Reinhard Döhl / Johannes Auer | Reproduktivität und Produktivität im Internet. Offenes Kolloquium SS 1998

Aufgabenstellung | Literaturhinweise | Historische Skizze des Mediums  | Arbeitshypothesen  | künstl. Möglichkeiten Analysen

I. Aufgabenstellung:

Das Internet und seine Möglichkeiten sind Mißverständnissen ausgesetzt, die entweder auf Unkenntnis oder (meist) darauf beruhen, daß seine reproduktiven und produktiven Möglichkeiten verwechselt oder verkannt werden. Das Kolloquium will deshalb

1. fachbezogen eine sinnvolle Nutzung des Internets für literaturwissenschaftliche Arbeit diskutieren, Dabei wird es vor allem um die Frage des Bibliographierens im/mit Hilfe des Internet[s] gehen.
2. eine historische Skizze des Mediums versuchen mit besonderem Schwergewicht auf der Frage, wieweit dieses Medium, lediglich technisch neu, in der Medien- und Kulturgeschichte bereits antizipiert war,
3. hauptsächlich aber fragen, welche künstlerischen Möglichkeiten das Internet anbietet, wobei zunächst eine Unterscheidung von Literatur im Internet und Internetliteratur sowie eine von Hermann Rothermund aufgestellte Typologie der Internetliteratur als Ausgangspunkt gelten können, erweitert um die These/Frage, daß/wieweit das Internet eine für die Künste des 20. Jahrhunderts signifikante Tendenz zum Dialog aktualisiert.

Literaturhin- und -verweise

1) Printliteratur:
Sherry Turkle: The Second Self. Computers and the Human Spirit. New York: Simon & Schuster 1984. Dt. u.d.T. Die Wunschmaschine. Vom Entstehen der Computerkultur. Reinbek: Rowohlt 1984.
Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen 1989.
Ders.: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Philosophie der Medien. Schriften, 1. Bensheim 1993.
Beat Wyss: Die Welt als T-Shirt. Zur Ästhetik und Geschichteder Medien. Köln 1997.
Katalog der Documenta X, Kassel 1997.
Vom Holzschnitt zum Internet. Die Kunst und die Geschichte der Bildmedien von 1450 bis heute. Heidenheim: Kunstmuseum / Ostfildern/Ruit: Cantz 1997.
Reinhard Kaiser: Lichtungen im Datenschungel. In: Sprache im Technischen Zeitalter, Jg 35, August 1997.
Hermann Rotermund: Warten auf den Online-Ulysses. Die ZEIT, 3.Oktober 1997.
Bernd Wingert: Kann man Hypertexte lesen? In: Literatur im Informationszeitalter. Hrsg. von Dirk Matejovski und Friedrich Kittler. Frankfurt/Main 1996.

2) Im Internet verfügbare Literatur:

Heiko Idensen: Die Poesie soll von allen gemacht werden! Von literarischen Hypertexten zu virtuellen Schreibräumen [...]: http://www.uni-kassel.de/interfiction/projekte/pp/poesie.htm
Seminar "Kollaborative Autorschaft":
http://userpage.fu-berlin.de/~epos/VC/autor/sem1.html
Döhl: Von der ZUSE Z 22 ins WWW:
http://auer.netzliteratur.net/du/zuse/zuse_www.htm
Döhl: Ansätze und Möglichkeiten künstlerischen. Dialogs im 20. Jh.:
http://auer.netzliteratur.net/du/wien.htm
Döhl: Keinort Stuttgart
http://www.stuttgarter-schule.de/
Johannes Auer: Schreiben und Lesen im Internet:
http://auer.netzliteratur.net/interlit.htm
Ulrich Schmitz: Schriftliche Texte in multimedialen Kontexten:
http://www.linse.uni-essen.de/papers/schriftl_texte.htm

Bibliographien:

http://www.duke.edu/~mshumate/list01.html
http://www.update.ch/beluga/hypfic.htm
http://auer.netzliteratur.net/du/theorie.htm
http://www.linse.uni-essen.de/literaturl/hyper.htm

II. Historische Skizze des Mediums
mit besonderem Schwergewicht auf der Frage, wieweit dieses Medium, lediglich technisch neu, in der Medien- und Kulturgeschichte bereits antizipiert ist.

Welche Medien müssen bei dieser Skizze bedacht werden?
- Foto
- Stummfilm
- Sprechfunk (Rundfunk)
- Tonfilm
- Fernsehen
- Schreibmaschine/Schrift (bewegliche Letter, Bleisatz, Lichtsatz)
- Rechenmaschine (Geschichte, Typen)
- Großrechenanlagen

Im Sinne der elektronischen Informationstechnik verlagert sich in der modernen Mediengeschichte die Informationsübertragung von materiellen Trägern (Brief, Zeitung, Buch mit allem was dazugehört) hin zu immateriellen Trägern: elektronische Medien. Versteht man sie als technische Mittel/Möglichkeiten der Kommunikation, kann man - Karl Steinbach [= Elektronische Informationstechnik] folgend - die These aufstellen, daß - eine kontinuierliche Entwicklung vorausgesetzt - der Zustand totaler Kommunikation im nächsten Jahrhundert erreicht wird: Jeder kann dann jeden jederzeit in Bild und Ton erreichen, auch Computer und Informationsbanken. Dieser Zustand totaler Kommunikation wird starke Wirkungen auf das menschliche Zusammenleben einschließlich seiner kultureller Praxen haben und sollte deshalb rechtzeitig durchdacht werden, so daß seine Gefahren umgangen und seine Chancen genutzt werden können.

III. Arbeitshypothesen

Hypothese 1
Diese elektronischen Medien wurden in der Regel für einen bestimmten Zweck erfunden, d.h. ohne das ein kulturelles Bedürfnis bestand. Da die Industrie die Apparate aber bauen konnte, wollte sie sie auch verkaufen. Dazu mußte erst einmal das Bedürfnis geweckt werden. Im Falle des Rundfunks z.B. durch ein Programmangebot, das von vornherein den künftigen Benutzer mit seinen Wünschen einbezog

Hypothese 2
Diese Medien sind Sende- oder Aufschreibsysteme [nicht unbedingt im Sinne Kittlers, Aufschreibsysteme 1800-1900, München 1985], die live, also unmittelbar oder aufgeschrieben/aufgezeichnet nach Programm, also mittelbar senden.

Hypothese 3
Sie sind (mit Ausnahme des Telefons) einkanalig, d.h. der Weg vom Sender zum Empfänger ist irriversibel.
[Versuche, dies zu ändern, waren/sind Hörerbeteiligungen, Zuschauerbeteiligungen in welchen Formen auch immer, die aber den Hörer, Zuschauer nicht zum Sender machen; Ausnahmen: Hörerspiele. Medienhistorisch wichtige Überlegungen zur Frage Rundfunk / Hörer / Beteiligung haben Bertolt Brecht und Walter Benjamin angestellt.
Vgl. dazu:
http://doehl.netzliteratur.net/mirror_uni/benjamin.htm
http://doehl.netzliteratur.net/mirror_uni/theoprax.htm

Hypothese 4
Die traditionellen elektronischen Medien sind reproduktiv noch dort, wo ihre Mittel genutzt werden, um ihnen und nur ihnen mögliche künstlerische Hervorbringungen zu senden.
- Hörspiel
- Film
- Fernsehspiel.

Hypothese 5
Dennoch ist eine Produktion zu den Bedingungen des Mediums, die die Mittel nutzt, nun nicht zum Informationstransfer, sondern für nur dem Medium eigene ästhetische Information, ein Akt der produktiven Nutzung.
[ Zu den medialen Bedingungen des Hörspiels vgl. z.B.http://doehl.netzliteratur.net/mirror_uni/bedingun.htm ]

Hypothese 6
Die Vernetzung der Computer als Aufschreib- bzw.  Aufzeichensysteme, also das Internet, bietet (das Telefon wesentlich verbessernd) erstmals die Möglichkeit wechselseitiger Kommunikation, des produktiven Dialogs. Die Möglichkeit, die Informationsautobahn zu verlassen und die Informationsmittel und wege produktiv zu nutzen, eine dem Medium entsprechende Kunst zu entwickeln, die die traditionellen Künste nicht ablösen aber in einer  radikalen Weise fortschreiben wird.

IV. Welche künstlerischen Möglichkeiten bietet das Internet?

Zu unterscheiden ist zwischen Literatur im Internet [= LI] und Internetliteratur [= IL].

Beispiele für LI:
a) Das Gutenbergprojekt und Verwandtes, z.B. neuerdings "Die deutsche Lyrik" im Internet.
Gegenüber diesen Projekten, die das Internet lediglich als technisch neue Publikationsmedium nutzen, erprobt augenblicklich das von Johannes Auer und Reinhard Döhl herausgegebene "poets' corner'le - der Stuttgarter Poetenwinkel"  eine den Bedingungen des Internets entsprechende offene, fluktuierende Anthologieform
b) Von Usern ins Internet gestellte literarische Hervorbringungen, die, gemessen mit dem Maßstab traditioneller Leseliteratur, meist und mit Recht als mittelmäßig gewertet werden, also traditionellen Ansprüchen an Literatur nicht genügen.
[Zu fragen ist allerdings, ob sich Ansprüche, und wer stellt sie? übertragen lassen. Dialoge auf der Bühne, im Roman, im Hörspiel sind (bei Theaterstück und Hörspiel ihre Realisation vorausgesetzt) durchaus unterschiedliche Schuhpaare. Ein Gedicht,das ich lese, und ein Gedicht, das vorgelesen wird, stellen unterschiedliche Bedingungen. Dies fortgesetzt über Bild, Foto, bewegtes Bild etc.]

Beispiele für IL nach der Typologie Hermann Rotermunds
a) Gedichte und Erzählungen, die sich von ihrer medialen Umgebung noch in keiner Weise beeindrucken oder beeinflussen lassen.
[Gehört wohl eher unter LI]
b) Hypertext-Literatur im Sinne der von Michael Joyce und anderen entwickelten Hyperfiction: navigierbarer Text mit einer häufig recht komplexen und häufig nichtlininearen Struktur; aber wohlgemerkt: nur Text.
[Die Nichtlinearität dieser Texte unterscheidet sie nicht nur vom traditionell linearen Lesetext und Textverständnis. Auch, wenn ich zurückblättern darf, diagonal lese etc. lese ich linear und final. Wichtig und zu bedenken sind aber die oft als Partitur ausgewiesenen Leseflächen, z.B.
- Stéphane Mallarmés "Un coup de dès jamais n'abolira le hasard"
- Raymond Queneaus "Cent mille milliards de poèmes"
- Marc Saportas "Composition no. 1"
und andere kombinatorische Texte seit der Literaturrevolution, die ja alle vom traditionellen Textverständnis fort wollten bzw. es in Frage stellen. Gehören sie also ins Vorfeld der IL?]
Beispiele für Hypertextversionen traditioneller Permutationen
http://doehl.netzliteratur.net/mirror/gertrud/gertrud.htm
http://doehl.netzliteratur.net/mirror/faun/faun.htm

c) Die in der Tradition der barocken Lyrikmaschinen und der konkreten Poesie der letzten fünfzig Jahre stehenden Text- und Sprachexperimente, die an den visuellen und akustischen Eigenschaften von Texten mindestens ebenso sehr interessiert sind wie an ihren semantischen.
[Siehe das schon zu b) Angemerkte]

d) Multimediale, scriptgesteuerte Kunstwerke mit Anteilen von Text, Bild, Animation und Audio, im Idealfall WWW-Gesamtkunstwerke.
Beispiele, die diese Bedingungen zum Teil und in Ansätzen erfüllen:
makkaronisch für niedlich
pietistentango
bzw. das im Entstehen begriffene, internationale Tango-Projekt .

Um über diese und andere Internet-Projekte und IL sinnvoll sprechen zu können, und d.h. erst einmal ein Analyseinstrumentarium zu erarbeiten, ist es notwendig, eine Reihe dieser Projekte - ähnlich dem tradtionellen Umgang mit Texten/Kunstwerken - zu analysieren und zu interpretieren, um
a) ihre Machart zu studieren (Analyse),
b) ihre Intention zu erkennen (und dabei zu fragen, wieweit die Machart der Intention entspricht, sie deutlicher macht etc.).
c) Der generelle Einwand, daß sich die meisten der hier einschlägigen Beispiele von IL auch auf CD-Rom denken ließen, weil sie zwar interaktiv aber im strikten Sinne keine Netzarbeit seien, wird nach den Einzelanalysen erneut zu diskutieren sein.

V. Analysen

a) Internetliteratur
- Zeit für die Bombe
- Pietistentango
- My boyfriend came back from the war
- Anna Karina goes to Paradise
  [Vgl. dazu auch das Gespräch Tilman Baumgärtels mit Oli Lialina]
- etc.
b) Internetseminare und Diskussionsforen
- Seminar "Kollaborative Autorschaft"