neue literatur in hof

Yüksel Pazarkaya | schwierigkeiten beim lesen in der fabrik

[Nachtrag zu zwei Fabriklesungen (einer Probe- und einer Hauptlesung), an denen Horst Bingel, Reinhard Döhl, Claus Henneberg, Josef Hirsal, Gerhard Rühm und Godehard Schramm teilnahmen und die, nach dem Wunsch der Geschäftsführung und der Belegschaft der betreffenden Fabrik, während der Tage für "neue literatur in hof 1969" wiederholt werden sollen.]

die entfremdung zwischen den heutigen autoren und ihrem 'eigentlichen' publikum ist ein literatursoziologisches problem. die entstehung des bürgertums und die bürgerliche revolution konnten eine dominierende, spezifisch bürgerliche literatur hervorbringen, die in der deutschen literatur spätestens bei lessing und lenz einsetzt. sie war eine notwendige erscheinung des bürgertums, welches durch die bürgerliche revolution zumindest aber in dieser literatur etabliert wurde. alsdann folgte die industrielle revolution, mit der die entstehung der arbeiterklasse und des kapitals - d. h. der institutionellen ausbeutung - unmittelbar zusammenhing. dies bedeutet: ehe das bürgertum die politische macht ergreifen konnte, wurde sie vom kapital ergriffen und dem bürgertum blieb der traum unerfüllt. der klassenkampf verlagerte sich auf die neuentstandenen klassen der arbeiter und der industriekapitalisten. was dem bürgertum in der realpolitik versagt blieb, wollte es nun in der literatur und in der kunst in ausbeuterischer zusammenarbeit mit dem kapital auf kosten der arbeiterklasse erreichen: die macht. die literatur blieb bis in unsere tage hinein bürgerlich. sie erreichte - gewollt oder ungewollt - nur die vertreter des bürgertums.

eine andere tendenz in der literatur unseres jahrhunderts entstand parallel mit der wissenschaftlichen (namentlich naturwissenschaftlichen} revolution: die tendenz zur intelligibel schöpferischen literatur. sie blieb bis heute reines 'selbstvergnügen' ihrer schöpfer, weil der eigentliche adressat: der arbeiter, durch das bürgertum und seine kulturausbeutung behindert war, zugang zu ihr zu finden. so entstand der trend vom bildleser, der sich an der ausfertigung modernster industrieller gebrauchsartikel beteiligt und diese selbst in seinem alltag gebraucht, dennoch nach "seinem goethe" ruft, ohne jemals eine zeile von goethe gelesen zu haben. nichts gegen goethe. dieser name wird fälschlicherweise oft stellvertretend für die ganze bürgerliche literatur verwendet.

die fabriklesungen bei den tagen für "neue literatur in hof 1968" zeigten die krankheit bzw. die schwierigkeit der heutigen literaturmacher und ihrer konsumenten deutlich. auf der einen seite stehen die autoren, die nicht mehr vertreter der bourgeoisen klasse sind, sondern als "intellektuelle" ihrer zeit durch ihre formalliterarischen und weltanschaulichen proteste in opposition zur bürgerlichen gesellschaft stehen und dadurch zur vierten klasse hin tendieren. auf der anderen seite steht die vierte klasse, die im spätkapitalismus durch bürgerliche bedingtheit ihren klassensinn verloren hat und von der eigenen produktion versklavt worden ist, weil sie weder diese produktion bestimmen kann, noch in wirklichkeit diese produktion ihr gehört. nur mit dem Lohn, den sie vom kapitalisten erhält, kann sie einzelne stücke eigener produktion zum gebrauch kaufen. und selbst dessen ist sie nicht bewußt: also durch einen doppelten "mehrwert" trägt sie zur macht des kapitals bei. dies ist eine trickvolle, listenreiche methode des spätkapitalismus: auto, fernsehen, kühlschrank, moderne tapeten erwecken in der arbeiterklasse den schein des modernen menschen. nun können aber der heutige arbeiter und der heutige autor nicht beide

zugleich modern sein: also der autor muß ein "spinner" sein. vor allem gerhard, rühm, der modernste unter den fabriklesern in hof, war in den augen des fabrikpublikums in der tat nichts anderes als ein "spinner".

die diskrepanz ist groß. den trägern der macht liegt sicherlich nicht daran, sie - diese diskrepanz zwischen dem modernen autor und seinem publikum - aufzuheben und vice versa: die aufhebung dieser diskrepanz liegt nicht am willen der heutigen machthaber. dafür müßte schon ein menschenwürdigeres gesellschaftssystem an die stelle des jetzigen treten und die [korr. aus: der] "masse mensch" (lies: der bildleser) müßte vom system her die möglichkeit erhalten, von seinem intellekt gebrauch machen zu "müssen".

dennoch hatten die fabriklesungen in hof etwas positives an sich. gerade gerhard rühm, also "der spinner", hatte das größte aufsehen erregt, einen schock ausgelöst. der tapetenmodernen bildleser ein bißchen aufgerüttelt. für einen anfang ist dies sehr erfreulich, einmalig ist dies gar nichts; mehrmals kann dies nicht eintreten, denn der machthaber wird m.e. schon beim nächsten mal dagegen sein. damit ist eigentlich auch das selbstvergnügen der modernen autoren gerechtfertigt. dennoch möchte ich meinen, daß fabriklesungen u.a. (d i. versuch der übertragung des selbstvergnügens auf andere) notwendig sind. sie tragen zur formierung der fronten bei.



neue literatur in hof 1968. Sonderheft der Kulturwarte. Jg 15, S.58 f.