Die Anfänge der künstlerischen Entwicklung Finsterlins ("auf dem Arm meiner Kinderfrau") (16) liegen im Dunkel der Anekdote. Zum einen lassen sie sich als Oppositionsakt gegen das luxuriöse "Banausentum" seiner Umgebung deuten, zum Beispiel, wenn der "Zehnjährige aus den Knöchelchen der Froschschenkel, die es zum Mittagessen gegeben hatte, auf einem Brotbrettchen einen Totenschädel zurecht" legt (17). Zum anderen deutet sich bereits sehr früh auch ein narzißtischer Zug des Finsterlinschen Charakters an: "Das erste Bild mit zwölf. Portrait einer schönen adligen, aber verheirateten Dame. Aus phantastischer Malerei und im Stile eines alten Meisters gemalt, schenkte es sich der junge Hermann Finsterlin am 18. August 1898 zum Geburtstag" (18). Bei zu korrigierender Jahreszahl, die 1899 heißen müßte, es sei denn, Finsterlin malte dieses Portrait bereits mit elf Jahren, signalisieren beide Anekdoten eher Isolation als Integration des Heranwachsenden in Familie und Verwandtschaft, im München der spätbürgerlichen Ära.
Neben diesen Anekdoten bieten vier "Zeichenhefte" (Abb. 2), deren erstes mit 1897 datiert ist, die erste konkrete Spur. Sie zeigen Finsterlin als bemühten und sicheren Formzeichner, wobei sie einen Unterrichtsweg von der einfachen frei gezeichneten Linie zur Kurve, von einfachen geometrischen zu immer komplexeren, konstruierten Formen verfolgen lassen, besonders bemerkenswert dort, wo diese einen eindeutig organisch-ornamentalen Charakter bekommen. Ob hier von einem indirekten oder direkten Jugendstileinfluß gesprochen werden darf, muß offenbleiben. Doch deuten die beiden letzten Zeichenhefte in Verbindung mit späteren Postkartenentwürfen (19)(Abb. 3) und Bildern des Frühwerkes durchaus eine formale Berührung mit dem Jugendstil an, die sich spurenhaft durch das ganze Werk hindurch verfolgen läßt, auch wenn Finsterlin dies wiederholt vehement abgewiesen hat, etwa mit dem Hinweis, er habe "in der Hochzeit dieser Mal- und Bauart [...] als Ein- und Zweisiedler in den Bergen" gelebt und "keine Ahnung" gehabt, "was draußen in der Welt und im Kunstleben vor sich ging" (20). Aber diese für den späteren Finsterlin charakteristische Schutzbehauptung, verwechselt schlicht die Zeiten.
Nicht zu datieren ist, aber wahrscheinlich ebenfalls in die Zeit um die Jahrhundertwcnde fällt eine Anzahl karikaturistischer Skizzen (Abb. 4), die eine offensichtlich nicht immer freudig geleistete lateinische und griechische Schullektüre begleiteten und eine Neigung zu grotesk-komischer Darstellung bzw. Ausdeutung erkennen lassen.
Als nächster konkreter Beleg hat sich ein mit 1903 datiertes Ölbild mit dem Titel "Akademie-Modell« (Abb. 5) erhalten (21). Wäre seine Datierung zuverlässig, müßte Finsterlin spätestens in diesem Jahre Kontakt zur Münchner Kunstakademie gehabt und diesen Kontakt spätestens 1908 wieder abgebrochen haben, da ihn ein ärztliches Attest vom 9. August 1908 als "Kunstmaler" anspricht, wobei die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, daß Finsterlins Verlassen der Akademie auch gesundheitliche Gründe hatte. Schon sein Aussehen, schreibt das Gutachten, bekunde, "daß er anämisch" sei. Im Zusammenhang damit leidet er an Störungen von Seiten des Herzens und an Neigung zu Ohnmachtsanfällen. Gleichzeitig besteht ziemlich hochgradige Nervosität und hartnäckige Obstipation. Der Thorax ist nicht gut entwickelt, und es besteht große Neigung zu verschleppten Bronchialcatarrhen." Sicher ist, daß solch ein Gesundheitszustand Finsterlin über Jahre zu schaffen gemacht hat, daß mutmaßlich in ihm eine Wurzel für seine langjährigen Berchtesgadener Aufenthalte, für ein eigenwilliges, von ihm selbst entwickeltes Ernährungsprogramm zu suchen ist.
Über die eigentliche Akademiezeit und ihren Umfang liegen kaum Angaben vor. Die "Biographie [...]" nennt als Lehrer "Walter Thor, Hermann Groeber u.a.", die Sekundärliteratur zählt als solch "andere" Ludwig von Löfftz und Franz von Stuck auf. Allerdings dürfte es im Falle Franz von Stucks beim "Versprechen" des Ateliers geblieben sein, obwohl Stucks "Vorliebe für Fabel und Mythe" Finsterlin sicherlich entgegenkam. Schüler Ludwig von Löfftz' kann Finsterlin schon deshalb nicht gewesen sein, weil "ein Augenleiden" diesen bereits 1898 "zu fast gänzlicher Untätigkeit" gezwungen hatte (22). So daß als Lehrer in der Tat nur die von Finsterlin genannten Thor, der 25 Jahre lang in München eine Mal- und Zeichenschule leitete (23), und Groeber (24) bleiben. Mit beiden, dem Portraitmaler Thor und dem Löfftz-Schüler Groeber, hat Finsterlin denn auch engeren Kontakt gehabt. Das belegt erstens das zitierte Urteil Thors, das - beim Wort genommen - prophezeit, was Finsterlins malerische Entwicklung auch bestätigt: seine geringere Begabung als Portraitmaler. Zweitens verrät ein späterer Brief Groebers, daß Finsterlin in seiner Kunststudentenzeit bereits sehr eigene und andere Ziele als die der Akademie und ihrer Lehrer verfolgte.
"Ich kann mir", schreibt Groeber am 16. November 1928, möglicherweise in Reaktion auf das Presse-Echo der Finsterlin-Ausstellung im Stuttgarter Landesgewerbemuseum, "ich kann mir Ihre erfolgreichen Arbeiten recht gut 'denken' (25), denn Sie sind wohl Ihrer damaligen Anlage unentwegt gefolg - aber ich möchte doch zu gerne wenigstens einige Fotos nach Ihren Arbeiten sehen." Da Groeber, der seinen Brief mit "Ihr alter Professor" unterzeichnet, erst seit 1907 an der Akademie als Lehrer für Aktzeichnen unterrichtete, Finsterlin andererseits 1908 bereits als "Kunstmaler" firmierte, läßt sich die Zeit des Kunststudiums auf die Jahre 1905 (frühestens) bis 1908 (spätestens) eingrenzen.
Ob in diese Zeit auch der Kontakt mit Anton Schöner schon zu rechnen ist, wann Finsterlin Walter Ernst Haeckel kennenlernt, den er um 1910 portraitierte, war nicht zu ermitteln. Mit Haeckel kann sich Finsterlin auch nach der eigentlichen Akademiezeit angefreundet haben, zumal Haeckel mit Knirr, Buttersack, Steppes ganz andere Lehrer als Finsterlin hatte.
Ein "Der Münchner Akademie" gewidmetes und auch so überschriebenes Gedicht, das zwischen 1908 und 1910 entstanden ist, signalisiert etwas von den Spannungen, unter denen Finsterlin damals stand:
Ich bin kein Jude,
Ich bin kein Hund.
Ich kann nicht sonderlich bellen,
Zu viel zu sagen oder nichts
Hat man in solchen Fällen.
Und nun verzeiht Ihr liehen Freund,
Wenn ich so kurz mich fasse,
Und Euch auf einen Gruß von mir
Noch etwas warten lasse.
Vorüber erst, und hinter mirWoran Finsterlins Akademiestudium letztlich gescheitert ist, läßt sich mit Sicherheit nicht sagen. Der Brief Groebers legt nahe, daß Finsterlin auf der Akademie nicht fand, was er suchte. Wobei zu ergänzen ist, daß Finsterlin lange Zeit selbst nicht wußte, was er konkret wollte. Finsterlins "Biographie [...]" nennt als weiteren Grund das Scheitern an einer von der Akademie gestellten Aufgabe. Was die "Biographie [...]" dabei eher allgemein hält, präzisiert der Sohn durch die Angabe, sein Vater habe den "Staat" als "eine riesige, dämonische Gestalt" aufgefaßt, "die ein Menschlein in den Händen hielt, beschäftigt damit, ihm die Augen auszudrücken", mit der Ergänzung, daß Finsterlin "auch die anderen Aufgaben in gleich aufmüpfiger Art erfüllt" habe (28), was die Opposition gegen die Familie auf anderer Ebene in der Opposition gegen Staat und Gesellschaft fortsetzt.
Muß sein "Perück" und Mieder,
Dann komm ich durch die Hintertür,
Im Rock der frommen Brüder. (27)
Finsterlins eher apokryphe Angabe, "ich spannte dann noch die Debschnitzschule (sic, R.D.) aus", hat Wolfgang Pehnt dahingehend aufgelöst: Finsterlins "künstlerische Vorbilder und Weggenossen" seien, statt auf der Akademie, "weit eher unter den Münchncr Kunstgewerblern oder Im Schülerkreis um Wilhelm von Debschitz' Lehr- und Versuchswerkstätten" zu "vermuten", da "hier [...] Naturformen eingehend untesucht, ihre Wirkungen durch Auswahl und Intensivierung gesteigert, gesetzmäßige Rhythmen von den Erscheinungen abgeleitet und auf Kunstwerk oder Gebrauchsgegenstand übertragen" wurden (29). Doch versucht Pehnt, der mit Finsterlin Ende der 60er Jahre gut bekannt war, keine genauere Datierung, wie er auch nicht weiter darauf eingeht, daß es neben den "Lehr- und Versuchs-Ateliers für angewandte und freie Kunst" noch das industrielle Unternehmen der "Ateliers und Werkstätten für angewandte Kunst" gab. An beiden Orten könnte nämlich Finsterlin jene Anregungen bekommen haben, die ihn später auf die Idee seiner berühmten Architekturbaukästen brachten.
Offenbleiben muß - die Zeit des künstlerischen Studierens abschließend - eine Datierung des freien Ateliers in Schwabing, für dessen Kosten offensichtlich enttäuschte Studenten der Akademie, vielleicht auch Haeckel, zusammengelegt hatten, um sich gegenseitig die Korrektur zu geben, die sie auf der Akademie nicht bekommen hatten.
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