Hiroo Kamimura: Die Autonomität eines poetischen Sprachraums. Die poeto-linguistische Theorie von Helmut Heißenbüttel.
In seinen "Voraussetzungen" sagt Helmut Heißenbüttel, daß Literatur nicht aus Vorstellungen, Bildern, Empfindungen, Meinungen, Thesen, Streitobjekten, geistigen Gebrauchsgegenständen usw. bestehe, sondern aus Sprache, daß sie es mit nicht anderem als mit Sprache zu tun habe. Hierin liegt ein bedeutender Wesenszug seiner Theorie und Texte. Aber was heißt es eigentlich, wenn Literatur nur aus Sprache besteht? Von dieser Frage geht der vorliegende Aufsatz aus.
Daß Literatur aus Sprache bestehe, bedeutet nach einer anderen Formulierung Heißenbüttels, daß sie ein Zustand der Sprache sei, oder nach der Textästhetik von Max Bense, daß der sprachliche Zustand ganz und gar der sprachlichen Eigenwelt der Texte angehöre, nicht ihrer nichtsprachlichen Außenwelt, also nicht dem, worüber gesprochen werde. Wenn man von diesem Standpunkt aus Heißenbüttels Texte liest, fällt vor allem Reduktion auf, die zugleich ein Hauptthema eines Essays über Gertrude Stein ist. Im Lexikon hat der Begriff Reduktion zweierlei Bedeutungen: einerseits Verminderung oder Verknappung, andererseits Zurückführung. Bei Heißenbüttel hat er beide Aspekte, die aber nicht voneinander unterschieden, sondern von einer Intention geleitet sind. Denn wenn Heißenbüttel von Reduzierung der Sprache auf sich selbst, auf ihre Grundelemente spricht, setzt er schon Verkleinerung oder Beschränkung des Inhalts und Auflösung der Form zugleich voraus, was Sprache auf sich selbst und auf ihre Besinnung zurückführen muß. Bei der Reduzierten Sprache Heißenbüttels handelt es sich nicht um Sprache als Vehikel oder Medium, sondern um Sprache selbst. Man erinnere sich hier an eine Bemerkung Heißenbüttels: Die an der Zweiteilung in Form und Inhalt ansetzende Reduzierung der Sprache auf sich selbst, auf ihre Grundelemente, hat sie ihrem traditionellen Kommunikationscharakter enthoben [...]. In Bezug auf Sprachreduktion müßte man wissen, daß sie vielfältige Erscheinungsweisen aufweist. Außer Reduzierung der Kategorie des Inhaltlichen und Auflösung der Form treten eines traditionellen Sprachmodells, Unabhängigkeit der einzelnen Sprachteile, ihre Wiederholung und Kombination usw. auf. Gerade in solcher selbständigen, sozusagen autonomen Sprache liegen Wesenszüge seiner Texte. Daher möchte ich die Grundstruktur seiner Sprache analysieren.
Darauf dürfte man auch hier die von Ferdinand de Saussure aufgestellten drei Grundfragen verwenden: Langue und Parole, Synchronie und Diachronie, Signifiant und Signifié. Im Grunde genommen wäre Heißenbüttels Sprache nur von der synchronen Seite zu erfassen, mit anderen Worten, seine synchronen Sprachgedanken gehen immer den diachronen voran. Dies wird z.B. in einem Vergleich der Literatur des 20. Jahrhunderts mit der des 19. Jahrhunderts deutlich. Heißenbüttel sagt: Wer heute Balzac oder Fontane als Muster nehmen wollte, könnte dies nur, wenn unsere Welt oder ihr sprachlicher Ausdruck in wesentlichen Punkten die gleichen wären wie die unserer Großväter und Urgroßväter. Sie sind es gewiß nicht. Zweitens, wenn Heißenbüttel poetische Sprache der Sprache als System syntaktischer und grammatischer Zusammenhänge gegenüberstellt handelt es sich um Parole und Langue. Dieses Saussuresche Begriffspaar könnte man, nach der Terminologie Heißenbüttels, als Sondermodell bzw. Grundmodell umschreiben. Bei ihm müßte Parole weiter in ein alltägliches und ein literarisches Modell eingeteilt sein, weil das letzte im Unterschied zum ersteren gekennzeichnet wäre durch auswählende und formierende Prinzipien. Wichtig ist folgendes: Sein Sondermodell (Parole) geht aufgrund der reduzierten Sprache über ein alltägliches Sprachmodell und ein historisches und gesellschaftliche vorgeprägtes, allgemeines Grundmodell (Langue) hinaus, nicht zuletzt über ein gegebenes, bereits starres, altes Sondermodell. Drittens möchte ich darauf hinweisen, daß Sprachreduktion, die die Sprache dem sogenannten Kommunikationscharakter enthoben hat, eigentlich in der Erkenntnis der Willkürlichkeit des sprachlichen Zeichens wurzelt. Anders ausgedrückt, Heißenbüttels Sondermodell, daß nichts mit außersprachlichen Kategorien zu tun hat, geht von vornherein von der Zweiteilung in Signifiant (Bezeichnendes) und Signifié (Bezeichnetes) aus,. Dies alles scheint mir sehr wichtig, um die Texte und poeto-linguistische Theorie Heißenbüttels zu verstehen.
Wie sehen denn seine Sondermodelle aus? Eine Antwort darauf könnte man in der Autonomität eines Sprachraums finden. Heißenbüttel meint in Bezug auf einen Text von Gertrude Stein: Sie [die Sprache, H.K.] erklärt nicht etwas, steht nicht für etwas, beschreibt nicht, sondern ist selbständig , autonom, in sich verkapselt. Seine Texte haben ebenso einen autonomen Charakter wie die von Gertrude Stein. Aber auf welchen Prinzipien beruhen sie eigentlich?
Unter anderem müßte man Prinzipien antigrammatischer Natur hervorheben. Hierzu sagt Heißenbüttel: Die neuen Prinzipien der Literatur des 20. Jahrhunderts sind antigrammatischer Natur. Dabei unterscheidet er zwei große Tendenzen: eine reproduzierende und eine anti- oder freisyntaktische. In der ersten spielt das Prinzip der Sprachmontage und in der letzteren das der Kombinatorik eine große Rolle. Daraus resultieren verschiedene Aspekte seiner Texte, wie Sprachreduktion und -destruktion, asyntaktische Koppelung, alogische Kombination, abstrakte Wort- und Satzkomposition, neue syntagmatische Verfahren, eine Art Wort- und Sprachspiel usw. Aber warum denn? Ohne Zweifel liegt der eine Grund dafür in seinen oben erwähnten Sprachgedanken, aber darüber hinaus darf man nicht übersehen, daß sein autonomer Sprachraum , der sich wesentlich auf syntaktische Freiheit bezieht, auf Halluzination angelegt ist. Der Sprachraum, der nichts mit nichtsprachlicher Außenwelt zu tun hat, bedeutet nach Heißenbüttel eine nur sich selbst identische quasi reale Sprachwelt. Gerade darin spiegelt sein Sprachraum eine künstlich halluzinative Welt vor. Dabei hat das Selbstbewußtsein, das sich auf halluzinatorische Weltverdoppelung beruft, keinen zentralen Bezugspunkt. Umgekehrt entsteht daraus die multiple Subjektivität, die in einer auf mehrere Punkte zugleich bezogenen Perspektive steht. Offensichtlich gründet sich die Simultaneität der Bezugspunkte, die der halluzinatorischen Methode der Literatur entspricht, auf einer vieldimensionalen Betrachtungsweise der Welt. Hierin sehe ich einen der Wesenszüge der Literatur Heißenbüttels.
[Vollständig in japanischer Sprache in: Doitsu Bungaku, hrsg. Von der Japanischen Gesellschaft für Germanistik, H. 54, 1975, S. 44-50]