Kundschafter aus dem Stuttgarter Poetenwinkel
Ein Vielseitiger, der sich nicht einordnen lassen wollte - Zum Tod des Medienwissenschaftlers, Autors und Künstlers Reinhard Döhl

von Irene Ferchl

"Als die Buchstaben verteilt wurden, fiel mir der Buchstabe D zu wie Dora Ökonom Heinrich Ludwig'', schrieb Reinhard Döhl zum Auftakt seiner "Ansichtssachen & Kleri-juhs aus der kleinen Stuttgarter Versschule'', um dann buchstäblich in alle Richtungen weiterzudichten, witzig, satirisch, dadaistisch, voller Anspielungen auf die Literaturgeschichte und auf der Straße Liegendes, "wie man so sagt''. Spielmaterial, Arbeitsmaterial war ihm alles Gedruckte. Es wurde zerschnitten und neu zusammengesetzt, raffiniert collagiert, übermalt, in Skizzenbüchern gesammelt oder als Mail-Art verschickt.

In den neunziger Jahren konnte man Reinhard Döhl in zahlreichen Ausstellungen begegnen - mit Fotoarbeiten, Postkarten zu Else Lasker-Schüler, Aquarellen - und bei den unterschiedlichsten Projekten. Mal präsentierte er experimentale Poesie aus Tschechien, mal eine internationale poetische Korrespondenz im Rahmen des Japan-Festivals, mal wurde ein Gertrude Stein Memorial errichtet, wobei Letzteres gewissermaßen eine neue Werkgruppe eröffnete: Döhls Internet-Aktivitäten.

Wer Reinhard Döhl folgen wollte, musste schnell sein, flexibel und rundum interessiert, denn er war immer schon wieder ganz woanders . . . Vertreter der konkreten Poesie mit einem jedem Schulkind bekannten Bildgedicht in Form eines Apfels mit Wurm; Förderer des Künstlers Hermann Finsterlin mit einer denkwürdigen Ausstellung; Dozent an der Stuttgarter Universität mit einem Schwerpunkt auf den Themen Hörspiel und Medien; Literaturwissenschaftler, der sich gleichermaßen mit Jean Paul und Wilhelm Raabe wie mit Kurt Schwitters beschäftigte und den barocken Wilhelm Ludwig Wekhrlin neben Helmut Heißenbüttel als Botnanger Nachbarn würdigte.

Die meisten kannten nur die eine oder andere Seite von Reinhard Döhl, und wer vermochte schon alle seine Begabungen gleichermaßen zu schätzen? Wer in keine Schublade passt und sich auch nicht einordnen lassen will - "Medienwissenschaftler, Autor und Künstler (Reihenfolge freibleibend)'', sagt die Homepage -, hat es schwer, jedenfalls hierzulande. Entsprechend kamen die Ehrungen aus dem Ausland, nicht aus Stuttgart und Baden-Württemberg. Die mangelnde Wahrnehmung und Wertschätzung war sein Kummer, hat Döhl schließlich auch bewogen, sein privates Archiv an die Akademie der Künste in Berlin zu geben.

Geboren 1934 in Wattenscheid, studierte er an der Büchereifachschule Hamburg und den Universitäten Göttingen und Stuttgart. Hierher kam er 1959 wegen Max Bense. Promoviert wurde er 1965 mit einer Arbeit zum literarischen Werk Hans Arps, seine Habilitation 1979 thematisierte die Rolle der Medien in der neueren deutschen Literatur. Beides erscheint wegweisend: Grenzüberschreitungen, Experimente, Aneignung der Wirklichkeit statt Darstellung von Welt, dialogische Kunst, assoziatives Spiel. Das Internet war für Döhl wie geschaffen, schon 1996 begann er mit Johannes Auer in der Stadtbücherei Stuttgart den futuristischen Lesesalon zu einem virtuellen Buch der Zukunft auszugestalten. Denn dieses neue Medium bot ihm die Möglichkeit, seine Funde zu präsentieren wie in der Internet-Anthologie "poet's cornerle - der stuttgarter poetenwinkel'', auf Ereignisse zeitnah zu reagieren, Aktivitäten international zu vernetzen und nicht zuletzt mit Sprache zu spielen.

Am Samstag ist Reinhard Döhl nach langer Krankheit mit 69 Jahren gestorben, Zum Trost hinterlässt er ein Denkmal aus vielerlei Spuren, konkreten und virtuellen.




Artikel aus der
Stuttgarter Zeitung
vom 02.06.2004