Zu Rolf H. Krauss: "Photographie und Literatur. Photographische Techniken in der deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts".
[Druck u.d.T. Photographie und Literatur. Zur photographischen Wahrnehmung in der deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Stuttgart: Hatje, Cantz 2000]In seiner häufiger bemühten "Theorie der Avantgarde" stellte Peter Bürger 1974 fest, daß "mit dem Aufkommen der Fotografie und der damit gegebenen Möglichkeit der exakten Wiedergabe von Wirklichkeit auf mechanischem Wege [...] die Abbildfunktion in der bildenden Kunst" verkümmert sei, daß jedoch "die Grenzen dieses Erklärungsmodells [...] deutlich" würden, "wenn man sich" vergegenwärtige, "daß es sich nicht auf die Literatur übertragen" ließe, da es "im Bereich der Literatur keine technische Neuerung" gebe, die "eine vergleichbare Wirkung hervorgebracht" habe wie "die Fotografie in der bildenden Kunst". 1984 bekräftigt Franz Josef Albersmeier Bürgers Auffassung und befürchtet, "daß die Hypothese vom 'Einfluß" der Photographie auf die literarische Produktion weitgehend eine Fata morgana" bleibe ("'Enfin Daguerre vint ...', die Herausforderung der Photographie an die französische Literatur des 19. Jahrhunderts", 1984).
Für die bildende Kunst sehe, führt Rolf H. Krauss in seiner Arbeit aus, das inzwischen "weithin akzeptierte Szenario" der Einflußnahme der Photographie etwa wie folgt aus: "Zunächst laufen die Ambitionen von Malerei und Photographie parallel. Die Malerei bemüht sich auf weite Strecken, es der Konkurrenz gleichzutun, indem sie Wirklichkeit so genau als möglich abbildet." Etwa mit Beginn des Impressionismus versuche die Malerei sich von der Photographie abzusetzen. "Diese Entwicklung" finde "ihren Höhepunkt im Entstehen der von Bürger sogenannten historischen Avantgarden in den beiden ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich von allem distanzieren, was bisher den Kanon der bildenden Kunst ausgemacht" habe.
Ließe sich, fragt Krauss, für die Literatur nicht doch ein vergleichbares Szenario erstellen: die Entwicklung "von der eher subjektiv und bekennerhaft orientierten Literatur des Biedermeier und des Vormärz [...]" unter Einfluß der Photographie zu einer "mehr objektivierende[n] und beschreibende[n] Literatur des bürgerlichen Realismus und des Naturalismus [...]?" Habe hier die "objektive, detailreiche, unbestechliche Wiedergabe von Wirklichkeit durch die Photographie nicht doch ihre Spuren hinterlassen?" Wobei sich "spätestens mit [...] Aufkommen des Expressionismus [...] die Literatur dann dem Einfluß der Photographie wieder" entzogen und "zu einer neuen, eigenständigen Sprache" gefunden habe. Nicht nur die bildende Kunst sondern auch die Literatur, lautet also die These, sei durch die Photographie verändert worden. Es bedürfe entgegen Bürgers Annahme keiner zweiten "technischen Neuerung", um vergleichbare Wirkungen hervorzubringen. "Die Wirkungsmacht [der Photographie]" erstrecke sich "auf Bild und Sprache gleichermaßen".
In der Forschung stellte sich die Frage nach dem Verhältnis von "Literatur und Photographie", von frühen Ansätzen bei Walter Benjamin [vgl. dazu Krauss' inzwischen gedruckte Magisterarbeit "Über den Begriff der Photographie bei Walter Benjamin [...]"], Gisèle Freund, Siegfried Kracauer abgesehen, erst in den 80er Jahren: Mit der Dissertation Heinz Buddemeiers ("Panorama, Diorama, Photographie", 1980), zwei Schwerpunktheften der "Zeitschrift für Frankreichforschung und Französischstudium", "Ledemains" (1981 und 1984), einem Aufsatz Edwin Koppens ("Die Dichter und das erste optische Medium: Beobachtungen zum Thema 'Literatur und Photographie'", 1982) sowie seinem Buch "Literatur und Photographie, über Geschichte und Thematik einer Medienentdeckung" (1987) referiert die den Forschungsbericht ersetzende "Einleitung" (S. 1-21) bereits die wichtigsten Werke zum Thema. Spätere Arbeiten (Martina Wagner-Egelhaafs Essay über "'Wirklichkeitserinnerungen'. Photographie und Text bei Robert Musil", 1991) oder Jürgen Zetzsches Dissertation "Die Erfindung photographischer Bilder im zeitgenössischen Erzählen", 1994) sind in der Tat eher Detailuntersuchungen, ein Ausweichen "auf Einzelprobleme", deren oft "interessant[e] und für die behandelten Texte aufschlußreich[e] [...] Behandlung" zur grundsätzlichen Frage kaum etwas beitragen. Es gebe, faßt Krauss seine kritische Musterung der vorliegenden Literatur zusammen, "zwar verdienstvolle Einzelstudien, dem Gesamtkomplex Photographie und Literatur" stehe die Literaturwissenschaft bisher jedoch offensichtlich reichlich hilflos gegenüber" , auch und insbesondere an methodischen Ansätzen.
Bei der gegen Bürger gestellten Frage, "ob die Photographie die Literatur verändert" habe, "und wenn ja, welcher Art die Einflüsse der Photographie sind und wie die Veränderungen in der Literatur aussehen", können sich, wie die "Einleitung" zeigt, "alle Autoren außer Koppen", dessen Forschungsansatz denn auch am weitesten führe, offensichtlich "nicht von der Vorstellung lösen, daß photographische Einflüsse nur dann feststellbar" seien, "wenn Photographisches expressis verbis in den zu untersuchenden Texten vorhanden ist". Was für die deutschsprachige Literatur, wie das abschließende 6. Kapitel der Arbeit ("Photographie und deutschsprachige Literatur im neunzehnten Jahrhundert", S. 181 ff) belegt, ein so mageres Ergebnis zeitigen würde, daß sich die Frage fast von selbst erledigt.
Auch wenn Koppen "Angst vor dem eigenen Mut" bekommt, ist - so Krauss - der in seinem Aufsatz formulierte Forschungsansatz von grundsätzlichem Interesse, weil er drei "Perspektiven" einer "interdisziplinären Zusammenschau" von Literatur und Photographie" aufstelle..
1. gehe es um die Dokumentation der "Reaktion auf [eine] unerhörte technische Erfindung", ein "säkulares Ereignis", eine "Zäsur", die "wie alle historischen Begebenheiten von einiger Bedeutung, ihre Spuren in der Literatur [...] hinterlassen habe, Spuren, die es "zu finden und zu verfolgen" gelte. Eine Arbeit, die Buddemeier inzwischen in seiner Sammlung einschlägiger Äußerungen von Schriftstellern und Künstlern, ihrer Analyse und Kommentierung weitgehend geleistet hat.
2. sei die "literarische Vereinnahmung und Funktionalisierung der Photographie als Bestandteil der Alltagswirklichkeit" zu untersuchen. "Später gehörte die Photographie dann zur Realität des Alltags und ging als Zubehör und Attribut dieser Realität notwendigerweise als Thema oder Motiv in die Literatur ein". Diese "positivistische Kärnerarbeit" hat Koppen in "Literatur und Photographie" selbst geleistet, indem er in der internationalen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts eine Vielzahl von Texten aufspürte, "in denen Photographie, Photographen und Photographieren eine wie immer geartete Rolle spielen". (Inzwischen ergänzt von Jane M. Rapps "Literature and photography, interactions 1840-1990", 1995). Erst nach diesen Vorleistungen könne man sich
3. "den eigentlich interessanten Fragen zuwenden". "Die Literatur" sei "zwar keine bildende Kunst; gleichwohl" gehöre "zu ihrem Geschäft, Abbilder der Wirklichkeit zu geben. So wurde zwar, im Gegensatz zur Malerei, ihre materielle Existenz durch die Erfindung der Photographie nicht tangiert, sie konnte aber nicht unberührt von einer Technik bleiben, die verhieß, die äußere Welt in höchster Naturtreue abzubilden". So stoße "in den großen Werken des französischen, deutschen oder englischen Realismus der Leser immer wieder auf Beschreibungen [...], die so etwas wie eine spezifisch photographische Wahrnehmungs- und Sehweise verraten". Hier habe Koppen zwar, sagt Krauss, mit der Analyse einer Textpassage aus Flauberts "Madame Bovary" und Fontanes "Effie Briest" einen ersten Vorstoß gemacht, seinen "bemerkenswerten Ergebnisse [...] aber mißtraut und" seinen Vorstoß deshalb "nicht weiter ausgebaut" (S. 7).
Krauss' Arbeit versucht jetzt zu leisten, was für Koppen noch Aufgabenstellung war und Ansatz blieb. Er geht dabei pragmatisch am Text/an Texten vor: ausgehend vom Jahr 1839, in dem die Daguerresche Erfindung der Photographie vom französischen Staat angekauft und allen Interessierten zur Verfügung gestellt wurde. Spuren konnten sich also erst danach in Texten auffinden lassen. Ende des Untersuchungszeitraums ist mit dem Auftreten des Films, Ende des 19. Jahrhunderts, gegeben, über den und dessen Verhältnis zur Literatur es genügend Untersuchungen gibt.
Als ersten Großtext untersucht Krauss Karl Gutzkows "Roman des Nebeneinander" aus dem Jahre 1850 ("Photographische Bilder in Karl Gutzkows 'Die Ritter vom Geiste'", S. 21 ff), wobei ein biographisches Detail, daß Gutzkow nämlich bis zu dessen Tod mit dem Fotografen Hermann Biow befreundet war (S. 40 f.), mehr als nur einen Hinweis wert gewesen wäre. Obwohl Gutzkow sich im Kontext seines Romans zweimal eher kritisch zur "Lichtbildnerei" äussert (Nachweise S. 23), vermochte er sich dem Einfluß der Photographie nicht zu entziehen. Sein Roman ist durch "Bilder" strukturiert, in denen und zwischen denen Handlungen ablaufen, "Bilder", die, wie ihre genauere Analyse zeigt, so vor Erfindung der Photographie "zwar möglich, aber unwahrscheinlich gewesen wären", indem "die Gesetzmäßigkeiten der photographischen Bildherstellung bei den Bildbeschreibungen des Romans und bei dessen besonderer Art der Bildvorstellung durchschlagen" (S. 23). So daß ihre Charakterisierung als "photographische Bilder", Hebbels Charakterisierung des Romans als "historisches Daguerreotyp" durchaus gerechtfertigt sind und es schließlich keine Spitzfindigkeit des Verf. ist, Beziehungen zu vermuten zwischen einem beim Wort genommenen Photographieren (= "mit Licht schreiben") und einem Sprachgebrauch Gutzkows, der von der "Widerspiegelung", der "Reflexion aller Lichtstrahlen des Lebens", von "widerstrahlter Beleuchtung" oder seiner Absicht spricht, die "zerstreuten Lichtstrahlen des Lebens in einen Brennpunkt zu sammeln".
Beim folgenden Versuch, den Ansatz auf eine Art theoretischer Grundlage zu stellen, um die ersten Ergebnisse mit weiteren Funden vergleichbar zu machen, wird zweierlei vorgegeben: 1. Photographie ist ein Glied in einer aufeinander folgenden, sich mit anderen Gliedern überschneidenden Kette von Wahrnehmungstechniken. 2. Es bedarf Kriterien, mit deren Hilfe "photographische Bilder" (wie die bei Gutzkow gefundenen) erkannt und definiert werden können.
Entsprechend entfaltet das 2. Kapitel ("Der Blick aus dem Fenster", S. 42 ff.), vor dem Hintergrund der Entwicklung von Camera obscura, Guckkasten, Panorama, Diorama, Photographie und schließlich Filmkamera, wie der Blick sich vom ausgehenden 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zum "photographischen Blick" verändert. Als Klammer dient "der Blick aus dem Fenster", wobei Jonathan Crarys "Techniken des Betrachters, Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert", eine Studie der Geschichte des Verhältnisses von Technologien und Wahrnehmung, hilfreich zugezogen wurde.
Gegenstände des 2. Kapitels sind Karl Friedrich Kretschmanns "Scarron am Fenster" (parallel zur technologischen Entwicklung von der Camera obscura zum Guckkasten), "Des Vetters Eckfenster" von E.T.A. Hoffmann (in Parallele zum Klein- bzw. Zimmerpanorama) und Wilhelm Raabes "Chronik der Sperlingsgasse", in der statt der traditionellen Sehhilfen Brille, Fernglas oder Operngucker "eines jener kleinen Bläschen, die sich oft in den Glasscheiben finden" den Erzähler begreifen läßt, "daß des Universum sich in einem Punkt konzentrieren könne", wobei die genauere Analyse, die leider den Bezug auf Hans Christian Andersens für Raabe anregendes "Billedbog udden Billeder" übersieht, das "kleine Bläschen im (nicht "aus", wie der Verf. schreibt) Glas" als Metapher für die lichtsammelnde Linse der Kamera (S. 68) versteht, die "Chronik" als "Photoalbum" liest, in dem Traum- und reale Bilder gemischt nach dem Datum ihrer Aufnahme eingeklebt werden" (S. 70). Daß der Verf. einen hier naheliegenden Vergleich mit Gutzkows erklärter Absicht, die "zerstreuten Lichtstrahlen des Lebens in einen Brennpunkt zu sammeln", nicht vornimmt, naheliegend schon wegen der zeitliche Nähe der Erscheinungs- bzw. Entstehungsdaten der Romane (1850 f./1854f.), ist bedauerlich.
Die Analysen der für das Kapitel der "Blick aus dem Fenster" exemplarisch ausgewählten Texte bestätigt, daß verändertes Sehen sich in jeweils anderen Bildern im Text niederschlägt: als Guckkasten-, als panoramatisches und schließlich als "photographisches Bild". Zu letzterem nun Beschreibungskriterien aufstellen soll das dritte Kapitel: "Kriterien für das photographische Bild und ihre Anwendung auf Fontanes 'Effie Briest'" (S. 71 ff.). Ausgehend von den "bemerkenswerten Ergebnissen", bei denen Koppen allerdings über den Ansatz nicht hinausgelangt sei, übernimmt Krauss (wie bereits Koppen) Kategorien Buddemeiers für die Unterscheidung "zwischen der direkten Beobachtung der Natur und dem Betrachten einer Fotografie der Natur" (Buddemeier: "Das Foto, Geschichte und Theorie der Fotografie als Grundlage eines neuen Urteils", 1981). Aber anders als Koppen, der sich von der Bemerkung J.A.Schmolls gen. Eisenwerth einschüchtern ließ, "die Buddemeierschen Kategorien" - Ausschnitt, Schärfenbereich, Verkleinerung, Immobilisierung, Beschränkung auf das Sehen, privilegierter Beobachterstandpunkt - seien "insofern [...] untauglich" [...], als sie sowohl für die Photographie wie auch für das gemalte Bild zuträfen", macht Krauss in seinem Exkurs zu "Buddemeiers Kriterien photographischen Sehens" (S. 72 ff.) klar, daß sich Schmolls Behauptung nur bedingt aufrecht erhalten lasse, undzwar für die Kriterien "privilegierter Beobachterstandpunkt" und, bereits mit Abstrichen, für "Beschränkung auf das Sehen"). Was die anderen Kriterien beträfe, so seien sie, "obwohl sie [...] ihre Rolle ([auch] in der Malerei spielen, so spezifisch photographisch, daß es sich sehr wohl" lohne, "mit ihrer Hilfe photographische Einflüsse auf die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts zu untersuchen". Allerdings müßten sie, da noch nicht ausreichend, um die Kategorien der "Genauigkeit", der "Perspektive" und der "Herstellung und Vervielfältigung" erweitert werden. Die Anwendung, die Krauss dann auf denselben Textausschnitt aus Fontanes "Effie Briest", den auch Koppen gewählt hatte, praktiziert (S. 90 ff.), bestätigt seine These überzeugend. Der Hinweis/Ausblick (auch schon an anderer Stelle oder ausführlich im 5. Kapitel, S. 172 ff. : "Innenraum - in dramatischen und epischen Texten") auf Bühnenbild wäre einer gesonderten Untersuchung wert.
Gleichsam in Fortsetzung des 2. Kapitels untersucht das 4. Kapitel "Panoramatische und photographische Techniken von Gottfried Keller, Theodor Storm und Adalbert Stifter"(S. 101 ff.), wobei sich die verschiedenen Techniken des Längenpanoramas, der Momentaufnahme, eine Bilder-in-Bildern-in-Bildern-Technik und Bilderketten leicht unterscheiden und gruppieren lassen. Die Einzelanalysen (Kellers "Der grüne Heinrich", 1. Fssg., ferner "Die mißbrauchten Liebesbriefe" und "Romeo und Julia auf dem Dorfe", Theodor Storms "Immensee", Stifters "Der Hagestolz") zeigen, daß häufig vorphotographische (z. B. panoramatische) und photographische Techniken nebeneinander stehen und, bei fließenden Übergängen, oft gekoppelt sind: so "Längenpanorama und Bilderkette in Stifters 'Der Hagestolz'" (S. 131 ff.), "Panorama und Photographie im 'Grünen Heinrich'" (S. 103 ff.). Im Falle des "Grünen Heinrich" spricht Krauss gar von einer "vierfachen Koppelung" (S. 111). Die gegenüberstellende, vergleichende Lektüre der Texte stellt dabei immer nachdrücklicher die Frage nach den Unterschieden der einzelnen Techniken. Texte, in denen vorphotographische und photographische Einflüsse überhaupt wirksam werden können, sind dabei nicht handlungsdominierte, dialogische oder reflektierende, sondern beschreibende Texte, die, wie die Photographie und Malerei Bilder "erzeugt", "notwendigerweise Bilder" entwerfen" (S. 142), was den Autoren selbst auch bewußt gewesen sei, wenn sie "in ihren Beschreibungen Begriffe aus der Malerei, wie porträtieren, skizzieren, entwerfen, und später dann solche aus der Photographie, wie daguerreotypieren, photographieren, aufnehmen, festhalten usw, benutzen" (142 f.).
Daß sich der Einfluß der Photographie aber auch indirekt an Personenbeschreibungen ("Portrait"), Beschreibungen von Bauwerken ("Architektur"), Naturbeschreibungen ("Landschaft") und Interieurs ("Innenraum") ablesen läßt, führt Krauss im 5. Kapitel ("Techniken der Beschreibung: Porträt, Architektur, Landschaft und Innenraum", S. 140 ff.) aus, wiederum mit Hilfe der Analyse von exemplarischen Beispielen, wenn er z. B. "Porträts" aus "Henrich Stillings Wanderschaft", der Mignon aus "Wilhelm Meisters Lehrjahren" des Verwalters aus E.T.A. Hoffmanns "Das öde Haus" mit literarischen Porträts nach Aufkommen der Photographie vergleicht, der "Frau in einem schwarzem Gewande" in Stifter "Der Waldbrunnen" , wenn er in Kellers "Der Landvogt von Greifensee"die "Unterschiede zwischen alter und neuer Technik der Beschreibung" herausarbeitet (S. 150 f.) oder schließlich an einem Beispiel aus Stifters "Nachsommer" belegt, daß das, "was hier vorgestellt" werde, "ein photographisches Porträt" sei, "wie es zu tausenden in den Photographenateliers hergestellt wurde" (S. 153). Nicht anders verfährt Krauss im Abschnitt "Architektur" (S. 155 ff.) beim Vergleich von vorphotographischen Architekturbeschreibungen Goethes, Heinses, Brentanos mit einer Beschreibung Strobls ("Das Münster in Straßburg, geschichtlich und nach seinen Theilen geschildert", oder im Abschnitt "Landschaft" (S. 163 ff.), wo Landschaftsbeschreibungen aus Goethes "Leiden des jungen Werther" (Brief vom 10. Mai 1771) und Jean Pauls "Hesperus" mit einer Landschaftsbeschreibung Stifters (aus "Bunte Steine") verglichen werden, mit dem Ergebnis: "die Photographie hat der Landschaft, wie dem Porträt und der Architektur, jeglichen Überbau genommen. Geblieben sind Bilder, die möglichst genau beschrieben werden" (S. 171).
Das 6. Kapitel schließlich, "Photographie und deutschsprachige Literatur im 19. Jahrhundert", das u.a. nach dem Verhältnis von Photographie und bürgerlichem Realismus fragt, hätte ich mir als Überblickskapitel eher am Anfang der Arbeit gewünscht. Andererseits verlangen die an Einzeltexten gewonnenen Ergebnisse der Arbeit einen abschließenden größeren Überblick und ihre Einordnung in "die verschiedensten Interaktionen zwischen Photographie und Literatur in dieser Zeit." Krauss ist das Problem der Plazierung dieses Kapitels durchaus bewußt, seine Entscheidung begründet (S. 182). Der letzte Abschnitt dieses Kapitels, "Photographie und bürgerlicher Realismus" (S. 206 ff.), widerlegt in Auseinandersetzung mit Gerhard Plumpes "Theorie des bürgerlichen Realismus" (1985) und vor allem "Der tote Blick, zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus" (1990) die These, in der literarischen Szene des bürgerlichen Realismus sei der Photographie nur "mit Schweigen und Gelächter" begegnet worden. Dies sei allenfalls nach Außen der Fall gewesen. Eine genauere Lektüre zeige dagegen, daß "weder Schweigen noch Gelächter [...] die subversive Kraft der Photographie" zu "bändigen" vermochten. "Über das Unterbewußtsein der Schreiber" sei sie vielmehr "in deren Texte eingeflossen und" habe "dort ihre Spuren hinterlassen" (S. 216) Wenn Krauss abschließend (S. 218 ff.) zusammenfaßt, daß und wie "die Photographie [...] die deutschsprachige Literatur des 19. Jahrhunderts verändert" habe, ist dies durch die vergleichenden Einzelanalysen seiner Arbeit wohl begründet. Allerdings scheint mir die Folgerung, daß die Photographie "eine der Wurzeln des bürgerlichen Realismus" sei, denn doch etwas kurzschlüssig. Hier wäre gegenzuhalten, daß die Photographie mit ihren Techniken für die literarische Entwicklung Modelle bereitgestellt und vorgeschlagen hat, die von vielen Autoren mehr oder weniger bewußt aufgenommen und sich anverwandelt wurden. Mit allerdings bemerkenswerten Konsequenzen.
Eine der Arbeit angehängte "Zeittafel der für die Analysen verwendeten Texte" bietet schließlich eine schnelle, hilfreiche Orientierung über den Untersuchungszeitraum und die Plazierung der untersuchten Texte. Die abschließende "Bibliographie" läßt kein wichtiges Werk zur Fragestellung der Arbeit aus.
Was der Verf. vorträgt, der Aufbau der Arbeit ist in sich schlüssig und geeignet, die Diskussion um die Bildersprache in der Literatur des bürgerlichen Realismus neu zu beleben. Die Vorgehensweise erscheint mir manchmal ein wenig umständlich, die Erklärung der einzelnen Vorgehensschritte, die sich der Verf. freilich methodisch erst hat erarbeiten müssen, ist dort z.B. entbehrlich; wo sie sich aus den Textuntersuchungen von selbst ergibt. Zu monieren sind vor allem Kleinigkeiten, wenige Spekulationen (zu Chodowiecki z.B. als konkretem und angenommenem Illustrator, S. 61), gelegentlich unscharfe Begrifflichkeit (Kategorien / Kriterien vor allem in Kap 3). Fußnoten, die gelegentlich weitere Aspekte aufzeigen, könnten oft leicht in den laufenden Text eingearbeitet werden. Das gilt insbesondere für einige über die Arbeit verstreute Hinweise, die zu bündeln es lohnen würde. Ich nenne als Beispiel die auffällige auch zeitliche Korrespondenz zwischen Friedrich Wilhelm Hackländers literarischen "Daguerreotypen, aufgenommen während einer Reise in den Jahren 1840 und 1841" (zit. Krauss, S. 195 ff., ebd. die Reiseroute), den Fotoalben Blanquart-Evrard's Anfang der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts (mit Aufnahmen aus Ägypten und dem Heiligen Land, die Krauss aber durch Autopsie nicht bekannt zu sein scheinen, S. 77) und, nicht bei Krauss, die in lithographischen Wiedergaben veröffentlichten Architektur- und Landschaftszeichnungen des schottischen Architekturmalers David Roberts, und hier insbesondere die seinerzeit vielbeachteten lithographischen Mappen/Bücher "The Holy Land" (1842, 1849) sowie "Egypt and Nubia" (1846/49). Denn die für Roberts gerühmte sorgfältige zeichnerische Durchführung aller Einzelheiten entspräche exakt dem von Krauss aufgestellten Kriterium der "Genauigkeit" für "photographische Bilder". Hier würde sich in jedem Fall ein Vergleich von Photographie, Malerei und Text als kleiner Exkurs lohnen.
Bedauerlich ist, daß der Verf. an keiner Stelle seiner Arbeit, über Hinweise hinaus, ausführlicher darauf eingeht, daß einige der untersuchten Autoren keine Berührungsängste mit der Photographie hatten (Gutzkow, der mit einem Photographen befreundet war, Raabe, der einen (Leichen)Photographen im "Lar" auftreten läßt), während andere Autoren vor der Photographie offensichtlich eher zurückschrecken (z. B. Mörike). Vor allem aber vermisse ich ein Eingehen auf die nun doch auffällige Tatsache, daß für die Untersuchung zentral wichtige Autoren (Keller, Stifter, Raabe) zu den seit Ende des 18. Jahrhunderts zunehmenden Doppelbegabungen zu rechnen sind, für die der Einfluß der Photographie eigentlich dreifach zu hinterfragen wäre: für den Autor, den bildenden Künstler und ein eventuelles Wechselspiel zwischen beiden. Zu diesem Komplex der Doppelbegabung wäre ein die Arbeit abschließender Ausblick/Exkurs dringend zu empfehlen. In ihm könnten auch Details erörtert werden, die in der Argumentation der Arbeit zu kurz kommen oder übersehen wurden. Z.B. daß die von Krauss zutreffend als "panoramatisch" bezeichnete Schilderung "des großen [Münchner] Schau- und Festumzugs für die kommende Faschingszeit" (S. 113) im "Grünen Heinrich", den Keller selbst nicht erlebt hat, ihre Vorlage hat in einer Radierung Neureuthers ("Gedenkblatt zur Erinnerung an den Künstlermaskenzug", 1840) und Rudolf N. Marggraffs Festbeschreibung aus dem gleichen Jahr. Oder, daß es zur Stadtbeschreibung im 1. Kapitel des "Grünen Heinrich" ("als ein hochformatiges Bild", S. 108) ein parallele Kohle-, Bleistift und Federzeichnung aus dem Jahre 1843, "Mittelalterliche Stadt", sowie einen vergleichsweise interessanten Tagebucheintrag vom 8. August gibt.
Reinhard Döhl