Reinhard Döhl | Hörspielwerkstatt zu Hermann Kasacks "Der Ruf"

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Vor dem Hintergrund damaliger Arbeitslosigkeit, im Kontext sie thematisierender Hörspiele hat Herman Kasacks "Der Ruf" seinen besonderen Stellenwert zunächst, weil er, am 12. Dezember 1932 gesendet, eines der letzten Hörspiele des Weimarer Rundfunks vor Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ist. Vor allem aber; weil er in einer Bearbeitung durch Ottoheinz Jahn am 20. März 1933 noch einmal wiederholt wird. Diese Wiederholungssendung bekommt ihr zusätzliches propagandistisches Gewicht durch ihre Plazierung auf den Vorabend des "Tages von Potsdam".

Die im Manuskript erhaltene Bearbeitung ermöglicht dabei im Vergleich zum erhaltenen Tondokument der Erstsendung sowohl Einsichten in die Problematik des sicherlich unpolitisch gemeinten Hörspiels als auch die Problematik medialer Manipulation. Hermann Kasack, der energisch gegen die politische Umschrift seines Hörspiels protestierte, bekam am 28.März, also 8 Tage nach der Wiederholungssendung, Sendeverbot.

Anders als seine Vorgänger erzählt Kasack das Schicksal seines Arbeitslosen Martin Keller, nicht fortlaufend, fügt vielmehr einleitend und gliedernd einen "Chor der 4 Herren" ein.

Zitat

I. Meine Herren, wir brauchen Unterlagen über einen gewissen Martin Kel1er.
II. Moment... Hier... Keller, Martin Berlin Präsidentenstr 33... Hinterhaus, 3 Treppen. Wohnt zusammen mit den Eltern... Zwei Stuben und Küche
III. Keller, Martin: 26 Jahre alt... arbeitet seit 5 Jahren bei Grundlach & Co.... Der Vater ist durch Schlaganfall gelähmt, bezieht Kleinrentnerunterstützung. Die Mutter bessert hin und wieder Wäsche aus.
IV. Das also ist die Familie Keller. Es sind ordentliche Leute. Der Sohn ist sozusagen der Ernährer der Familie. Man freut sich, wenn man geordnete Verhältnisse antrifft. Gerade heutzutage, wo die Arbeitslosigkeit immer mehr zunimmt.
II. Hören Sie mir damit auf. Die Leute wollen nicht arbeiten. Nein, nein, Herr Kollege, sie wollen einfach nicht.
III. Ich bin nicht Ihrer Ansicht. Die Unterstützung ist so gering, daß sie kaum zum Existenzminimum ausreicht. Ich glaube nicht, daß jemand zum Vergnügen arbeitslos wird.
IV. Ich weiß gar nicht, warum Sie streiten. Der Mann hat ja Arbeit.

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Die jetzt im Spiel folgende Kündigung Martin Kellers, der, auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit, noch in "geordneten Verhältnissen" angetroffen wird, macht sein Schicksal zu einem Modellfall, um so mehr, als die weiteren Stationen der Arbeitslosigkeit, seine vergeblichen Versuche, die Isolation zu durchbrechen, Störungen im Verhältnis zu seiner Braut, Flucht in den Alkohol, ins Spiel, der geplante Freitod immer wieder vom "Chor der 4 Herren" kommentierend unterbrochen werden. Die Stationen scheinen hinterfragbar, die Entwicklung studierbar, das Einzelschicksal läßt sich in den unterbrechenden Gesprächen verallgemeinern. Das wären gute Voraussetzungen für ein Lehrstück gewesen. Aber lag dies in Kasacks Absicht?

Zitat

I. Also meine Herren, notieren wir: Arbeitslos geworden.
II. Herr Kollege, wir haben vorhin davon gesprochen. Nun werden wir mal sehen, wie so ein Fall läuft.
III. Furchtbar. Denken Sie daran, daß der Sohn die einzige Stütze der Eltern ist...
II. Das legt ihm um so mehr moralische Verpflichtungen auf...
IV. Meine Herren... Wie mag dem Manne wohl zumute sein...

Autor

Was sich hier andeutet, daß nämlich, wie auch in den anderen Hörspielen zu diesem Thema, doch wieder nur privates Schicksal erzählt wird, hebt nicht nur die Chance, ein Lehrstück zu schreiben, auf. Sie macht zugleich die dramaturgische Effizienz eines Chores praktisch unwirksam, der - zwischen den Fall und den Hörer geschaltet - eine Identifikation weitgehend erschwert hätte. So ist es nur konsequent, wenn sich der "Chor der 4 Herren" auf dem Höhepunkt der Krise, kurz bevor Martin Keller sich der Ausweglosigkeit seiner Situation durch den Freitod entziehen will, verabschiedet mit dem resignativen Verweis auf den Widerspruch von Theorie und Praxis.

Autor

I. Theoretisch betrachtet, meine Herren, ist die Arbeitslosigkeit ein reines Wirtschaftsproblem. Die Aufnahmefähigkeit von Waren und ihre Herstellung - also der Konsum und die Produktion - brauchen nur in einem gesunden Verhältnis zu stehen. Wenn jeder Mensch - theoretisch betrachtet - stets soviel verdienen würde, wie er zugleich an Werten produziert, tja dann kann es überhaupt keine Arbeitslosigkeit geben.
II. Nach meiner Auffassung sind die hohen Löhne und Gehälter schuld. Deshalb produzieren wir zu teuer, deshalb ist unsere Ware nicht genügend abzusetzen, deshalb zu kleiner Umsatz und deshalb die Arbeitslosigkeit! Die Sache liegt theoretisch ganz klar: großer Umsatz - kleiner Nutzen: dann brauchte es keine Arbeitslosigkeit zu geben.
III. Ich bin entgegengesetzter Meinung. Man muß die Kaufkraft des einzelnen Menschen steigern. Man muß die Löhne und Gehälter kräftig erhöhen, dann hat der Einzelne wieder mehr Geld, um zu kaufen, aus der erhöhten Nachfrage ergibt sich logisch erhöhte Produktion - so können die Arbeitslosen wieder in den allgemeinen Produktionsprozeß eingeordnet werden.
IV. Man sieht, theoretisch läßt sich das Problem der Arbeitslosigkeit auf verschiedene Weisen lösen
I. Aber in der Praxis
IV. In der Praxis, meine Herren...? Praktisch kann man nur abwarten und sehen, wie man sich während dieser allgemeinen Krise vorsichtig weiter und weiter hilft.

Autor

Mit diesem 'Rezept' lassen die 4 Herren" ihren Fall praktisch im Stich, lassen Martin Keller seine eigene Lösung suchen und machen ihn damit zum Identifikationsangebot.

In einer Mutation läßt Kasack die "4 Herren" kurz vor ihrer Verabschiedung noch als vier Lockstimmen auftreten, die in verkürzter Form das Parteienspektrum der Weimarer Republik vertreten: als Partei der "Unterdrückten", die "gegen die Ausbeuter" kämpft, als Partei des "Mittelstandes", die darauf hofft, daß es Wirtschaft und Industrie besser gehen werde, als Partei, die ihrem "Führer" in die "wahre Volksgemeinschaft" folgt, und als Partei des "Klassenkampfes". Auch wenn Kasack keine Namen nennt, die Charakterisierung läßt unschwer Sozialdemokraten, bürgerliche Mitte, Nationalsozialisten und Kommunisten erkennen. Daß sich Martin Keller auf keine von diesen Parteien einläßt, ist für einen Arbeitslosen eher untypisch, spiegelt aber recht deutlich den Parteienüberdruß vieler Intellektueller wider, die, in der sich auflösenden Weimarer Republik, die Praktikabilität der öffentlichen Lösungsvorschläge bezweifelten und an eine parteipolitische Lösung nicht mehr glaubten.

Auf der anderen Seite mußte Hermann Kasack seinen Helden vor dem Freitod bewahren, aus seiner aussichtslosen Lage herausführen. Denn negative Hörspielschlüsse waren 1932 angesichts von über 6 Millionen Arbeitslosen nicht opportun. Da sie konkrete Lösungen nicht anzubieten wußten, variieren die Vorschläge der Autoren von der praktischen Nächstenliebe über die Selbsthilfe über den durch die Jugend garantierten Hoffnungsstreif am Horizont zu abenteuerlichen Visionen von Arbeitsbeschaffung, zu denen auch Hermann Kasacks "Der Ruf" beisteuert, wenn er den durch ein Naturerlebnis und seine innere Stimme geläuterten Martin Keller zum Führer der Gemeinschaft aller Arbeitslosen und Arbeitenden avancieren läßt. Geeint durch den "Glauben an die Zukunft", vereint im "Willen zur Arbeit", machen sich unter Anführerschaft Martin Kellers Arbeiter und Arbeitslose auf den gemeinsamen Marsch in die Arbeit, erzwingen sie die Öffnung der Fabriken, sind schließlich am Ziel.

"Schweigen", sieht hier das vervielfältigte Funkmanuskript vor:

Zitat

Danach, sofort aufgeblendet, deutliches Stampfen der Maschinen, Dynamos, Turbinen usw. Die akustische Vision der arbeitenden Maschinen, in regelmäßigem Rhythmus, läuft eine Weile ganz allein. Jähe Stille.

Autor

Aber Hermann Kasack begnügt sich mit dieser "akustischen Vision" noch nicht. Er steigert nach der "jähen Stille" noch einmal in die liturgische Gebärde, wenn er abschließend Martin Keller das "Vaterunser" um eine neue Bitte vermehren läßt:

Zitat

Unser täglich Arbeit gib uns heute.

Autor

Das wäre in groben Zügen, was das Manuskript für die Inszenierung vorsah. Nur, der Hörer hörte manches anders. Bereits die erste Inszenierung dieser "Funkdichtung" durch Edlef Koeppen, die am 12. Dezember 1932 durch die Funkstunde in Berlin zur Ursendung kam, weicht im letzten Drittel so auffällig vom Manuskript ab, daß dies bei jeder Analyse zu berücksichtigen ist.

Da sind zunächst Korrekturen festzuhalten, die auf Einspruch des zuständigen Überwachungsausschusses erfolgt sein könnten, am auffälligsten bei den von Hermann Kasack vorgesehenen Lockstimmen. Wenn in diesem Parteienspektrum - wie in der Inszenierung
von 1932 geschehen - Worte wie "Ausbeuter", "Mittelstand", "Dein Führer", "wahre Volksgemeinschaft", "Klassenkampf" gestrichen werden, verliert dieses Spektrum an Realität, werden die von den Lockstimmen vertretenen Parteiprogramme in sich beliebig und austauschbar - "ausgewogen" würde man dies heute nennen.

Aufmerksamkeit verdienen zweitens Textersetzungen, die sich nicht aus der Praxis der Regiearbeit erklären lassen. Hörte der Hörer am 12. Dezember 1932 zum Beispiel im Anschluß an die Lockstimmen als Kommentar Martin Kellers:

Zitat

Was sollen mir Parteien! Ich suche die Gemeinschaft!

Autor

hatte hier das Manuskript, durchaus differenzierter, Parteiüberdruß formuliert:

Zitat

Ich bin durch die Straßen gegangen, die Parteien haben mir die Ohren vollgeschrieen, aber mit Reden allein - schafft man nicht "Freiheit und Brot". Ich gehöre nicht dazu! Zu keiner Partei von Euch."

Autor

Striche und Unterstreichungen im erhaltenen Manuskript lassen einen schon fortgeschrittenen Probenstand erkennen, legen die Vermutung sehr nahe, daß die Eingriffe erst kurz vor der Sendung, die damals noch live erfolgte, stattgefunden haben. Nach diesen Unterstreichungen war bei den Proben besonders auf die Parteienabsage Martin Kellers abgehoben:

Zitat

Ich gehöre nicht dazu! Zu keiner Partei von Euch.

Autor

Und bei den Parteistimmen war offensichtlich auf das Herausarbeiten des Links-Mitte-Rechts-Spektrums, die konkrete Andeutung besonderes Gewicht gelegt, wie die Unterstreichungen von "Klasse der Unterdrückten", "Mittelstand" und "Dein Führer" leicht ablesen lassen.

Besonders gravierend ist aber ein dritter umfänglicher Eingriff. Während das erhaltene Manuskript vorsieht, daß Martin Keller, der schon den Gashahn aufgedreht hat, durch seine innere Stimme geführt, in einem kurzen Gang durch die Natur und Heimat sich als ein Teil dieser Natur und Heimat, ja eines kollektiven Kosmos begreift und sich so schließlich als "der Ruf, der Ruf nach Arbeit", als Führer aller arbeitenden und arbeitslosen Menschen versteht, fügt die Inszenierung von 1932 vor dieses letzte Verstehen eine ausführlichere Sequenz neu ein. In ihr erklärt der arbeitslose Martin Keller einem namenlosen Arbeiter anhand eines Samenkorns nach dem Biologismusprinzip, daß die Menschen als "Teil der Natur" durchaus "aus sich selbst heraus die Kraft" hätten, "alle Widerstände zu brechen und die alte Form zu sprengen". Daß es nicht ausreiche, wenn der Einzelne, wenn zum Beispiel die Arbeitenden stellvertretend diesen "Willen" hätten. Man müsse "an das Ganze, an die Gemeinschaft" denken:

Einspielung

Wer wollte den Millionen Samenkörnern verbieten zu keimen und aufzubrechen! Niemand könnte es. Sie haben den Willen zum Dasein in sich, deshalb kommen sie zum Dasein. Wir haben den Willen zur Arbeit in uns, deshalb kommen wir zur Arbeit.

Autor

Dieser Wille zu Dasein und Arbeit (als Voraussetzung menschenwürdigen Lebens) ist dem Einzelnen übergeordnet, liegt nicht in seiner Macht. Der Einzelne ist Teilchen in seinem Kraftfeld. An Friedrich Nietzsches problematischen "Willen zur Macht" erinnernd, gipfelt die eingeschobene Sequenz in die äußerst mißverständliche Zuversicht:

Einspielung

Wille läßt sich nicht befehlen. Er wird kommen. Und er wird durch Deutschland marschieren. Der Wille wird an die Tore der stillgelegten Fabriken und Betriebe pochen: Ich bin der Ruf. Wer Hört den Ruf?

Autor

Es ist nicht möglich gewesen, herauszufinden, wer diesen gravierenden Eingriff veranlaßte. Koeppen und Kasack müßten als Verantwortliche eigentlich ausscheiden, selbst dann, wenn man unterstellt, daß diese eingeschobene Sequenz ein Zugeständnis an Einsprüche von außen sein könnte. Vielleicht ist diese Sequenz auch weniger peinlich empfunden worden, als wir rückblickend vermuten, da Ernst Busch als Sprecher des Martin Keller sie engagiert mitgesprochen hat. Wie immer dem sei, vor allem ein Einschub wie dieser öffnete dem Zugriff des Nationalsozialismus auf Kasacks im Grunde unpolitische "Funkdichtung" Tür und Tor.

Als Ottoheinz Jahn sie im März 1933 bearbeitete, war dies weniger eine Verbeugung vor einem gelungenen Muster seiner Gattung, als vielmehr die lndienststellung eines bürgerlichen Schriftstellers, seine Inanspruchnahme für Propagandaabsichten des Nationalsozialismus. Und der hatte, nach der erfolgreichen Generalprobe vom 30. Januar 1933, als zweites Datum einer gezielten Selbstdarstellung den 21. März 1933, den "Tag von Potsdam", ins Auge gefaßt, der

Zitat

bis ins letzte als ein Tag der Aussöhnung zwischen bürgerlichem und konservativem Nationalismus und Nationalsozialismus inszeniert wurde.

Autor

Über die Art der "Inszenierung" geben Tondokumente von rund 70minütiger Dauer akustische Auskunft. Aber noch die am Vorabend des "Tages von Potsdam" plazierte Hörspiel-Bearbeitung der "Funkdichtung" Kasacks war Teil dieser Inszenierung. In günstiger Sendezeit, 19.45 bis 21.00 Uhr, von der Funkstunde Berlin ausgestrahlt und von anderen Sendern übernommen, suggerierte sie einer großen Hörerschaft in ebenso unverfänglicher wie raffinierter Weise die "Aussöhnung" des liberal-konservativen Schriftstellers, des bürgerlichen Intellektuellen mit dem nationalsozialistischen Programm. Eine Äußerlichkeit ist hier bereits aufschlußreich. War die ursprüngliche "Funkdichtung" im Dezember 1932 noch unter dem Pseudonym Hermann Wilhelm gesendet worden (auch das Manuskript nennt den Verfasser pseudonym), mußte die Bearbeitung Ottoheinz Jahns, wollte sie den beabsichtigten Eindruck erzielen, das Pseudonym lüften. Und sie tat es, sowohl beim Manuskript der Bearbeitung wie bei der Ankündigung in den Programmzeitschriften, die als Verfasser ausdrücklich Hermann Kasack nennen.

Daß dies ebenso wie Bearbeitung und Sendung gegen den Willen des Autors geschah, wußte der Hörer ja nicht. Auch, daß der Regisseur der Erstaufführung, Edlef Koeppen, durch Günther Hadank, daß unter anderen Ernst Busch als Sprecher abgelöst wurden, hat er nach vierteljährlichem Abstand wohl kaum bemerkt, wie ihm schließlich auch Ausmaß und Gewicht der Eingriffe Ottoheinz Jahns verborgen geblieben sein dürften.

Wie schon angedeutet, bot sich dem Bearbeiter die in der ersten Inszenierung eingefügte Sequenz besonders an. Nur war sie ihm noch nicht deutlich genug. Deshalb ersetzte Jahn den namenlosen Arbeiter durch einen Bauern. Und anders als in der Erstsendung, in der der arbeitslose Martin Keller dem Arbeiter den Wert gemeinsamer Arbeit erklärt, erläutert jetzt der Bauer dem arbeitslosen Martin Keller den ideologischen Wert des Wachstums und der Arbeit nach dem Biologismusprinzip. Entsprechend schlägt auch nicht mehr Martin Kellers innere Stimme in den alle versammelnden Ruf um, ist nicht Martin Keller der Rufer; sondern der Bauer und Martin Keller reihen sich ein in die Gefolgschaft eines Rufers, der seine Getreuen schon seit längerer Zeit hinter sich schart,

Zitat

... von den Sieben an, die entschlossen waren, das Vaterland wiederzugewinnen... als das Land des beständigen, erfüllten Lebens... alle, alle, die nicht mehr ihren Ursprung verleugnen wollten, ihre Rasse, ihren Gottglauben, ihre Heimat!... und die arbeiten wollen und nicht feiern... die nicht Entlohnung suchen und Berechnung, sondern Erfüllung, die Aufgaben des Lebens..., alle Millionen, die sich zusammenfanden, gegen die Ratten der Volksvergiftung... und alle, die das gleiche wollen, ersehnen.... Aber der Eine hat sich zu unserem Verkünder aufgeworfen, der eine führt uns, der eine hilft dem allgemeinen Wollen in einer neuen Idee zum Sieg!

Autor

Diese Konkretisierung ist der zentrale Eingriff der Bearbeitung. Nicht mehr Stimme des Gewissens, alter ego Martin Kellers, für die das Manuskript eine "weibliche Altstimme" vorschrieb, die Koeppen mit Else Theel entsprechend besetzt hatte, ist in der Bearbeitung Jahns der Rufer jetzt die Gegenstimme, die - im Stile der Zeit - um Martin Keller "ringt". Schon in den ersten Rufer-Sequenzen deutet sich an, wer hier eigentlich spricht und zeigt, wo es lang geht. Bei den Lockstimmen, die Jahn, nationalsozialistischer Sicht entsprechend, umarbeitet, bleibt die Stimme des Nationalsozialismus ausgespart.

Erst nachdem die Parteienlandschaft der "Systemzeit" hinreichend karikiert ist, meldet sich der Rufer zu Wort mit einem nun "klar und bestimmt" dagegengesetzten Programm:

Zitat

Wer diese Welt heilen will, die innerlich krank und faul ist, der muß die Fähigkeit aufbringen, die Ursachen des Leides klarzulegen. Die heutige Zeit hat sich selber abgebaut. Aber über alle Spießbürgerei hinweg nur aus unserem Volkstum heraus, so allein sammeln und ordnen sich jetzt die Kräfte, die als Vorkämpfer einer neuen Weltanschauung befähigt sind.

Autor

Der Rufer, der sich im Verlauf des Spiels Martin Keller als "dein Gewissen" und "deine Aufgabe" vorstellt, spricht immer weniger verhüllt:

Zitat

Und die Bewegung ist keine Organisation der Zufriedenen, der Satten... sie faßt die Leidgequälten und Friedlosen zusammen... die Unglücklichen und Unzufriedenen... und sie wächst, sie verwurzelt im deutschen Volk.

Autor

Jetzt ist deutlich, wozu Hermann Kasacks "Funkdichtung" herhalten soll: zum außerparteilichen und damit unverdächtigen Nachweis der Propagandathese, daß eine Lösung der Weimarer Mißstände, z. B. der Arbeitslosenfrage, nur durch den Nationalsozialismus möglich ist, und daß der Erlöser Hitler heißt. Hermann Kasacks Arbeitsloser, als Beispielfall gedacht, wird in der Bearbeitung zum Stellvertreter von Millionen, deren "Unzufriedenheit", "Widerwillen", "Zorn", "Empörung", "Verzagtheit", "Hoffnungslosigkeit" in Hitlers "Mein Kampf" als Ausdruck des Wunsches "nach einer grundsätzlichen Änderung" interpretiert werden. Diese Millionen waren zugleich die Adressaten "der jungen Bewegung, die nicht eine Organisation der Zufriedenen, Satten" sein wollte und sollte,

Zitat

sondern die Leidgequälten, Friedlosen, die Unglücklichen und Unzufriedenen zusammenfassen, und sie soll vor allem nicht auf der Oberfläche des Volkskörpers schwimmen, sondern im Grunde desselben wurzeln.

Autor

Zahlreiche Entlehnungen aus Hitlers "Mein Kampf" sprengen die Grenzen der Fiktion, die vollends überflüssig wird, nachdem sich der Arbeitslose Martin Keller erst einmal eingereiht hat in die unabsehbaren "Glieder unserer Kolonnen", die - ausgerichtet "wie die Furchen des Ackers - durch Deutschland" marschieren, nachdem er erst einmal eingestimmt ist in und eingeschworen auf den "Ruf des Einen".

So ist es nur konsequent, wenn die fiktive "Funkdichtung" in die Realistik eines nationalsozialistischen Aufmarsches, einer nationalsozialistischen Kundgebung einmündet.

Zitat

Nach den Maschinen die Marschtritte ganz laut
Danach: Menschenmenge
Danach: Horst Wessel-Lied
Danach: Hitler-Rede
Während die Menschenmassen langsam abklingen, spricht Lothar Müthel (nahe am Mikrofon)
"Unser täglich Arbeit gib uns heute

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Man hat gedeutet, die Bitte um tägliche Arbeit sei - da nach der Hitler-Rede plaziert - "unmißverständlich an Hitler persönlich gerichtet". Dennoch sind hier Zweifel angebracht, da ein solcher Schluß einer rhetorischen Gepflogenheit zahlreicher Hitler-Reden dieser Zeit entspricht. "Herr! Nun segne unseren Kampf um unsere Freiheit und damit unser deutsches Volk und Vaterland", heißt es beispielsweise in der Rede zum 1. Mai 1933. Und in einer Rede vom 4. März: Das deutsche Volk könne "mit Recht sagen: Wir alle sind stolz, daß wir durch Gottes gnädige Hilfe wieder zu wahrhaften Deutschen geworden sind". Erbat der neue Reichskanzler am 1. Februar im Aufruf der Reichsregierung an das deutsche Volk noch bescheiden: "Möge der allmächtige Gott unsere Arbeit in seine Gnade nehmen, unseren Willen recht gestalten, unsere Einsicht segnen und uns mit dem Vertrauen unseres Volkes beglücken", so verkündete er auf der ersten Kundgebung der NSDAP nach der Machtübernahme, im Berliner Sportpalast am 10. Februar die Heilsbotschaft: "Es wird kommen das Reich der Herrlichkeit - Amen."

Angesichts dieser Belege scheint fraglich, ob die das Hörspielmanuskript der Bearbeitung abschließende Bitte um tägliche Arbeit wirklich "an Hitler persönlich gerichtet" war Als rhetorische Pflichtübung paßt sie sich vielmehr dem 'guten Ton' damaliger nationalsozialistischer Verlautbarungen an, auch den bei Sendung am 20. März konkret eingespielten Hitlerworten, die gleichfalls dem Aufruf vom 1. Februar entnommen waren:

Einspielung

Das Vertrauen aber in uns allen ist unbegrenzt, denn wir glauben an unser Volk und an seine unvergänglichen Werte. Bauern, Arbeiter und Bürger, sie müssen gemeinsam die Bausteine liefern zum neuen Reich. Nicht einen Stand sehen wir, sondern das deutsche Volk, die Millionen, die entweder gemeinsam die Sorgen dieser Zeit überwinden werden oder ihnen sonst gemeinsam unterliegen. Herr Gott, laß uns niemals wankend werden, laß uns niemals die Pflicht vergessen, die wir übernommen haben. Es kann nicht sein, daß unser Volk vergeht.

Autor

Es ist überhaupt zweifelhaft, ob bei der Sendung am 20. März die das ursprüngliche Hörspiel Hermann Kasacks sowie seine verfälschende Bearbeitung durch Ottoheinz Jahn abschließende Bitte um tägliche Arbeit überhaupt gesprochen wurde. Denn einer der beiden im Manuskript erhaltenen Schlüsse der Bearbeitung sieht diese Bitte gar nicht mehr vor. Er läßt, worauf ja eigentlich die ganze Bearbeitung hin angelegt ist, Hitler das letzte Wort und notiert darnach lediglich noch: "Ende."

WDR III, 16.3.1972; erweitert NDR III, 1.9.1979 (= Aus der Hörspielwerkstatt); u.d.T. Umfunktionierung eines Hörspiels WDR III, 1.2.1983