizist in schwarzer Uniform auf einem Bänkchen.

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Die große Galerie hinauf ins Innere des Rätsels-Geborgenheit im stillen Schoß der Pyramide.

65
... oder doch weniger ein steinernes Abbild der strahlenden Sonne als ein Brandmal lodernder Anbetung, oder beides ...

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Der Sphinx im Profil: pausbäckig und kindlich.

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Mokka-Kellner im Café Groppi: ein riesenhafter Dickwanst in schmuddeliger Galabiya mit rotem Fez.

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Der auf dem Weg zur Abdeckerei im Wasser eines Rohrbruchs steckengebliebene Traktor mit einem verendeten Kamel im Schlepp. Gleichmut auf allen Gesichtern.

69
Saladins Veste stolz und strahlend.

70
Im Flugzeug ein Gastarbeiter ans Tanta mit einer schwergewichtigen Ikone als Mitbringsel für seinen Wiener Chef.

71
Osirisgestalt des Nils, in Nubien das Haupt, die geschlossenen Füße im Delta, mit gekreuzten Armen in Karnak.

72
Das Ganze ein Gleichnis der eigenen Lebensgeschichte: Kindheit, Jünglingszeit, Mannes- und Greisenalter.

73
Die schneebedeckten Berge Kretas, Kinderstube eines anderen Gottes.

74
... als öffnete man eine Tor und beträte ein Zimmer, durch dessen Fenster die helle Sonne schiene, und stünde vor einer Wiege, welche die eigene wäre ...

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Beobachtete in der Morgensonne kreisende Falken über Heliopolis: die rötlich leuchtenden Unterseiten der Flügel.

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Man biegt Sperrgitter auf, man bricht sich Mauerdurchgänge, man räumt Hindernisse aus dem Weg, kurz, man überflutet alles wie der Nil.

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Ich lag schlafend auf der Rechten, als ich den Besuch einer Königsmumie erhielt, die sich mit ihrem braunledernen Körper an meinen Rücken schmiegte, und erwachte von meinem eigenen Schreckensschrei. Sicherheitshalber warf ich mich auf die andere Seite, bevor ich wieder einschlief. Am Morgen, während des
Frühstücks, konnte ich mich überzeugen, daß die unsichtbare Hand, die sich mir auf die linke Schulter gelegt hatte, niemand Lebendigem gehörte, indem ich vorsichtig, ohne den Kopf zu wenden, dorthin faßte. Wenig später spürte ich sie erneut an der selben Stelle, fürchtete mich jedoch nicht Ich fühlte mich ausgezeichnet und hervorgehoben.

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Rückblick auf das unter schwarzen Rauchfahnen und zarten Dunstschleiern bei untergehender Sonne in einem Feuermeer stehende Kairo mit seinen Minaretten, Kuppeln und Palästen.

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Die Vorstellung, ich läge auf dem flachen Steindach des Tempels von Dendera und nähme unter mir ein Beben wahr, als wäre dieser ein Kraftwerk, ist geradezu zwanghaft und wenig angenehm. Schön der Blick von dort über das palmenbestandene Fruchtland und den ruhig fließenden Nil.

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Sie träumte, die Himmelsgöttin zu sein, die als Relief am Boden eines Sarkophages auf dem Rücken liegend mit erhobenen Armen in Stein gemeißelt, sich plötzlich ruckartig aufsetzt und die Arme steif ausgestreckt vor sich hinhält wie eine Gliederpuppe, wovon sie, im Bett sich auf eben diese Weise aufrichtend, erwachte.

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Der sich von außen nach innen, von der Tempelumwallung durch alle Mauerschalen bis ins Allerheiligste immer stärker verdichtende, gleichsam gallertig werdende Raum, in dem schließlich Atmen und sich Bewegen kaum noch möglich ist.

82
Jene alte Engländerin. die sich angeblich in Sethos I. verliebt hat und seit Jahrzehnten täglich Blumen zu seinem Kenotaph bringt, in dem eigentlich Osiris begraben liegt, wenn die Legende stimmt. - Aber dann müßte man doch irgendwelche Sträuße im Grund- und Nilwasserteich schwimmen sehen, aus dem die mächtigen Granitquader des Scheingrabes ragen.

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Der Tempel von Esna, - ein nicht mehr verwendbarer, mit ägyptisch-ptolemäischem Geheimwissen gespeicherter, zum Teil auch bereits leergelaufener Computer in einer neun Meter tiefen Müllgrube.

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Sprang im Suk plötlich aus einem sehr hohen Laden, kam eigentlich aber von nirgendwo, vielleicht aus Tausendundeinenacht, und entfaltete vor mir in Sekundenschnelle einen schwarzroten Shawl von gewaltiger Länge aus Seide, hinter dem er, rundlich, klein und kaftanschwarz kaum noch zu sehen war. Nachdem ich ihm den Shawl abgekauft hatte, versuchte er es ein zweites Mal hinter einem mit Tomatenkisten hochbeladenen zweirädrigen Karren hervor mit einem einfachen Tuch wie es die Beduinenfrauen tragen, jedoch erfolglos.

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Der zu einer dritten Hand gewordene linke Fuß, den ein Schneider braucht, um das vorsintflutliche Bügeleisen zu belasten, das von der Rechten an langem Stil gelenkt wird, und das knotige Knie dieser dritten Hand, das aus der geschürzten Galabiya ragt.

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Reden und reden und reden, und dazu noch in einer fremden Sprache, um jemand anderen, eine Frau oder ein europäisches Mädchen festzuhalten, von der Bewunderung und dem Staunen abgesehen, die man dadurch bei seinesgleichen erregt, daß man sich mit sowas in einer fremden Zunge unterhält.

87
Varia. Erdtrommeln am Säulenfuß der Palmen. - Die rechte östliche und die linke westliche Hand. - Der irdische Nil, der sich mit seinen Sternen in den Wassern des himmlischen spiegelt. - Eine Vogelscheuche trägt selbstverständlich Turban und Galabiya.

88
An allen Gräbern, Tempeln und Pyramiden könnte diese Inschrift stehen: "Kommen gleich zurück. DIE GÖTTER". - Nie war ich ihnen näher.

89
Amuns grammatische Frau, - eine Frau nur der Form halber, - der Symmetrie wegen, - allein für das sprachliche Gleichgewicht, - sonst keine Funktion, - bloß eben so.

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Tief in den heißen Rotunden der Gräber im Staub noch auf die Fußspuren der letzten Priester zu stoßen meinen, die hier ihren Dienst verrichteten und wie Ameisen ihre Mumien hin- und hertrugen, umbetteten und umbetteten.

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Allen voraus im Geschwindschritt über die Berge, in deren steinernem Schoß das Leben der Toten verläuft.

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Wie schnell die Kinder winken, oft mit beiden Händen wie Scheibenwischer, die verrückt spielen, oder Schmetterlinge mit ihren Flügeln am geschlossenen Fenster, während die Businsassen geniert, gemessen und schließlich nur noch gelangweilt zurückwinken. Und ahmtest es nach mit deiner kleinen Tochter, als ich es dir
erzählte, und winktet vierhändig ganz schnell an der Haustür beim Abschied mir nach.

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Erwacht man des Nachts und blickt aus dem Kajütfenster, sieht man Ghafire mit Stöcken und alten Schießprügeln bewaffnet teetrinkend und leise plaudernd im Mondschein auf langen Kaitreppen hocken und am Ende der Gangway liegt auf dem Schiff ein Matrose in schwarzen Pluderhosen 'for security'.

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Dem Knaben aus der 38. wiederbegegnet. Sein Name ist, wie ich jetzt erfuhr, Gamal und er ist zwei Jahre älter geworden. - Das Vogelnest hinter der Kanonenkugel aus der 60. nicht mehr gefunde; sie nisten jetzt anderswo. - Den frechen Erdnußverkäufer von der Kitchener-Insel schokiert weil ich ihn mit einem Slogan begrüßte, den er vor zwei Jahren selbst gebraucht, inzwischen aber wohl vergessen hatte.

95
Heimlich dein Bild, kuhohrig und trotzig, schöne Herrin der Liebe, zwischen Mataana und Edfu.

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"Habe mein Quartier für die nächsten Jahrtausende gefunden, von wo aus ich dich jährlich einmal im Flug besuchen komme. Es ist recht stattlich und mit allem wohl versehen, was ein Gott so braucht. Aber auch du hausest, wie ich feststellen konnte, nicht gerade ärmlich."

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Die riesigen, aus Ziegeln gehäuften Umfassungsmauern von Eikab, der Geierstadt hart an den Ufern des Nil, die nach so langer Zeit endlich wieder zudem werden dürfen, woraus sie gebacken sind.

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Gestatten: Sobek mein Name, und lüftet seinen Hut und reißt sein Maul auf.

99
Ein mannshoher Haufen aufgestapelter Krokodilsmumien verschiedener Größe wie Baumstämme in einem zierlichen Nebentempel von Kom Ombo aus römischer Zeit, idyllisch am Fluß gelegen. Und wirklich, - sie scheinen noch zu stinken.

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Die beiden miteinander verwachsenen Häuser des Major Gayer-Anderson für seine Sommer- und Winterfrau.

101
Diesmal das Ägypten der Zauberflöte (jeden Morgen hebt sich der Vorhang vor feinen Palmensilhouetten, lehmbraunen Hütten, Rauch von Feuern und einem rosa-grünen Himmel), des Amduat (kursiv in schwarz und rot auf hellgrauem Grund) und der geheimen Wissenschaften (Dendera, Abydos, Edfu und Esna ...). Übrigens Dendera, - unlängst sah ich im Traum, als ich ihn überflog und von oben erblickte, daß nicht nur jede einzelne Säule, sondern der ganze Tempel wie eine Rassel gestaltet ist. Und außerdem war klar, daß du in ihm verborgen warst, so wie auch ich, in schwarzen Schieferstein gemeißelt, in der Krypta. -

102
In der Unterwelt: Alle Abschiede vorweggenommen, nur noch Ankünfte.

103
Im Winter wieder das Elend. Abgetrennt Arme und Beine, Kopf und Geschlecht, und völlig zerstückelt Ich: Eine Wiedergeburt des Osiris. Mumienbinden halten mich, oder du: mit den Händen. Ich zerfalle, wenn du mich losläßt.

104
Und als ich aus deinem Schoß kam, lag ich nackt auf der Erde und streckte die Gliedmaßen von mir, und jeder hätte mich verletzen können, der Lust dazu gehabt hätte; aber du schütztest mich.

105
Mein Ägypten, versunken im Schnee. Nur Güterzüge verkehren noch. Der Nil ist zu einem vogtländischen Flüßchen geworden, das rauschend über ein Wehr stürzt. Die Pyramiden zugeschneit bis zur Spitze. Wenn wir aus dem Fenster blicken, werden Palmenhaine von Lawinen verschüttet. Im Weißen ein Obelisk.