Die 101 Titel dieses Kataloges verzeichnen alle nach unserer Kenntnis in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und in der Schweiz erhalten gebliebenen Hörspielaufnahmen der Jahre 1928 bis 1945. Hörspiele bzw. Sendespiele gibt es seit den Anfängen des Rundfunks. Eine der ersten deutschen Arbeiten, Hans Fleschs "Zauberei auf dem Sender" aus dem Jahre 1924, ist nur im Text überliefert. Das früheste nachweisbare Tondokument, Haupteintrag Nr.1 dieses Verzeichnisses, entstand am 4. Februar 1928 in Breslau; es handelt sich um zwei Ausschnitte von "Hallo! Hier Welle Erdball!!" von Friedrich Bischoff und Werner Milch. Die Aufstellung schließt zeitlich ab mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Sie ist im Hauptteil chronologisch geordnet. Sechs Register (Titel, Autoren, Komponisten, Regisseure, Interpreten, Sender) dienen der Erschließung der Haupteinträge.
Gegenüber den bereits erschienenen Katalogen enthält dieses Verzeichnis eine Reihe von Aufnahmen, die die Breite der Hörspielarbeit bis 1933 und unter dem Nationalsozialismus sichtbar machen - vom traditionellen Handlungshörspiel über das chorische Hörspiel und Hörbild bis zum Hörbericht und zur Hörfolge. Es stellt damit Material bereit zu einer ersten kritischen Aufarbeitung des frühen Hörspiels, insonderheit auch des Hörspiels im nationalsozialistischen Rundfunkprogramm. Darüber hinaus konnten wichtige Beispiele amerikanischer Propagandasendungen im Zweiten Weltkrieg (Nr.91, 92, 94) aufgenommen werden. Eine Anzahl deutschsprachiger Hörspielinszenierungen aus der Schweiz ist ebenfalls verzeichnet; in ihnen wirkten z. T. exilierte Regisseure wie Ernst Bringolf (Nr. 84, 85, 86) und exilierte Schauspieler bzw. Sprecher wie Ernst Ginsberg (Nr. 90, 96) und andere mit.
Aus der Hörspielproduktion während der Weimarer Republik ist jetzt ein bedeutsames Dokument zum Teil wieder zugänglich: die eingangs schon erwähnte "Hörspielsymphonie" "Hallo! Hier Welle Erdball!" (Nr. 1). Sie ist ein wichtiger Beleg für die Experimentierfreudigkeit des damaligen Rundfunks mit Hörspielformen und ergänzt Friedrich Bischoffs Versuch eines "Hörspiels vom Hörspiel". Dieses "Hörspiel vom Hörspiel" (Nr.26) erweist zugleich, daß man seit Beginn der Hörspielgeschichte von durch die verschiedenen Redaktionen geprägten 'Hörspielschulen' sprechen kann: der 'Breslauer Schule' (1) etwa gegenüber einer 'Berliner Schule' (2), die beide durch die erhaltenen Tondokumente ausreichend nachgewiesen sind. Ihnen ist eine leider nur ungenügend belegte 'Leipziger Schule' (3) vergleichend an die Seite zu stellen. Der Regiestil des Kölner Intendanten Ernst Hardt (4) gilt als wegweisend; vor allem sind von ihm einige Inszenierungen von Klassikern vorhanden (Nr. 9, 32), die Hardts Stil durch ihre gelungene Umsetzung in funkgerechte Form veranschaulichen. Die Gesamtheit der verschiedenen 'Schulen' ergibt die erstaunliche Programmbreite, das pluralistische Hörspielangebot der Weimarer Zeit. Neben diese Formenvielfalt tritt ein ideologisches Spektrum, das vom sozialistischen Hörspiel (Brecht, Wolf) (5) bis hin zu einem völkisch-nationalen, prä- und pronationalsozialistischen Hörspiel (Ehrke, Moeller) (6) reicht. Ideologische Bindungen lassen sich indes nicht allein am eigentlichen Hörspiel (7) feststellen, sondern gleichfalls am Hörspiel des Kinderfunks (8) oder am Lehrstück des Schulfunks (9).
Die erwähnte Formenvielfalt des frühen Hörspiels hat schon seinerzeit einen heftigen Streit unter Praktikern und Theoretikern entfacht über das, was denn eigentlich Hörspiel sei. "Hier herrscht nicht nur eine erdrückende Fülle der Meinungen und Ansichten, hier herrscht vor allem Verwirrung", schreibt 1932 der später für das nationalsozialistische Regime engagierte Autor Gerhard Tannenberg in einer Betrachtung über "Die künstlerischen Wesenheiten des Hörspieles" (10); und er beklagt, daß es noch keine Hörspiele gibt, "weil es keine Hörspieldichter gibt"! Heute ist, erneut auch anhand dieses Kataloges, zu konstatieren, daß es erstens sehr wohl Hörspieldichter gab, und daß zweitens die Fülle des damals Angebotenen nicht "erdrückend", sondern durchaus belebend und fruchtbar war.
Wenn das vorliegende Verzeichnis die Grenzen zwischen 'Hörspiel' und anderen verwandten Sendeformen auch nicht starr definiert, so mußten doch solche Funkprodukte ausgeschlossen werden, deren Charakter zu sehr reine Poesie - so Kurt Schwitters' "Sonate in Urlauten" (11) - oder zu sehr musikalisch bestimmt sind, um noch als Hörspiel im Sinne dieses Kataloges gelten zu können, wie beispielsweise die "Saarkantate" (12) von Alfred Thieme und Hermann Erdlen (1934), die "Schlesische Fastnacht" (13) von Hans Christoph Kaergel und Karl Sczuka (1932) und die "Mittsommernacht" (14) von Anton Schnack und Edmund Nick (1931).
Dem gegenüber ist der "Lindberghflug" (1930) von Bertolt Brecht trotz des starken Gewichts seiner Musik von Paul Hindemith und Kurt Weill und trotz seiner Bezeichnung als "Radiophonische Kantate" in dieses Verzeichnis aufgenommen worden (Nr. 10), weil das Wort als Spiel- und Handlungsträger den musikalischen Teil überwiegt. Die in diesem Katalog nicht enthaltenen Werke ergeben zusammen mit den aufgenommenen erst jenen Bereich, den Karel Teige - Guillaume Appolinaire folgend - "Radiopoesie" genannt hatte.
Teige schreibt dazu Ende der Zwanziger Jahre (15): "Der heutige Rundfunk ist allerdings in dem Stadium, in dem bis unlängst der Film war: er ist reproduktiv, dolmetschend. Aber uns geht es darum, uns der Radiotelephonie als eines produktiven Elements zu bemächtigen. Wie man mit dem Film Gedichte realisieren kann, die aus Licht- und Bewegungsgeschehen komponiert sind, so schafft man eine radiogene Poesie als neue Kunst von Tönen und Geräuschen, die gleichermaßen von der Literatur, Rezitation entfernt ist wie von der Musik. Die Radiopoesie, auditiv, raumfrei, hat breite und lebendige Möglichkeiten. Die radiogene Poesie als Komposition von Klang und Geräusch, in der Wirklichkeit aufgezeichnet, aber zu einer dichterischen Synthese verwoben, hat nichts gemeinsam mit der Musik oder der Rezitation, oder mit der Literatur oder auch mit der Verlaine'schen Wortklangmalerei. Es ist eine Poesie ohne Worte und keine literarische Kunst. Zur Musik steht sie dann im selben Verhältnis wie der Film zur Malerei."
Die Einsichten Karel Teiges - bis 1933 in der Hörspielarbeit des Rundfunks vielfältig andeutungsweise umgesetzt - sollten erst sehr viel später eine neue und vertiefte Geltung erlangen, nämlich in den Produktionen des 'konkreten' Hörspiels der 60er Jahre. Damit ist eine direkte Verbindung herzustellen zwischen Beispielen des vorliegenden Verzeichnisses und dem Hörspiel der Gegenwart.
In der Zwischenzeit, der Spanne von 1933 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, wird der Bruch offenbar. Nicht etwa derart, daß der Nationalsozialismus bewährte Hörspielformen mit Rücksicht auf seine Ideologie verschmäht hätte! Im Gegenteil: was ihm dienlich war, das spielte er voll aus. Seine Sendeprogramm-Dramaturgie erstreckte sich nicht auf das Hörspiel allein, sondern auf den täglichen Programmablauf insgesamt. Ein im Ton erhaltenes Paradebeispiel dafür ist der 1. Mai 1933 - erster 'Tag der Nationalen Arbeit' des Hitlerregimes: Drei Hörspiele sind im Ton überliefert, außerdem das meiste des übrigen Programmablaufs dieses Tages. Der Nationalsozialismus hat sich die Erkenntnis zunutze gemacht, daß das Hörspiel im Gesamtprogramm plaziert ist - ja, daß das Gesamtprogramm in seinem Sinne als Hörspiel, als Hörstück inszeniert werden kann. In diesem Verzeichnis sind deshalb nicht nur die drei eigentlichen Hörspiele zum 1. Mai 1933 (Nr.57, 58, 59) aufgeführt. Im Anhang ist auch der Gesamtablauf des Tages- und Vorabendprogramms des 'Tages der Nationalen Arbeit' wiedergegeben, um zu verdeutlichen, wie der Nationalsozialismus sich da gleichsam selbst inszeniert.
Der nationalsozialistische Rundfunk konnte also auf manches experimentell Erprobte zurückgreifen, als er daranging, den Rundfunk als Propagandainstrument, als 'Träger des Kults' einzusetzen. Über diesen Katalog hinaus gibt es dazu zahlreiche im Ton überlieferte Belege (16). Allerdings - von 'Radiopoesie' im Sinne Karel Teiges konnte keine Rede mehr sein.
Tondokumente, zumal Hörspiel-Tondokumente, haben neben den schriftlichen Texten ihren Eigenwert. Zwei oder gar häufigere Inszenierungen ein-und-desselben Hörspiels, erst recht wenn Neubearbeitungen damit verbunden sind, spiegeln den Wandel der Hörspieldeutung und des grundsätzlichen Verständnisses von 'Hörspiel'. Das läßt sich belegen an dem einzigen Hörspiel von Alfred Döblin nach seinem Roman "Berlin Alexanderplatz", nämlich der "Geschichte vom Franz Biberkopf", in einer Berliner Radioinszenierung von 1930 (Nr. 15), der im Jahre 1962 eine Gemeinschaftsproduktion des Norddeutschen Rundfunks mit dem Sender Freies Berlin folgte. An diesem Beispiel zeigt sich: Unterschiedliche Versionen eines Hörspiels erfordern den Vergleich der Tondokumente mit der jeweiligen Textfassung - seien es Funkmanuskripte oder Transkripte. Erst der Vergleich der Tondokumente mit den ursprünglichen Texten und den Funkmanuskripten bietet die Möglichkeit einer kritischen Aufarbeitung der Hörspielgeschichte.
Einige Hörspiele dieses Verzeichnisses sind im Druck erschienen, von anderen gibt es Typoskripte. Die meisten wichtigen Titel jedoch müssen erst noch transkribiert werden, und das Deutsche Rundfunkarchiv wird versuchen, vorhandene Textlücken zu füllen. Im Druck erschienene Hörspiele (17) sind bibliographiert in "Uwe Rosenbaum - Norddeutscher Rundfunk (Hrsg.), Das Hörspiel - Eine Bibliographie. Texte - Tondokumente - Literatur. Hans Bredow-Institut Hamburg 1974". Die Hörspielfassungen und Inszenierungen von Dramen (18), zu denen ein Funkmanuskript nicht vorliegt, können anhand der entsprechenden Werkausgaben verglichen werden. Bei einigen Produktionen des Schweizer Rundfunks (19) sind Manuskripte der verantwortlichen Studios nachgewiesen.
Den Text zweier Hörspiele in diesem Katalog hat Heinz Schwitzke herausgegeben (20): "Der Narr mit der Hacke" von Eduard Reinacher (Nr.14) und "Die Geschichte vom Franz Biberkopf" von Alfred Döblin (Nr. 15), die bei ihm den auf den Döblinschen Roman zutreffenden Titel "Berlin Alexanderplatz" trägt. Schwitzkes Textfassung des "Biberkopf" folgt einem Tondokument der Zeit. Für eine neue Ausgabe des Döblinschen Textes (21) konnte dem Herausgeber Heinz Schwitzke mit einem wieder aufgefundenen Exemplar des für die Berliner Funkstunde vervielfältigten Manuskripts (22) eine Vorlage zur Verfügung gestellt werden, die einen interessanten Vergleich mit der hiervon wesentlich abweichenden Funkfassung von 1930 erlaubt.
Einen Sonderfall stellt das Arbeitslosenhörspiel "Der Ruf" von Hermann Kasack dar. Von ihm ist das Tondokument aus dem Jahre 1932 erhalten. Auch von der den Text im Sinne nationalsozialistischer Politik verfälschenden Fassung von Ottoheinz Jahn ist wenigstens ein Funkmanuskript der Zweitinszenierung von 1933 aufgefunden. Eine synoptische Gegenüberstellung gibt Aufschlüsse über den Umgang des nationalsozialistischen Rundfunks mit früheren Hörspieltexten, zumal diese beiden Versionen symptomatisch sind für den immer wieder behaupteten (und weiter oben schon angedeuteten) Bruch in der Geschichte des deutschsprachigen Hörspiels.
Über die Tonaufnahmen dieses Kataloges hinaus sind weitere Hörspiel-Tondokumente möglicherweise der Vernichtung während und nach dem Zweiten Weltkriege entgangen. Es bleibt zu hoffen, daß das eine oder andere eines Tages noch auftaucht, damit es dem Rundfunk zur Verfügung steht, und damit die Wissenschaft eine umfassende Würdigung des gesamten Komplexes aus historischer Distanz vornehmen kann.
Nachweise
1) Einträge l, 21,
26
2) Einträge 4-13, 15,
18-20, 24, 34, 35 u.a.
3) Einträge 22, 29,
31, 36, 50
4) Einträge 9, 14,
16, 17, 23, 27, 28, 32
5) Einträge 4, 10,
34
6) Einträge 43, 44,
65, 79
7) Einträge 25, 30,
31, 35, 43
8) Einträge 2, 19
9) Einträge 39, 45
10) In: Rufer und Hörer.
Jahrgang 2, Heft 10, Januar 1933, Seite 440 ff.
11) Tonaufnahmen zur deutschen
Rundfunkgeschichte. Bild- und Tonträgerverzeichnisse, herausgegeben
vom Deutschen Rundfunkarchiv, Nr.1. Frankfurt am Main 1972, Seite 66
12) ebenda, Seite 100
13) ebenda, Seite 98
14) ebenda, Seite 97
15) Aus: Manifest des Poetismus.
In: Karel Teige, Liquidierung der Künste. Analysen, Manifeste. Frankfurt
am Main 1968, edition suhrkamp 278, Seite 103 f
16) ebenda, Teil 1 (zahlreiche
Nachweise gemäß Namens- und Sachregister)
17) Einträge 4, 14,
15, 28, 33, 39, 56
18) Einträge 9, 32,
34, 41, 46, 48, 55, 93, 96, 99
19) Einträge 80, 82,
85, 86, 95, 98
20) Heinz Schwitzke (Hrsg.),
Frühe Hörspiele - Sprich, damit ich dich sehe, Band II, List-Bücher
217. München 1962
21) Alfred Döblin,
Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Stuttgart 1975, Reclams Universalbibliothek
9810
22) Die Geschichte vom Franz
Biberkopf (nach dem Roman "Berlin-Alexanderplatz") von Alfred Döblin.
Eigentum der Funkstunde A. G., Berlin. Bei Geschwister Hochstein, Berlin,
o.J. - Nachweis: Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main.