Bereits 1907 liegt aber auch schon ein umfangreiches Gedichtwerk vor, dessen dominierende Stimmungslage Finsterlin in die Strophe faßt:
Auf meinem blonden HaareWas diese Verse und die anderen Gedichte der damaligen Zeit charakterisiert, unterscheidet sich kaum von der frühen Lyrik Hans Arps, Kurt Schwitters' und anderer Zeitgenossen. Es ist eine Lyrik sogenannter Neuromantik mit zum Teil pubertären Zügen, voller Hingabe an erlesene Stimmungen, an grenzenloses
Trag ich die wachsende Last,
Nun zähl ichi zwanzig Jahre.
Und sie erdrücken mich fast. (30)
All dies ließe sich fast beliebig mit den frühen Gedichten Finsterlins belegen. Aber wie das Frühwerk Arps und Schwitters' enthält auch das literarische Frühwerk Finsterlins zugleich Indizien dafür, daß es sich um ein Übergangsstadium handelt, daß die Stimmungslage, der es zugehörte, nur bedingt ernst zu nehmen ist. Da findet sich zum Beispiel die ehrwürdig abgegriffene Merapher des Wanderstabes, die auch im Brief an Schoener Verwendung fand. "Und nun verläuft sich der weiße Gischt einer schönen Zeit im Sande, in dem [aus: inddem, R.D.] mein Wanderstab seltsame Runen gräbt, die ich versteinert wünschte, und nicht aufgelöst von der Flut, von Ebbe und Flut." Aber in einem edicht sind die von den Menschen bewunderten Runen des Wanderstabes nichts weiter als die Spuren von Holzwürmern:
Wurmstichig ist mein Wanderstab
vom Stiefel bis zum Knauf,
Ich wandre die Berge bergauf, bergab
Und halte mich nirgend auf.
Die Runen in meinem Knotenholz
Bewundert Snob und Gesind,
Ich aber lache vor Lust und Stolz,
Weils doch die Würmer nur sind.
Erzähl ihnen von meinem Reebenstock [sic, R.D.]Wie sehr Finsterlin an musikalischer Stimmung lag, läßt eine eigenhändige Komposition eines seiner Italiengedichte abhören, deren Lösung der Tonlage des Textes weitgehend entspricht (33).
Manch wunderliche Mär,
Und schüttle mein blondes Greisengelock
Als ob ich ein Dichter wär. (32)
Auf diese fraglos durch den Jugendstil angeregte Neigung zur Gesamtkomposition verweisen auch die hand- und maschinenschriftlichen Abschriften dieser Gedichte auf Japan- oder anderem gutem Papier, ihr Einband in kostbare Buchhüllen, die ihrerseits gestaltet sind (Abb. 6). Erhalten haben sich für die Jahre 1904 bis 1911 drei Bande handschriftlicher Gedichte, "Meine ersten Versuche" und "Mit offenen Augen" getitelt (34)und Gedichte von 1904 bis 1907 bzw. von 1907 bis 1911 umfassend; der dritte Band ohne Titel versammelt Gedichte ab 1906 (35). Zu diesen Gedichthandschriften kommen vier Bände maschinegeschriebener Gedichte, von denen allerdings nur einer einen Titel trägt, der 1908 den Eltern zur silbernen Hochzeit gewidmete Band "Spinnengewebe. Balladenheerde [sic, R.D.] von Hermann Finsterlin". Die anderen drei Bände sind titellos, einer auf dem Umschlag mit "HF." bezeichnet und "09-11" datiert, ein zweiter rückseitig mit einer Jugendstilvignette geziert, für die Finsterlin eine Sphinx als Wappentier gewählt hat (36). Hinzu kommt ein Konvolut Maschine geschriebener Gedichte auf Japanpapier, das, in eine Buchhülle eingelegt, wohl ebenfalls eingebunden werden sollte.
Das ist für sieben Jahre ein recht umfangreiches Gedichtwerk, selbst wenn man abzieht, daß die meisten Gedichte sowohl in hand- wie maschinegeschriebener Fassung vorhanden sind. Neben dem neuromantischen Ansatz ihrer jugendstilnahen Präsentation versuchen sich die Gedichte in fast allen damals populären und weniger populären Gattungen, von der Ballade bis zum Sinngedicht, von liedhafter bis zur Gedankenlyrik, in der Regel ohne einen unverwechselbaren Ton zu finden. Aus dem Rahmen fallen einige Dialektgedichte, die einen eigentümlichen Witz entfalten, sowie Gedichte, die auf Lektüre reagieren. So hat sich Finsterlin offensichtlich um 1908 intensiver mit Friedrich Schiller beschäftigt, vor allem aber mit Spinoza, dem er eine lange Ballade widmet, an deren Schluß Spinoza die ihn bedrängenden Menschen bescheidet:
Ich sprach er, sag Euch das Geheimnis nicht,Hier scheint sich Künftiges bereits anzudeuten, ebenso wie in den letzten zwei Versen eines ansonsten eher konventionellen Naturgedichts:
Doch wißt;
Ich hab' die Welt umfangent. (37)
Wir TiefseefischverwandtenAber die Zahl derart vorausweisender Formulierungen und Gedichte ist gering, größer die Zahl derjenigen, die sich konkret mit dem auseinandersetzen, was Finsterlin beschäftigt. Darunter stützt ein zwischen dem 5. und 10.Oktober 1905 entstandener Vierzeiler, der eigentlich ein Distichon ist, die Annahme, daß Finsterlin Ende dieses Jahres bereits Beziehung zur Münchner Akademie hatte, wenn er sie damals nicht sogar schon besuchte.
Wir Atlanten. (38)
Vor meinem ersten Werk.
Noch bist Du, Werk meiner HandEine in "Meine ersten Versuche" aufgenommene Reflexion vom 26.4.1907 beschäftigt sich mit der aktuellen Dichtung:
Ein Stolz dem strebenden Herzen.
Bald vor dem schärferen Blick
Flieh'st verachtet auch Du. (39)
Unsere jetzige Dichtung ist nichts
als eine neue Mode.
Neue Kleider über die alten Körper
mit Seele und Geist.
Ein neues buntes, fesches, elegantes
Kleid, daß die schöne Form durchscheinen
läßt - ohne das ästhetische Gefühl
zu verletzen,
Das ist in kurzen Worten die
Anforderung an die modernen
Schneider, (unsere jetzigen, modernen
Dichter) die leider so rar sind.
S' ist wahr der Goldne Mittelweg ist schwer. (40)Wie das Distichon gegenüber seinem "ersten Werk", lassen andere Gedichte zugleich Zweifel an der eigenen Dichterexistenz und -begabung ablesen. Dabei korrespondiert der Selbstvergewisserung
Und so sitz ich wie auf Kohlen,zum Beispiel ein Infragestellen:
Weil ich doch ein Dichter bin -
Und schüttle mein blondes GreisengebesDiesem Schwanken zwischen "weil" und "als ob" entsprechen bereits recht früh gezielte Stilbrüche ("Und so sitz ich wie auf Kohlen"), ein Charakteristikum überhaupt des Gedichtwerks Finsterlins, und durchaus nicht frei von gelegentlichen Peinlichkeiten. Allerdings ist gerade in diesem Falle der Stilbruch gerechtfertigt durch das Unbehagen an traditionellen Sujets, durch die Einsicht, daß es an eigenen und neuen Stoffen mangelt:
Als oh ich ein Dichter wär.
Altbekanntes wiederholenZu gleicher Zeit versuchen andere Gedichte, die Abhängigkeit von Neuromantik und Jugendstil ironisch zu brechen, Melancholie und Depression aufzuhellen, ein traditionell romantisches Bild in Frage zu stellen:
Hat, so glaub ich, nicht viel Sinn,
Und so Sitz ich wie auf Kohlen,
Weil ich doch ein Dichter bin. (41)
Ich hin ein freier, ein fröhlicher Bursch,
Und kann kein Joch ertragen,
Das lass' ich den Ochsen im gold'nen Geschirr,
Am prunkenden Ehrenwagen.
Mich laßt das zopfige Einhorn in Ruh,
Ich streun' durch die blumigen Wiesen,
Da nicken die bunten Falter mir zu,
Die mich als König begrüßen.
Mein Mädel ist eine Muse keck,
Ich küss' ihr die roten Lippen.
Und ist Sie spröde, dann geh ich weg.
Dorthin wo die Falter wippen.
Da springen die anderen Musen mir zu,
Ich lieb' sie, die fröhlichen Dinger,
Sie lieben auch mich und wir brauchen dazu
Keinen goldnen Ring am Finger.
So führ ich ein Leben in Liebe und Lust,
Und frei von jeglichen Banden,
Was haben die Götter Schönes gewußt,
Daß sie den Künstler erfanden.
Die neue Zeit nur, potzsaperament,Ohne das Gedicht im einzelnen interpretieren zu wollen, enthält es mehrere aufschlußreiche Hinweise. Zunächst die Inanspruchnahme der Freiheit, ja Bindungslosigkeit gegenüber einer Gesellschaft, die als "Ochsen im gold'nen Geschirr / Am prunkenden Ehrenwagen" deutlich genug markiert ist. Dann die Einschätzung als Einzelgänger, als "zopfiges Einhorn", was möglicherweise über von Stuck auf Böcklins "Schweigen im Walde" bezogen werden kann, aber auch allgemein in den Kontext der ästhetizistischen Einhörner um 1900 paßt. Nicht zu überlesen sind schließlich die Auffassung des Künstlers als einer Erfindung der Götter, die Skepsis gegenüber einer als musenfeindich empfundenen "neuen Zeit".
Die macht mir heimlich Qualen,
Muß für meine Musenkinder am End'
Noch Alimente zahlen. (32)
Der Duktus des Gedichts, speziell die Strophe 4, legt nahe, daß Finsterlin nicht nur mit Heinrich Heines "Buch der Lieder" vertraut war. Aber er entspricht in dieser Tradition auch einem Gedichttypus, wie ihn der "Simplicissimus" oder die "Jugend" pflegten. Und für eine Publikation in der "Münchner illustrierten Wochenschrift für Kunst und Leben" war das Gedicht denn auch bestimmt, wie ein "An die verehrliche Redaktion der 'Jugend'" gerichteter versifizierter Begleitbrief ablesen läßt.
Ich bin ja sonst a Maler,
Und nimmermehr Poet,
Doch fehlt mir mancher Taler,
Wenn's Monat weiter geht.
Da hab ich just bestiegen
Ein streickend [sic, R.D.] Droschkenvieh,
Gab' Flügel ihm zum Fliegen,
Es war So schön wie nie.
So ritt ich durch die Straßen,
In Flocken eingehüllt,
Wie hat die Münchner Jugend
Mir freudig zugebrüllt.
Drum stell' ich bei der 'Jugend'
Als fremder Gast mich ein,
Laß mich, Papa der Tugend
Dir schön empfohlen sein.
Doch kannst Du mich nicht brauchen,Da sich Gedicht und begleitende Verse außer handschriftlich in "Mit offenen Augen" (dort datiert mit 28.2.1908) auch als Originaltyposkript erhalten haben, kann nicht entschieden werden, ob sie überhaupt eingesandt wurden. Eine Überprüfung der entsprechenden Jahrgänge erbrachte weder einen literarischen noch künstlerischen Beitrag Finsterlins, der andererseits die "Jugend" und den "Simplicissimus" regelmäßiger bezogen und auch geschätzt haben muß, wie eine Komplettierungsliste für den "Simplicissimus" noch aus späterer Zeit bestätigt. Nicht übersehen werden darf ferner, daß sowohl Thor wie Groeber Mitarbeiter der "Jugend", Groeber auch des "Simplicissimus" waren. Wie intensiv Finsterlin um 1908 versucht hat, aus seinem damals schon umfangreichen Werk zu publizieren, ist ungewiß. Zumindest mit der "Jugend" hat er es am 15.8.1910 ein weiteres Mal versucht, wiederum mit begleitenden Versen:
Dann gieb [sic, R.D.] mir meinen Hut,
Ich geh auch ohne Hausknecht!
Ich hin kein Bandeljud! -
Es war einmal, vor Langen,
Fast wie im Märchen klingts,
Da bin ich zu Dir gegangen
Mit meiner Poetensphinx.
Ich bin indess gewachsen,
An Körper und Verstand,
Und trag Dich Buckelkraxn
In's schöne Märchenland.
Mein Musenkind, o still es,Aber auch diesmal war Finsterlin kein Erfolg beschieden, obwohl er die "Jugend" in einem balladesken Gedicht, "Der fliegende Holländer auf Reisen", sogar als Konterbande deklarierte:
Sonst mag's ja nimmer ruhn. -
Ich schwör Dir ja, ich will es
Gewiß nicht wieder tun. (43)
Ich ließ in meinem Wagenabteil
(Gott geb dem Finder Tugend)
Eine Polemik vom Lehrer Beyl
Und die neueste Münchner Jugend. (44)