Sebastian Blau
Das Honoratiorenschwäbisch

Zwischen der "Hochsprache" und der bäuerlichen Mundart steht das Honoratiorenschwäbisch, wie wir es nennen. Es ist die Sprache der städtischen Schwaben. So redet man am Wirtstisch und in den Läden, bei Behörden und in der Familie, und im Tübinger Stift diskutiert man darin sogar die heikelsten philosophischen Probleme.

Es ist ein wunderliches Gemisch. Das ganze Material der Bildung und der Buchsprache wird unverkümmert und unbekümmert übernommen, nur erhalten alle Ausdrücke schwäbische Lautform, auch die gelehrtesten Fremdwörter und Fachausdrücke.

Hart daneben stehen, wie erratische Blöcke Wörter und Redensarten aus dem Bereich der unverfälschten Bauernmundart, deren klobige Formen nur leicht abgeschliffen sind.

Auf einen Fremden mag dieser Halbdialekt zuweilen einen komischen Eindruck machen. Was soll er denke, wenn er zwei gesetzte Mannen vor einem Viertele Roten mit "dr Fene'mene'logie vomHegel ond em "Deng an sich" oder dem ganze' phile'sophische' Lohkäs om sich schmeiße'" hört?

Die meisten Kennzeichen des Schwäbischen überhaupt finden sich bereits in dieser schön "durchwachsenen" Sprache der schwäbischen Städter. Da wäre die Neigung, das auslautende e der Endungen abzuwerfen (Leut, Aff, Gäns); dann die Vorliebe für das Hilfszeitwort "tun". Man tut bei uns schlechthin alles: ma' tuat schaffe', ma' tuat esse', und es ist nur logisch, daß bei einem so tätigen Schlag sogar das Nichtstun ein Tun ist: ma' tuat au faulenze'. Ein guter Rat lautet: des tät i net toa', woraus zu entnehmen ist, daß auch der Konjunktiv (die Möglichkeitsform) häufig mit "tun" gebildet wird.

Auch die Freude an übertreibenden Ausdrücken macht sich schon bemerkbar. "Schwätze'" ist nicht schwatzen, sondern einfach reden; wenn andere gehen, so laufen wir bereits, kommen jene ins Laufen, so springen wir schon, und wo es zu springen gilt, hüpfen wir. In Stuttgart hörte ich einmal einen biederen Bürgersmann, als er aus einem Uhrmacherladen herauskam, zu seiner Frau sagen: "Der Lomp hôt die Uhr noh' net fertig." Eine Beschimpfung des ehrbaren Handwerkers war damit keineswegs beabsichtigt; der Mann wollte nur feststellen, so was sei eine kleine Schlamperei. Und in einer Wirtschaft vernahm ich, wie ein selbst nicht mehr jugendlicher Rechtsanwalt im Gespräch über einen abwesenden Bekannten äußerte: "Ha, des muaß jetzt au scho' en alter Dackel sei'." Auch hier konnte von einer Beleidigung nicht die Rede sein, es sollte lediglich das gesetzte Alter des Betreffenden und die damit verbundene Abnahme der geistigen und leiblichen Kräfte verdeutlicht werden.

Vielleicht das auffälligste Merkmal unserer Mundart ist ihre schlaffe Artikulierung, das heißt, ihre weitgehende Schonung der Sprechwerkzeuge. Herb und derb gesagt: die Maulfaulheit als gestaltendes Prinzip unserer Sprache. Auf ihr Konto kommen die bequemen Nasenlaute, die selbst in Wörtern auftreten, wo für ihre Existenz kein zureichender Grund zu finden ist, wie die Na's (Nase), ma'g (mag) usw. Dieser Maulfaulheit wegen schenken wir uns das e in der Vorsilbe ge- und manchmal sogar diese ganz, und sagen: gspronge', ghalte', bliebe'. Auch der Verlust von ö und ü (heflich, Glick), die Quetschung von u vor m, n, ng zu o (Hond, stomm), von ä, i, ö und ü vor den gleichen Nasalen zu e haben diese Ursache. Es klingen demnach im Schwäbischen Lämple und Lümple, Hämmel und Himmel, Ständle und Stündle, Rinder und Ränder gleich. Nicht ganz mit Unrecht foppt man uns darum, wir sagten: "Machs Finster zu, s wird fenster!"

Die Höchstleistung aber erreicht dieser Hang zur Bequemlichkeit bei den hochdeutsch so übermäßig langen Wörtern ja und nein. Dafür sagt der Schwabe, wenn er zustimmt:_a'ha', und wenn er ablehnt, umgedreht ha'a'. Wem auch das noch zu umständlich ist, der macht bloß mhm und hm'm - dazu braucht er dann nicht einmal den Mund aufzutun.

Ob nun dieses Honoratiorenschwäbisch schön klingt, das möchte ich nicht beurteilen. Praktisch ist es gewiß. In der Buntheit der lokalen Abarten unsrer Mundart stellt es immerhin eine gewisse allgemeingültige Einheit dar. Es kann zusagen für das Esperanto Württembergs gelten. Stuttgart und Tübingen, das eine als Hauptstadt und Verwaltungsmittelpunkt, das andere als Quelle der Bi1dung, haben es weitgehend geformt Es verschlägt dieser Einheit nichts, daß gerade in ihr, sowenig man sonst von einem protestantischen oder katholischen Schwäbisch reden kann, die konfessionellen Unterschiede sich ausdrücken.

Wen dies bei seiner schwäbischen Bekanntschaft interessiert, der braucht ihr nur

den Satz aufzugeben: der Lehrer geht. Sagt sie: der Lährer geht, dann schwört sie auf Luther; sagt sie aber: der Lehrer gäht, auf den Papst. Der verstorbene Tübinger Germanist und beste Kenner unserer Mundart, Hermann Fischer, führt den Unterschied darauf zurück, daß die eine Konfession ein anderes schriftsprachliches Vorbild habe als die andere; das protestantische offene e (= ä) ginge demnach auf die sächsisch-thüringischen Prediger der Reformation zurück.

Literaturfähig hat diesen Gebildetendialekt Fr. Th. Vischer mit seinem Lustspiel "Nicht Ia" gemacht. Als Probe setze ich eine Stelle her; es ist der tragische Monolog eines verliebten schwäbischen Vikars, dem soeben sein Luisle den Laufpaß gegeben hat.

Also aus isch! Matthäi am letzte'! Und so behandelt mi des Mädle, wo i grad ihr Haus, i darf sage' mannhaft, gege' gfährliche Feind verteidigt han. - Adje!. - Schöne Tag sinds e' Zeitlang gwese' in dere' Liabe. 0, wie sie mi s erstmôl kußt hat in dr Garte'laub! Wie nôh dr Pfarrer obe' im Dachlade' mit eme' große Perspektiv erschiene', hats aufgschrauft, runterspioniert, aber z spät. Alle dia selige Stonde'! O!" (seine Stimme bricht) "Aus für emmer! Nie wieder!" (weinend) "Nei', ich zweng me nemme länger - O! O! Und sie ist erst noh' so e', so e' -" (schluchzend) "saumäßig netts Mädle! Das ist leicht zu verstehen? Und so groß scheint der Abstand vom Schriftdeutschen nicht zu sein? Der Schein trügt, es sieht nur so aus. Es sieht nur geschrieben so aus. Vischer hat es seinen Lesern leicht gemacht, indem er das hochdeutsche Schriftbild fast beibehielt. Bei seinem Schwäbisch ließ sich das machen, obwohl auch hier der schwäbische Leser vieles aus eigenem dazutun muß, soll der Text richtig klingen.

Immerhin, der häufige Gebrauch des Auslassungszeichen muß auffallen. Es steht hier nicht für irgendeinen weggefallenen Buchstaben, sondern soll den Nasenlaut andeuten. Wir werden es nachher, wenn wir miteinander in die Geheimnisse der eigentlichen Mundart eindringen, noch oft, fast zu oft, zu setzen haben. Dann wird sich leider auch das schriftdeutsche Wortbild nicht mehr überall halten lassen. Denn dort orgelt und näselt und brauset und zischt es von Lauten und Tönen, für deren Wiedergabe die armseligen fünfundzwanzig Buchstaben des Alphabets kaum mehr ausreichen wollen.

Inzwischen mag, wer es nötig hat, vorbereitend seine Zunge schleifen und "ganz hurtig nacheinander ohne Tadel" hersagen:

s leit e' Klötzle Blei glei bei Blaubeure',
glei bei Blaubeure' leit e' Klötzle Blei!
Oder Schellet Se et a' sellere' Schell,
selle Schell schellt et,
Schellet Se a' sellere' Schell,
selle Schell schellt!
Vgl. auch Karl Julius Weber: Aus: Briefe eines reisenden Deutschen




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