In diesen kläglichen Tagen, unkte ein nicht unbedeutender Schriftsteller und Kunstkritiker, ist eine neue Industrie hervorgetreten, die nicht wenig dazu beitrug, die platte Dummheit in ihrem Glauben zu bestärken [...], daß die Kunst nichts anderes ist oder sein kann als die genaue Wiedergabe der Natur [...]. Ein rächender Gott hat die Menge erhört. Daguerre ward sein Messias.
Diese Unkerei zielte nicht auf jene modernen Fotorealisten, die Fotografien ins fremde Medium der Malerei umsetzen. Sie war auch keine Kritik an den planen Widerspiegelungs- bzw. Abbildungstheorien linker Provenienz. 1857 im "Salon" veröffentlicht, formuliert das einleitende Zitat vielmehr grundsätzlichere Bedenken Charles Baudelaires.
Wird es der Photographie erlaubt, fährt nämlich Baudelaire fort, die Kunst in einigen ihrer Funktionen zu ergänzen, so wird diese alsbald völlig von ihr verdrängt sein, dank der natürlichen Bundesgenossenschaft, die aus der Menge ihr erwachsen wird. Sie muß daher zu ihrer eigentlichen Pflicht zurückkehren, die darin besteht, der Wissenschaften und der Künste Dienerin zu sein.
Baudelaires kritischer Vorbehalt markiert in der nun schon fast 150jährigen Diskussion um den ästhetischen Stellenwert der Fotografie eine Position und ist angesichts der geschichtlichen Entwicklung in seiner Formulierung sicherlich nicht mehr zu halten. Zwei Aspekte führen aber direkt zu den als Fotolithografien< ausgewiesenen Arbeiten Manfred Kärchers.
Negativ der von Baudelaire angeprangerte Aberglaube, daß die Kunst nichts anderes ist oder sein kann als die genaue Wiedergabe der Natur. Denn genau das sind die Fotolithografien Manfred Kärchers nicht, obwohl sie - in der Großaufnahme wie in der Totalen - Natur erkennen lassen.
Positiv kann man sich den Fotolithografien Manfred Kärchers über das Baudelairsche Diktum nähern, daß es eigentliche Pflicht der Fotografie sei, [der Wissenschaft und] der Künste Dienerin zu sein, wobei man diese Forderung allerdings anders verstehen muß, als Baudelaire sie gedacht hat.
Um von 1857 endgültig den Sprung nach heute zu machen: die Fotolithografien Manfred Kärchers sind keine Abbildungen von Natur. Sie sind auch nicht unter dem Gesichtspunkt der fotografischen "Wahrheit", der Frage, was Fotografie zur Erkenntnis der Wirklichkeit leiste, zu diskutieren - Fragen, die 1981 die öffentliche Podiumsdiskussion der Tagung der Gesellschaft deutscher Lichtbildner bestimmten.
Manfred Kärchers Fotolithografien gehören vielmehr - wie bereits ihr Name signalisiert - in den Kontext der grafischen Künste, und dort in einen Zwischenbereich, für den von Seiten der Fotografie gelegentlich Bezeichnungen wie "Lichtgrafik" oder "Foto-Grafik" vorgeschlagen wurden. Erstere durch den Kunsthistoriker und -kritiker Franz Roh anläßlich der von Otto Steinert angeregten Ausstellung "Subjektive Fotografie" (1951 und 1955) in Saarbrücken, letztere anläßlich einer Sonderausstellung "Sammlung Galerie Clarissa" (1968) im Kestner-Museum in Hannover. Von diesen und anderen Vorschlägen hat die Bezeichnung "Foto-Grafik" inzwischen einen gewissen Konsens erreicht, was sich etwa damit belegen ließe, daß der englische Kamerakünstler und Fachmann für angewandte Fotografie (Stuttgarter Zeitung 4.4.1981) Sam Hawkins seine neuesten Arbeiten "Photo Graphics" nannte.
Zur richtigen Beurteilung der Fotolithografien Manfred Kärchers wird man sich ferner zwei Tatsachen in Erinnerung rufen müssen. Zunächst, daß sich trotz der Bedenken Baudelaires schon recht bald Maler des Fotoapparates als eines Hilfsmittels bedient haben und in zunehmendem Maße bedienen, um eine bestimmte Strecke des Entwurfs abzukürzen. So finden heute Fotografien ebenso als Bildvorlage Verwendung wie als Bildelement in der Collage. Sie können zum Bildträger ebenso werden wie zu Hintergrund oder Ausgangspunkt von Bildereignissen.
Zweitens wird man sich angesichts einer immer weiter ausufernden massenhaften Knipserei in Erinnerung bringen müssen, daß die Aufnahme des Fotografen eigentlich nur das Rohmaterial bereit stellt, daß die eigentliche künstlerische Arbeit erst mit der Entwicklung des Films in der Dunkelkammer, dem 'Atelier' des Fotografen, beginnt. In der Aufnahme allenfalls 'skizziert', wird erst durch Entwicklung, Ausschnitt, Vergrößerung die Bildvorstellung gesteuert, das Bild festgelegt.
Manfred Kärcher geht bei seinen Fotolithografien einen entscheidenden Schritt weiter und mit ihm über die Möglichkeiten der Fotografie im engeren Sinne hinaus, wenn er seine Negative nicht vergrößert und abzieht, sondern auf einen Druckträger umkopiert und seiner Bildvorstellung entsprechend aussteuert. Nicht das Negativ sondern die Druckplatte ist also das Medium Manfred Kärchers, nicht der Hoch- oder Mattglanzabzug sondern die Lithografie, genauer: die Zinklithografie sein Ziel. Da Manfred Kärcher vom Schwarzweißfilm ausgeht, kommt der für den Druck gewählten Farbe ein zusätzliches Gewicht zu.
Durch diesen technischen Prozeß entfernen sich Manfred Kärchers Fotolithografien in dem Maße von der Fotografie, wie sie sich einer Grafik nähern, bei deren Entstehen dem Foto als Aufgabe zufiel, eine bestimmte Strecke des Entwurfs abzukürzen. Und sie bleiben von dieser Grafik zugleich dadurch unterschieden, daß das, was auf ihnen zu sehen ist, durch die den künstlerischen Prozeß auslösende Aufnahme inhaltlich determiniert bleibt.
Wie entscheidend dieser technische Schritt Manfred Kärchers ist, was er in seiner Konsequenz bedeutet, kann eigentlich nur der Vergleich mit Fotografien und Grafiken entsprechender Sujets verdeutlichen, den ich in diesem Zusammenhang durch Hinweise ersetzen muß. So ließen sich auf der einen Seite die griechischen und jugoslawischen Landschaften Manfred Kärchers mit den Landschafts-Fotografien seines Kollegen Detlef Orlopp, die 'Steinbilder' aus Wales und der Bretagne mit der bekannter gewordenen Fotoserie der "Sardischen Felsbilder" Otto Baranowskys (1965) instruktiv vergleichen. Und zugleich ließe sich der Hochglanzabzug dort von der taktilen Aufforderung hier unterscheiden, durch deren matt oliv- bis blaugraue Töne sich Manfred Kärcher auch farblich dem Sujet Stein nähert.
Auf der anderen Seite sind die Kärcherschen Fotolithografien den Landschaftsradierungen Ulrich Zehs zum Beispiel durchaus nicht unverwandt und zugleich von dessen Landschaftszeichnungen, von der Freiheit, die auf ihnen der Farbstift sich gegenüber der Fotovorlage nehmen kann, durchaus entfernt. Von den intentionalen Unterschieden ganz zu schweigen.
Manfred Kärchers 'Inhalte'
sind, den Titeln der Fotolithografien ablesbar, Landschaften, die Bretagne,
Kanada, Jugoslawien, Schottland, Wales, in Ausschnitten, die ein Tourist
kaum belichten würde. Sie sind typisch und werden durch den gewählten
Ausschnitt zugleich in einer Weise abstrakt, die sich dem Betrachter zu
einer Urlandscnaft zwischen dem zweiten und dritten Schöpfungstag
synthetisiert. Es ist eine Landschaft noch oder schon wieder ohne den Menschen,
von dem in ihr nicht einmal eine Spur zu finden ist. Selbst ihr gelegentlicher
Pflanzenbestand wirkt ausgesprochen leblos, hat allenfalls eine für
das Bildganze strukturelle Funktion.
Dieser Abstraktion entspricht
auch die von Manfred Kärcher bevorzugte Reduktion auf Stein und Wasser
in ihrer wechselseitigen Bedingtheit. Der Stein (das Ruhende, das Statische)
setzt dem Wasser (dem Bewegten, dem Dynamischen) Widerstand entgegen. Das
Wasser (das Bewegte, das Dynamische) zerstört den Stein (das Ruhende,
das Statische). Zwischendurch wird anderes sichtbar: die scheinbar beruhigte
bzw. sich beruhigende Wasserfläche, bizarr gehäufte, bedrohlich
gefaltete Felsen, Felswände, an denen Wasser herabstürzt, womit
auch in der Vertikalen das Wechselspiel beginnt, das für die Horizontale
bereits skizziert wurde.
In diesem Wechselspiel erscheinen (z.B. in der Bretagne-Mappe, der Wales-Serie) die Steine oft in zufälligen Formen, die den Betrachter das eigentlich Materiale immer mehr vergessen, die ihn zunehmend Organisches assoziieren lassen. Die von Manfred Kärcher im Landschaftsausschnitt gezeigten organischen Formen können dabei gelegentlich an Plastiken Hans Arps erinnern, vor allem an jene, die Arp (wieder) in die Natur ausgesetzt hat, überzeugt, sie würden sich natürlich in die Natur einfügen und erst bei genauerem Hinsehen erkennen lassen, daß sie von Menschenhand geformt seien.
Ein kleines Bruchstück einer meiner Plastiken, an der mich eine Rundung, ein Gegensatz reizt, beschrieb Arp ihre Entstehung, ist oft der Keim einer neuen Plastik. Ich verstärke die Rundung oder den Gegensatz. Neue Formen sind dadurch bedingt. Unter den neuen Formen wachsen zwei besonders stark. Ich lasse diese zwei weiterwachsen, bis die ursprünglichen Formen nebensächlich und beinahe ausdruckslos geworden sind. Schließlich unterdrücke ich eine der nebensächlichen ausdruckslosen, damit die übrigen wieder sichtbarer werden.
Eine solche Kunst nannte Arp konkrete, gelegentlich auch elementare Kunst, und er verstand darunter eine Kunst, die nicht abbilden sondern bilden wollte. Die nicht die Natur nachahmen, sondern wie die Natur bilden sollte. Und dies nicht mittelbar sondern unmittelbar.
Das aber ist zugleich der zentrale Unterschied zwischen den von Kärcher in der Natur vorgefundenen Steinformen und den in die Natur ausgesetzten geformten Steinen Arps. Waren letztere unmittelbar wie die Natur gebildet, zeigen Manfred Kärchers Fotolithografien, welche Steinformen die Natur unmittelbar formt. Handelt es sich bei Arp trotz ihres Entstehungsprozesses um in der Natur ausgesetzte definite Formen, sind die von Manfred Kärcher in der Natur gefundenen Formen indefinite Zustände eines Prozesses, aus dem die Kamera einen augenblicklichen Moment herausgelöst, dem die Fotolithografie ästhetische Dauer verliehen hat. Wobei sich der gezeigte Gegenstand und seine Präsentation gleichsam tautologisch entsprechen, wenn Manfred Kärcher die gefundenen Steinformen mit Hilfe der Zinklithografie abbildet, die im Grunde nichts weiter ist als eine technische Varietät der klassischen Lithographie, des Steindrucks.
Ein derartiges Zusammentreten von Stein und Steindruck, von Kunstgegenstand und Kunstmittel ist kein Zufall, wenn man die Biographie des Fotolithografen in Anschlag bringt. Manfred Kärcher ist nämlich zunächst als Reproduktionsfotograf ausgebildet worden und lehrt heute nach einem Studium an der Ingenieurschule für Druck in Stuttgart als Dozent für Satz, Druck und Reproduktion an der Fachhochschule Niederrhein in Krefeld. In welchem Maße dieses Fach nicht nur kunsthandwerkliche sondern zugleich kunstsoziologische und ästhetische Fragen einschließt, hat Walter Benjamin in seiner "Kleinen Geschichte der Fotographie" (1931) und dem berühmteren Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" zum ersten Mal angedeutet. Benjamins Uberlegungen ordnen die Fotografle dabei ein in die Geschichte der Reproduktionstechniken, in der mit der Lithografie zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine grundsätzlich neue Stufe [...] erreicht werde.
Ihr viel bündigeres Verfahren, das die Auftragung der Zeichnung auf einen Stein von ihrer Kerbung in einen Holzblock oder ihrer Ätzung in eine Kupferplatte unterscheide, habe der Graphik zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben, ihre Erzeugnisse nicht allein massenweise (wie vordem), sondern in täglich neuen Gestaltungen auf den Markt zu bringen. Die Grafik wurde durch die Lithographie befähigt, den Alltag illustrativ zu begleiten. Sie begann, Schritt mit dem Druck zu halten. In diesem Beginnen wurde sie aber schon wenige Jahrzehnte nach der Erfindung des Steindrucks durch die Photographie überflügelt. Mit der Photographie war die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion zum erstenmal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche nunmehr dem ins Objektiv blickenden Auge allein zufielen. Da das Auge schneller erfaßt, als die Hand zeichnet, so wurde der Prozeß bildlicher Reproduktion so ungeheuer beschleunigt, daß er mit dem Sprechen Schritt halten konnte.
Die Degeneration vom Landschaftsbild zum -stich, von der lithografierten Landschaft der Illustrierten über die zuerst schwarzweiße, dann farbige Ansichtskarte zu Ferienfoto und -film belegen für einen Fall Benjamins historische Skizze. Zu dieser Entwicklung verhalten sich die Fotolithografien Manfred Kärchers praktisch rückläufig: in der Verbannung des Menschen aus der Ferienlandschaft, in der unüblichen Aufnahme der Landschaft und schließlich in einer historisch noch älteren Reproduktionstechnik.
Zugleich öffnen sie die Perspektive auf einen von Walter Benjamin übersehenen oder nicht weiter beachteten Berührungspunkt zwischen Steindruck und Lichtbild in der Geschichte der Fotografie. 1816 begann nämlich Joseph Nicéphore Niepce in der Absicht, Lithographien mechanisch herzustellen [...], mit fotographischen Versuchen auf Chlorsilberpapier. Ich darf mich im folgenden einer neueren Enzyklopädie anschließen und fortsetzen, daß Niepce nach Scheitern dieser Versuche dazu überging, dünne Bitumenschichten zu verwenden, die durch Licht erhärten und deren unbelichtete Teile in Terpentinöl löslich sind. 1822 gelang ihm auf Glas eine heliographische Reproduktion eines Stiches im Kontaktverfahren. In den folgenden Jahren machte er heliographische Versuche auf lithographischem Stein und auf Metall (Zinn, Zink und versilberte Kupferplatten); für den Papierabzug benötigte Niepce Metallplatten, die sich ätzen ließen und von gewisser Härte waren. 1826 gelang ihm die erste befriedigende Kameraaufnahme (der Hof seines Landhauses) auf Zinn bei etwa acht bis zehnstündiger Belichtung. Im gleichen Jahr entstand im Kopierverfahren die einzige Heliographie, die er von Augustin François Lemaître ätzen ließ und von der zwei Drucke gezogen wurden. Niepce wurde somit 1826 zum Erfinder der Photographie und des ersten photomechanischen Reproduktionsverfahrens.
1974, also knapp 150 Jahre später, beginnt Manfred Kärcher mit seinen ersten Fotolithografien zu experimentieren, treten Foto- und Lithografie, deren Wege sich nach den Versuchen Niepce's getrennt hatten, wieder zusammen, bekommen ein Produktionsschritt und ein Produktionsvorgang, die in der Entwicklungsgeschichte der Fotografie lediglich experimentellen Wert hatten, ihren ästhetischen Sinn. Indem er die Entwicklung der Reproduktionstechniken praktisch umkehrt, gelingt ihm der produktive Schritt
[Galerie der Stadt Kornwestheim, 8.5.1981. Druck in: Manfred Kärcher: Fotolithografien. Von Landschaften, Steinen und den Steindrucken Manfred Kärchers. O.O. [Krefeld], o.J. [1987]]