Reinhard Döhl
VORWEG zu Abisag Tüllmann

Es gibt Fotos und Fotos. Man könnte, um von den Möglichkeiten zu sprechen, zwischen Reportagefotos, die anläßlich eines aktuellen Anlasses ihre Funktion haben, und zwischen Fotos unterscheiden, die außer sich selbst keine Funktion haben. man könnte - sieht man einmal von den Reportagefotos ab - unterscheiden zwischen Landschaftsfotos, Stadtfotos, Tierfotos, Familienfotos, Portraitfotos, Aktfotos undsoweiter, und man würde vom bevorzugten Sujet bzw. Objekt des Fotografen reden. Man könnte, um vom Fotografen zu reden, von Fotos in der Art von Moholy-Nagy, Man Ray, Chargesheimer, Lucien Clergue, Bill Brandt, Rolf Schröter, Abisag Tüllmann reden oder - da man gewöhnlich kunsthandwerkliche Produkte, die sich von anderen kunsthandwerklichen Produkten anderer Erzeuger unterscheiden, gerne mit dem Namen ihrer Erzeuger bezeichnet - man könnte auch von Moholy-Nagys, Man Rays, Chargesheimers, Clergues, Brandts, Schröters, Tüllmanns undsoweiter reden.

Sieht man von den Reportagefotos ab, sind diese letzten beiden 'Klassifizierungen' im Grunde nicht von einander zu trennen. Chargesheimers, das sind etwas Bilder aus dem Kohlenpott plus etwas ihnen Eigentümliches (sozusagen die Handschrift des Fotografen), was diese Bilder zu Chargesheimers macht. Clergues, das sind etwa Akttorsi plus Wasserwellen, genauer Meereswellen, die einen Akt umspülen, begrenzen, zum Torso machen und zugleich als Akt verfremden. Oder Brandts, daß sind Akte plus perspektivische Verzerrung, also Akt plus optischer Bluff, oder - um das Technische hierbei deutlicher zu machen - Akt plus eine technische Manipulation, die den Akt in das überführt, was man Brandts nennen könnte. Und schließlich Schröters "Wahrnehmungen einer Brücke" - eine Ausstellung, die Sie vielleicht vor zwei Jahren hier in Stuttgart gesehen haben - das ist eine Brücke, also etwas, das da ist, das man jederzeit wahrnehmen könnte, wenn man zufällig auch da ist, plus vor allem einer bewegungstechnischen Manipulation - kurz: Objekt plus Bewegung.

Man könnte nun allgemein sagen, daß Fotos etwas zeigen, das da ist, ein Objekt der Außenwelt, zu dem aber, indem es mit einer technischen Apparatur, genannt Kamera, eingefangen wird, oft etwas hinzutritt wie Bewegung, perspektivische Verzerrung oder ein anderes außenweltliches Objekt, das eigentlich nicht dahingehört aber dazugemacht wird. Und man könnte dann auch sagen, daß das, was dabei herauskommt, also das, was man nachher davon zu sehen kriegt: das Foto, so etwas wie eine Metapher, ein metaphorisches Ungefähr ist. Also etwas, über das man sprechen kann, das man interpretieren kann, dem man Bedeutungen unterschieben kann undsoweiter.

Aber: Wenn der Fotograf mit einer technischen Apparatur, genannt Kamera, auf etwas zielt, das da ist, tut er zunächst nichts weiter als Außenwelt abzubilden. D.h. das, was herauskommt, wenn man mit einem technischen Apparat, genannt Kamera, auf etwas gezielt hat, erscheint [auf dem Foto] als etwas, das man wiedererkennen kann, das wiederzuerkennen man in der Rgel keine Schwierigkeiten hat (: also etwas Hochredundantes). Darin scheinen aber die Fotografen ein Dilemma zu sehen, weshalb sie in der Regel versuchen, etwas dazu zu machen, über die technische Abbildung hinaus zu manipulieren, indem sie z.B. eine Komposition vorgeben, Akt plus Landschaft, und das eine mit dem anderen verfremden, oder indem sie beginne, etwas Vorgegebenes oder Bekanntes zu verfremden, z.B. den Akt optisch zu verbeulen, oder bei einer Brücke so zu tun, als nähme der Fotograf etwas anderes wahr als da ist, als sähe er etwas: anders als es da ist - als käme er sozusagen dahinter, als sehe er gleichsam das Wesen der Dinge. Was natürlich ins Auge gehen kann.

Man könnte daraus Folgerungen ziehen: etwa, daß Wirklichkeit und vorgegebenes Repertoire dem Fotografen nicht hinreichend scheinen; daß er darum an ihnen und mit ihnen herum macht; gewissermaßen um so etwas wie Bedeutung zu unterstellen, dazu zu mogeln; so, als sei er in der Lage, statt der Dinge gleich den Kern der Dinge zu zeigen.

In diesem Zusammenhang sehen wir nun die Fotos Abisag Tüllmanns weitgehend im Gegensatz: als pure Demonstration dessen, was da ist. Und so zeigen Abisag Tüllmanns Fotos natürlich nicht das Wesen der Großstadt, sind sie keine metaphorischen Ungefährs, sondern sie zeigen das Ding Großstadt im Ausschnitt. Das was da ist wird mit einem Minimum an technischer Manipulation aufgefangen und gezeigt. Etwas, das den Blick der Fotografin reizt - und nicht etwas, das unseren Blick reizen soll - wird mittels chemischer Einwirkung des Lichts auf lichtempfindlichen Stoff festgehalten, entwickelt, vergrößert.Und dieses etwas ist etwas, das man jederzeit selbst sehen könnte, wenn man den Blick dafür hätte, etwas, das da ist und nicht etwa hingemacht oder dazu gemacht wird und in Wirklichkeit nicht oder nicht so ist. Und dieses Etwas zeigen die Fotos von Abisag Tüllmann gewissermaßen stellvertretend, indem Abisag Tüllmann dieses etwas das da ist stellvertretend für andere sieht und im Bilde festhält; und indem dieses Etwas auf den Fotos stellvertretend für das da ist, was man jederzeit selber sehen könnte.

Man könnte ferner sagen, daß die Fotos Abisag Tüllmanns Elemente zeigen eines Ensembles, das Großstadt heißt. Und daß, wenn man sie alle zusammennähme, sie in etwa das Ding Großstadt in einem Querschnitt zeigen würden. Oder: daß auf jedem Foto Abisag Tüllmanns ein Sachverhalt gezeigt wird, der ein Sachverhalt innerhalb eines Verbandes von Sachverhalten namens Großstadt ist. Aber daß auf den Fotos nicht der Verband sondern jeweils nur ein Sachverhalt, und nur für sich allein genommen, gezeigt wird. Dann wären die Fotos von Abisag Tüllmann in etwa als je eine Kennzeichnung je eines Sachverhaltes zu bezeichnen: und der Sachverhalt kann so oder so sein. Da dieser Sachverhalt nicht erfunden oder manipuliert wird, hat Abisag Tüllmann das Fotografieren auf eine banale Tätigkeit reduziert: auf die banale Wiedergabe von banalen Sachverhalten, die nichts besagen außer sich selbst. Da Abisag Tüllmann dabei fotografiert, als fotografiere sie mit einer Box, sind auch die technischen Details wie Unschärfen, Grobkorn etc. nicht etwa Manipulation, sondern banale Zufälligkeit, die sich z.B. daraus ergibt, daß sie zumeist einen hochempfindlichen Film in der Kamera hat. Und weil ihre Fotos nicht prädeterminiert sind, weil Abisag Tüllmann nicht von vornherein auf etwas Bestimmtes aus ist und die dazu notwendigen Bedingungen abwartet oder, wenn sie nicht vorhanden sind, manipuliert, um dieses bestimmte Etwas zu erreichen, könnte man ihre Fotos schließlich auch verstehen als eine jeweils aus dem Zusammenhang herausgerissene, herausgeschnittene Einzelheit, die damit den Zusammenhang begrenzt, auf seine banalen Sachverhalte reduziert und zugleich entformelt.

Mit der Reduktion aber auf die Banalität, indem sowohl Subjet bzw. Objekt als auch Methode gleichsam banal erscheinen; und mit dem Herausreißen, Herausschneiden des Einzelnen aus dem Zusammenhang, und damit mit seiner Begrenzung und Entformelung, macht Abisag Tüllmann innnerhalb der Fotografie aber etwas, daß Kurt Schwitters innerhalb seiner Merztheorien für die Erzeugung von i-Kunstwerken gefordert hat.

Der Künstler erkennt, so sagt Kurt Schwitters, daß in der ihn umgebenden Welt der Erscheinungsformen irgendeine Einzelheit nur begrenzt, und aus ihrem Zusammenhang gerissen zu werden braucht, damit ein Kunstwerk entsteht, d.h. ein Rhythmus, der auch von anderen künstlerisch denkenden Menschen als Kunstwerk empfunden werden kann. Und Kurt Schwitters fährt an anderer Stelle fort: Wer denn nun denkt, daß es leicht wäre, ein i zu schaffen, der irrt sich. Es ist viel schwerer als ein Werk durch Wertung der Teile zu gestalten. Denn die Welt der Erscheinungen wehrt sich dagegen, Kunst zu sein, und selten findet man, wo man nur zugreifen braucht, um ein Kunstwerk zu erhalten.

Die Beziehung zu den Fotos Abisag Tüllmanns ist leicht zu erstellen. Zugleich sind diese beiden Zitate auch geeignet, den Ort zu skizzieren, den Abisag Tüllmann besetzt hält zwischen den Chargesheimers, Clergues, Brandts, Schröters undsoweiter. Was Sie hier sehen, sind also Tüllmanns. Und um abschließend noch einmal Kurt Schwitters zu zitieren: Der kritische Künstler ist stets konsequent, der Imitator extrem.

Ob oder inwiefern Fotos Kunst sind, habe ich für meinen Teil bis heute nicht herausfinden können: Gewiß aber sind die Fotografien der Abisag Tüllmann, ist die Fotografin Abisag Tüllmann in ihrer Art konsequent. Und wenn wir den Satz von Schwitters als richtig unterstellen, dann ist Abisag Tüllmann auch eine Künstlerin. Aber davon kann man sich schließlich in einer Ausstellung selbst überzeugen.

[Niedlichs Bücherdienst 3.7.1964]