Reinhard Döhl | Radio sehen. Ein Exkurs
[Eröffnung der gleichnamigen Ausstellung im Kunstverein Siegen 21.3.1990]

Radio sehen | Mit dem Radio spielen

Radio sehen

Radio sehen scheint ein Paradox. Radio hört man allenfalls. Und so man es doch sehen will, genügt in der Regel ein Druck auf den Fernsehknopf, um sich die schwachsinnigen Farben akustischer Unterhaltungsprogramme auch noch vor Augen zu führen. Aber das will die heutige Ausstellung ja nicht. Sie will vielmehr an ausgewählten Beispielen, die sich fraglos ergänzen lassen, herausstellen, was passiert, wenn sich Künstler mit dem Radioapparat mehr, weniger mit dem Rundfunkprogramm auseinandersetzen. Sie ist also in der nicht umkehrbaren Sender-Empfänger-Ausrichtung medienkritisch bezogen vor allem auf den für den Empfang des Programms unerläßlichen Apparat betreibt ästhetische Destruktion und Transformation mit unterschiedlicher Tendenz. Und bleibt in ihren Ergebnissen dennoch irrelevant für Programm und Sender.

Zugleich visualisiert eine Ausstellung wie Radio Sehen nur einen Teilaspekt der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Medium, ist - in sich durchaus selbständig - immer auch auf andere Aspekte dieser künstlerischen Auseindersetzung beziehbar. Einer Auseinandersetzung, die ich Radio Spielen nennen möchte, was sowohl im Radio als auch mit dem Radio Spielen heißen soll. Im Radio zu spielen, das neue Medium als ein Instrument zu betrachten, mit dessen Hilfe sich zu den Bedingungen des Mediums unverwechselbar eigene Spielformen entwickeln lassen - das wurde bereits sehr früh versucht. Die Hörspielforschung kann heute zweifelsfrei nachweisen, daß das, was sich in den 80er Jahren als Radiokunst oder Audioart etablierte, 1985 in Köln eine Acustica International ausgerichtet bekam und 1987 auf der Documenta in den Kontext mit anderen Künsten gestellt wurde, daß eine solche Radiokunst im Konzept der Rundfunkpioniere von Anfang an eingerechnet war, undzwar in auffälliger Nähe zur Musik. Vom musikalischen Rundfunk-Eigenkunstwerk spricht zum Beispiel Hans Flesch 1928 auf der rundfunkgeschichtlich wichtigen Programsausschußsitzung in Wiesbaden und schränkt zugleich ein:

Wir können uns heute noch keinen Begriff machen, wie diese noch ungeborene Schöpfung aussehen kann. Vielleicht ist der Ausdruck 'Musik' dafür gar nicht richtig. Vielleicht wird einmal aus der Eigenart der elektrischen Schwingungen, aus ihrem Umwandlungsprozeß in akustische Wellen etwas Neues geschaffen, das wohl mit Tönen, aber nichts mit Musik zu tun hat, ebenso wie wir davon überzeugt sind, daß das Hörspiel weder Theaterstück, noch Epos, noch Lyrik sein wird.

Die in enger Verbindung mit der ORTF im Club d'Essai entwickelte musique concrete, die in enger Verbindung mit dem Westdeutschen Rundfunk entwickelte elektronische Musik haben Fleschs Vermutungen bestätigt. Die Beziehungen der Lettristen zum Club d'Essai, John Cage's Hörspiel "James Joyce, Marcel Duchamp, Erik Satie. Ein Alphabet" haben zugleich hörbar werden lassen und darauf verwiesen, daß außerhalb des Rundfunks stattfindende literarische, künstlerische und musikalische Tendenzen bei der Genese von Radiokunst vorbereitende und zuarbeitende Funktion hatten und haben Zugleich zeigen die Rundfunkprogramme, daß die den aktuellen Künsten adäquate Radiokunst nicht automatisch zum selbstverständlichen Programmbestandteil werden muß.

Im Gegenteil ist die Geschichte des Rundfunks auch eine Geschichte des Widerspruchs von Programmmöglichkeit und Programmvirklichkeit. Diese Programmwirklichkeit beliefert den Hörer einerseits statt mit James Joyce, Marcel Duchamp, Erik Satie mit dem "Frauenarzt von Bischofsbrück". Und sie versucht ihn andererseits permanent zu manipulieren. Der Hoffnung der Schriftsteller und Musiker, mit Hilfe des neuen Mediums noch den abgelegensten Flecken, den entferntesten einsamen Hörer erreichen zu können, folgte die politische Praxis mit dem Ergebnis, daß die Nationalsozialisten einer ganzen Nation den Volksempfänger verordneten, um noch den letzten Volksgenossen an ihren Selbstinszenierungen teilhaben zu lassen. Als Richard Kolb, bis heute in der Forschung unkritisch zitierter Hörspielastrologe, 1933 die Intendanz des Münchner Senders übernahm, sagte er u.a.

Wenn die nationale Bewegung in den letzten Wochen so rasch anwuchs und ungeheure Fortschritte machte, daß sich die Zahl der 17 Millionen wohl sicher schon mehr als verdoppelt hat, so hat der Rundfunk einen großen Teil Verdienst daran. Denn das Miterleben einer Rede des Führers wuchs über Tausende jeweils im Saal Anwesenden hinaus auf die ungezählte Masse der Hörer. Was sich in den letzten Wochen seit dem 30. Januar Großes ereignete, alles nahm den Weg über Mikrophon und Äther zu den Millionen Lautsprechern. So wurde der Rundfunk ein Bindeglied zwischen Regierung und Hörerschaft, zwischen den Führern und ihrer Gefolgschaft, ein Diener des Staates und zugleich des Volkes.

Als Beispiel dafür, wie sich das empfängerseitig dichtete, zitiere ich zwei Gedichtanfänge von Bruno Brendel bzw. Karl Lanig:

- Als seine Stimme durch den Äther schwang,
geschah's, daß unsre Herzen stille standen
und daß um uns die grauen Schatten schwanden
und daß ein Engel auf uns niedersprang.

- Des Führers Stimme geht durch unsre Stube,
wir sitzen lauschend neben dem Gerät,
und ist ein Schweigen über unsern Häuptern,
als ob die ganze Erde stille steht.

Beispiele, die sich vermehren und nicht allein auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränken lassen, wie ein Gedicht Rose Nylands aus dem Jahre 1958 belegt: Ich höre. Der Parteitag spricht.
Die Stimme Walter Ulbrichts ist im Raum.
Die Worte leben.
Hell im hellen Licht
seh ich den Menschen
der Vergangnes bricht
und seh ihn tausendfach
den Sozialismus baun
Ein Mensch
ein Mensch der lebt
und lacht und weint
Und ist doch mehr
weil er in seinem Wesen
die neuen, großen zehn Gebote eint.
Ob zehn Gebote oder niederspringender Engel, ob stillestehende Erde oder Schweigen über den Häuptern, das Radio wird zu einem Instrument religiöser Erweckungsbewegung, der Geist schwebt nicht mehr über den Wassern sondern im Äther, und ein kleiner Apparat gießt ihn aus über die zur Empfängnis Bereiten. Zu einem derartigen Einsatz des Radios als Instruments der Manipulation gehört auch das ununterbrochen sich abspulende Programm ohne Besinnungspause. Dauerberieselung also und Manipulationsversuch, gegen sie war von den kritischen Künstlern anzugehen. Was mich auch zur heutigen Ausstellung führt.

Mit dem Radio spielen.

Die "Volksempfänger"-Objekte bzw. -Assemblagen von Nancy und Edward Kienholz erschließen sich leicht vor dem skizzierten Hintergrund. Fern aller Nostalgie, rekapituliert die Präsentation der Fundstücke Geschichte als Mediengeschichte, nimmt das Medium in eine geschichtliche Mitverantwortung. Wenn die beiden Künstler mit ihrer Schreibweise des Titels "Volksempfängers", ihre kritische Präsentation als von Außen gesehen ausweisen, Edward Kienholz hatte bereits 1968 in "The Eleventh Hour Final", einem Fernseh-Tableaux, Kritik an der menschlichen Gleichgültigkeit gegenüber Gewalt und Krieg, an der Unfähigkeit, sich die zahlreichen gewaltsamen Todesfälle vorzustellen, von denen die Medien permanent berichten. This Weeks toll, liest man auf der Mattscheibe des Fernseher-Grabsteins des Tableaus, American dead 217 / American wounded 565 / Enemy dead 435 / Enemy wounded 1291. Und Kienholz fragt, What can one man's death, so remote and far away mean to most people in the familiar safety of their middle class homes? Daß Kienholz zunächst den Fernseher und erst Jahre danach medienkritisch den Rundfunk aufgreift, könnte seine Erklärung in der Fernsehdominanz in den Vereinigten Staaten finden, entspricht aber andererseits der Beobachtung, daß Radio-Objekte erst relativ spät in der Kunst begegnen, die schon sehr viel früher kritisch mit dem Fernsehen auseinandergesetzt hatte, wahrscheinlich auch, weil das Fernsehen ein visuelles Medium ist. Zunächst blieb jedenfalls das politisch mißbrauchte Radio akustisches Instrument, Im Hörspiel etwa als Aufforderung des Hörers zum Mitspiel. Zwei Beispiele sind hier besonders interessant, Konrad Wünsches Hörspiel "Sendung" und Gabor Altorjays "17 Hörspiele in Stereo". Während Wünsche dem Hörer die Ausweglosigkeit der Sender-Empfänger-Situation, der Einkanaligkeit des Massenkommunikationsmediums Rundfunk durch ein Bombardement von Höreradressen verdeutlicht, konfrontiert der ungarische, in Deutschland lebende Happening-Künstler Altorjay den Hörer mit einer Mixtur ihn täglich umgebender und belastender akustischer Signale und Reize, deren Präsentation nach folgendem Schema abläuft:

Die Lautstärke ist nach psychologischen Zeiten geregelt: Schema: Sendung schwach - Hörer verstärken das Empfangsgerät - Sender verstärkt sich enorm - Hörer müssen das Gerät leiser stellen - Sendung wird wieder schwächer - Hörer müssen verstärken usw.

Die Vermutung, der Hörer solle derart sein Radioempfangsgerät als Spielzeug entdecken und verwenden (Keckeis), greift sicherlich zu kurz. Vielmehr dürfte der Hintersinn dieses Hörspiel-Happenings darin bestehen, dem Hörer die ihn alltäglich umgebenden Geräusche, die er gar nicht mehr wahrnimmt, als Geräusche wieder bewußt werden zu lassen. Zum anderen: die Zwänge des diese akustischen Fertigteile übertragenden Apparates ansatzweise dadurch erfahrbar zu machen, daß der Hörer gezwungen istf ständig die Lautstärke zu regeln. Es sei denn, er entzieht sich diesen Zwängen, indem er das Gerät ausschaltet. Die Unfähigkeit, sich aus dem permanent laufenden Programm aus- und abzuschalten, führte bereits in den 50er Jahren zur Entdeckung der akustischen Leerstellen, der Pausen. Heinrich Bölls Satire "Doktor Murkes gesammeltes Schweigen" ist hier ebenso zu erwähnen wie die Einsicht des Regisseurs Fritz Schröder-Jahn, daß die interessanteste Sendung, die der Rundfunk zu bieten habe, die Pause sei. Zu gleicher Zeit entstehen Gomringers Ideogramm "schweigen" aber auch John Cage's "Silence". Zugleich ist Cage einer der ersten, die Tonband und Radio kompositorisch als Klangquellen in ihre Kompositionen einbeziehen. Ich zitiere aus "Water Music" von 1952:

Tune
Radio
Rapidly
To 75
Tune Radio
To 102 and
Then of.
Herausgeber der von mir benutzen Quelle, "John Cage - Auszüge aus seiner Musik", ist George Brecht, der um 1960 ein "Candle Piece for Radio" komponierte, was in die Fluxus & Happeningszene verweist, der ja auch Nam Jun Paik zuzurechnen ist, der gleichfalls von der Musik herkommt und mit seiner Apparatur, die sich aus verschiedenen Klangquellen zusammensetzt, den Betrachter zum Mitspielen auffordert, dem Hörer der Altorjayschen 17 Stereo-Stücke durchaus vergleichbar, wenn auch mit anderem Ergebnis.

In der Fluxus&Happening-Szene sind mutmaßlich auch die ersten Radio-Objekte im Sinne der heutigen Ausstellung aufzuspüren. Ich glaube mich jedenfalls an dergleichen zu erinnern, konnte aber meine Erinnerung trotz intensivsten Bemühens im Archiv Sohm nicht konkretisieren. Dennoch möchte ich - Irrtum vorbehalten - historisch festschreiben, daß bis Ende der 50er Jahre der künstlerische Umgang mit dem Radio Spiel im Radio war und mit ihm allenfalls soweit, als sich das Radio und sein Programm als Klangquelle verwenden ließen. In den 60er Jahren wird der Hörer dann - medienkritisch - zum Spiel mit dem Apparat, dessen Einkanaligkeit und Programmangebot ihm mitspielen, aufgefordert, beginnen die Künstler aber auch mit dem Apparat als einem Objekt zu spielen, was nicht ausschließt, daß sie ihn zugleich oder daneben als Klangquelle benutzen, wie zum Beispiel der Totalkünstler Timm Ulrichs, der 1989 24 Pausenzeichen von Rundfunkanstalten aus 15 Nationen zu einer akustischen Collage zusammenfügt und damit - das laufende Programm konterkarierend - die Geräusche, mit denen der Rundfunk noch die Pausen zwischen den Sendungen füllt, zum Programmangebot, die Leerstellen des Programms zum Programm macht.

Mindestens für einen Teil der hier ausgestellten Exponate wäre der parallele Besuch einer anderen Ausstellung empfehlenswert: ich meine die Schreckenskammern des Berliner Deutschen Rundfunkmuseums mit seiner fast kompletten Sammlung der Gartenzwerge von Geräten, die sich Radioapparat nennen, mit seiner Anhäufung des Designs jener Ware, mit dem die zuständige Industrie dem Geschmack ihrer Kunden in schönster Abstimmung mit dem Programm entgegenkam. Das Berliner Rundfunkmuseum war es auch, wo sich Nancy und Edward Kienholz für ihre "Volksempfängers" kundig machten. Hätte Kienholz seine Tableaux' nicht längst erfunden gehabt, die dortigen Rauminstallationen eines Wohnzimmers aus den 20er, eines Luftschutzkellers aus den 40er, eines Wohnzimmers aus den 50er Jahren hätten ihn geradezu auf seine Tableaux' bringen müssen. Aber nicht nur Kienholz' "Volksempfängers", auch Scott Fifes Radio-Objekte, Peter Sevriens "WW Kommunikationsapparat" und andere Exponate der heutigen Ausstellung erhellen vor diesem Berliner Hintergrund als ästhetische Attentate auf die Inneneinrichtung unseres Medienalltags (und seiner Geschichte).

Erst im Bezug auf ihre entsprechenden Vorlagen, die Scott Fife nicht etwa als Fundstück weiterverarbeitet, sondern als funktionslose Attrappen aus Wellpappe mit Hilfe von Leim, Pastell und Aquarellfarben nachbastelt - erst bezogen auf ihre meist noch funktionstüchtigen Vorlagen entwickeln seine Trompe l'oeil-Objekte ihren Hintersinn der Täuschung. Erst angesichts früher Detektorempfänger erschließt sich die private Idolisierung (Fetischisierung) des Radios in Peter Sevriens "WW Kommunikationsapparat".

Sind es bei diesen genannten und weiteren Exponaten (zum Beispiel bei Johannes Dimpflmeiers "Nervonius"oder "Tonradio") eher die Hüllen des Gerätes, dessen Innereien gelegentlich auch, wie bei Wolfgang Nieblichs "Introvertiert", eine gleichsam neue Hülle verordnet wird, zielen andere Exponate mehr auf das Innenleben des Radios, auf das Radio als technisches, auch technisch manipulierbares Objekt. Das ist zum Beispiel der Fall bei den esten Arbeiten dieser Ausstellung, bei Walter Giers an Schaltskizzen gemahnendes "Zensiertes Radio" von 1969 oder dem bereits legendären "Mr. Brabbel" von 1968.

Dieser seiner Hülle entkleidete, sein Innenleben darbietende "Mr. Brabbel" erinnert mit seinen Pfeif- und Brummgeräuschen ebenso wie der geräuschempfindliche, auf Geräusche reagierende "Nervonius" Dimpflmeiers noch einmal nachdrücklich daran, daß das Radio ein Gerät zur Umwandlung von Schallwellen ist, und daran, daß es letztendlich an seinem Besitzer liegt, zu entscheiden, ob und womit und aus welchem Gehäuse er sich beschallen lassen will.